So eine Wohngemeinschaft hat durchaus seine Vorzüge. Allerdings eher in kleinerem Ausmaß anstatt in Form einer riesigen, lärmenden und streitenden Patchwork-Familie. Und immer gern gesehen: Die Mutter-Vater-Kind-Wohnkonstellation.
Beim Nachtisch reden wir über Verwandte, die sich einbilden, dass ihnen Fernsehsender oder Wirtschaftskonzerne gehören. David und Hannes haben davon je ein Exemplar in der Familie. Nur ich muss passen. Dafür habe ich trinkfeste Großtanten, die nicht mal merken, wenn man zur fortgeschrittenen Feierstunde die Schlagerbeschallung durch AC/DC ersetzt; sie fegen einfach weiter über das Tanzparkett.
Es gibt ja immer wieder Klagen über den Niedergang der Großfamilie. War die Welt nicht voller Liebe, damals vor der Vereinsamung des modernen Menschen? Damals, als noch Generationen von behaarten Jägern und Sammlern sich eine dreckige Höhle ohne Zentralheizung teilten? Solche Klagen gibt es. Aber nicht an unserem Esstisch. Hier hebt Hannes sein letztes Glas Wein und bringt einen Toast auf den Niedergang der Großfamilie im zwanzigsten Jahrhundert aus. Ja, das gute alte zwanzigste Jahrhundert. Ihm verdanken wir es, dass wir uns in der eigenen Zweizimmerwohnung um einen Esstisch aus Kunststoff drängen. Wenn es nach dem neunzehnten Jahrhundert gegangen wäre, würde wir immer noch – wie bei den Buddenbrooks – in Mehrgenerationenhäusern wohnen. Man stelle sich das vor: die trinkfreudigen Großtanten, die halluzinierenden Onkel und die kiffenden Cousins, alle unter einem Dach.
David schaut bei der Vorstellung besonders unglücklich. Seine ausufernde Patchwork-Familie würde noch in dem größten Herrenhaus Platzprobleme bekommen. Und was ihn noch mehr beunruhigt: Selbst wenn man für seine Sippe ein Schloss von Versailler Ausmaßen fände, würde diese explosive Familienmischung innerhalb weniger Stunden dafür sorgen, dass der ganze Gebäudekomplex hochgeht. So viel zur Harmonie. Wahrscheinlich ist dem Frieden von Großfamilien durch nichts mehr geholfen worden als durch Distanz. Und durch Zweizimmerwohnungen mit Esstischen aus Kunststoff.
Hannes macht sich an diesem Abend noch vor elf auf den Weg zur S-Bahn; nach seinem Auslandsjahr wohnt er provisorisch bei seinen Eltern, draußen im Münchner Westen. Seinem Toast auf den Niedergang der Großfamilie hat er übrigens auch ein Lob angeschlossen: Die moderne Kernfamilie – Mutter, Vater, Kinder – das hält er für eine gute Erfindung. Susanne Krause
Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.
Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.