Aufklärung: Der Instagram-Account catcallsofmuc
Von Luise Glum
Sie ist alleine auf dem Weg nach Hause. Es ist erst 17.30 Uhr, aber schon ein bisschen dunkel, denn es ist Winter. Dann steht er plötzlich vor ihr, Mitte vierzig, die Wodka-Flasche in der Hand. Schnell will sie vorbei, aber er packt sie am Handgelenk. „Nicht so schnell, Kleines“, sagt er. Geschichten wie diese erstaunen Sofija Pavlenko, 19, Ege Celik, 21, und Julia Tokic, 16, schon lange nicht mehr. Die drei jungen Menschen sind bei YouthBridge aktiv, der Jugendplattform der Europäischen Janusz Korczak Akademie. Ege und Sofija sind gerade im Gap Year nach dem Abi, Julia ist in der zehnten Klasse. Sie sitzen im kargen Büroraum um den runden Tisch, die Stimmung ist positiv, trotz des ernsten Themas. Gemeinsam haben sie in München den Instagram-Account catcallsofmuc ins Leben gerufen, inspiriert von der gleichnamigen Aktion in New York.
Fast täglich bekommen sie jetzt Nachrichten von Betroffenen, die Belästigung auf Münchens Straßen erlebt haben. Bewaffnet mit bunter Straßenkreide suchen sie die Tatorte auf, schreiben nieder, was die Opfer sich hier anhören mussten und stellen Fotos davon ins Netz. „Kss, kss“, „Bist du alleine hier?“, „Hey, willst du mit mir bumsen?“ Catcalling, das ist nicht Flirten, nicht Interesse äußern, sondern sexuelle Belästigung. „Es geht nicht darum, dass man jemanden auf der Straße anspricht, sondern darum, dass man keinen Respekt vor der Person hat und sie als Objekt behandelt.“ Julia, blau-weiß gestreifter Jumpsuit, wache Augen – man merkt, es ist ihr ernst. Ege lächelt sanft, um den Mund wächst ein dichter Vollbart. Er hält sich im Gespräch eher zurück, überlässt seinen Mitstreiterinnen den Vortritt. „Wenn man sich unbehaglich fühlt, dann heißt das, dass da irgendwas nicht stimmt“, sagt er. Ege findet, man kann auf sein Bauchgefühl hören, wenn man sich nicht sicher ist, ob eine Situation in Ordnung ist oder nicht. Die drei erleben immer wieder, dass es schwer nachvollziehbar sein kann, wann eine Grenze überschritten wird.
Für Sofija ist es eigentlich ganz einfach: „Wer schreibt denn die Regeln vor, wann sich das Opfer belästigt fühlen soll und wann nicht, wenn nicht das Opfer selbst?“ Direkt vor dem Eingang des Büros von YouthBridge steht der Spruch: „Dich würde ich auch gerne mal aufspießen!“ Eine Gruppe von Männern hatte sich über ihren geplanten Grillabend unterhalten, als Sofija vorbeikam. Julia und Sofija kennen Catcalling selbst nur zu gut: „Seit ich 13 war, wurde ich immer wieder sexuell belästigt, egal ob Hinterherrufen, Anfassen im Schwimmbad und auf der Wiesn, oder dumme Sprüche in der Schule.“ Sofija sitzt im blauen Blümchenkleid aufrecht am Tisch, eine Sonnenbrille im Haar. Ihre Stimme klingt nüchtern und gefasst.
Auch Julia hat Belästigung auf der Straße schon x-mal erlebt, vor allem, wenn sie mir ihren Freundinnen unterwegs ist. Mit catcallsofmuc möchten sie für gesellschaftliche Aufklärung sorgen und ein Zeichen setzen, damit nicht noch mehr Mädchen und Frauen belästigt werden.
Ege hat Catcalling erst als Problem wahrgenommen, als er auf catcallsofnyc stieß. „Ich finde es erschreckend, dass es so eine allgegenwärtige Sache ist und ich trotzdem überhaupt keinen Bezug dazu hatte.“ Auch in seinem Freundeskreis herrscht wenig Sensibilität für das Thema, nicht alle kennen den Unterschied zwischen Flirt und Belästigung. Umso wichtiger ist es ihm jetzt, sich dagegen einzusetzen.
Es fällt leicht, Catcalling zu verharmlosen. Ist ja nichts passiert. Ignorier doch die dummen Sprüche. Aber Catcalling ist ein kleiner Baustein eines größeren Ganzen, eines Diskurses, der sexuelle Gewalt normalisiert. „Catcalls sind vielleicht die kleinste Form von sexueller Belästigung. Aber es beginnt hier und geht dann weiter“, betont Julia.
„Du sieht so exotisch aus. Darf ich mal anfassen?“ Die Opfer bleiben nach einem Catcall oft ratlos und verängstigt zurück, fühlen sich alleingelassen. Eine schlagfertige Antwort parat haben die wenigsten, meint Sofija: „Man traut sich in dem Moment gar nicht, weil die Männer auch oft viel älter sind als man selbst.“ Viele Betroffene würden den Fehler bei sich selbst suchen, man schämt sich, ist angeekelt, will nicht darüber reden. Wie bei anderen Formen sexueller Übergriffe kommt oft noch Victim blaming, also die Täter-Opfer-Umkehr hinzu: „Es kommt ja auch oft die Frage, was hattest du denn an.“ Diese Reaktion macht Julia besonders wütend: „Nur weil man vielleicht eine kurze Hose oder einen Rock anhat, hat niemand das Recht, dich wie ein Objekt zu behandeln.“ Und auch, dass Catcalling ein so weit verbreitetet Phänomen ist, macht es nicht weniger wichtig, darüber zu reden. „Jeder einzelne Catcall ist schlimm“, sagt Sofija. Catcallsofmuc soll Betroffenen eine Community geben, in der sie ernst genommen werden. „Ich glaube, sie fühlen sich endlich mal verstanden, fühlen sich endlich mal gehört.“
Auch wenn es Ausnahmen gibt, es sind fast ausschließlich männliche Täter und weibliche Opfer – es handelt sich also um ein strukturelles Problem. „Ich kann mir gut vorstellen, dass viel Druck auf Männern liegt, hart zu sein“, sagt Julia. Oft sind die Täter in Gruppen unterwegs, das senkt die Hemmschwelle. „Wahrscheinlich fühlen sie sich dann mächtiger“, in Sofijas Stimme liegt Nachdruck, „man versucht, sich vor anderen zu beweisen und zu zeigen, dass man das jetzt machen kann, obwohl die andere Person es nicht will.“
Für Ege mangelt es oft auch an sozialer Kompetenz: „Ich glaube, es sind auch einfach Leute, die nicht wissen, wie man Interesse normal zeigt.“ Er hofft, durch catcallsofmuc sehen diese Leute, dass Catcalling nicht akzeptabel ist. Und dass sich dadurch neue Wege auftun, die angenehm für beide Seiten sind.
Foto: privat