Morgens zählt Hanna Rentner. Hanna hat viel Zeit. Sie hat ihr Abitur – und jetzt frei bis Oktober. Die Rentner zählt Hanna aber nicht aus purem Zeitüberschuss, sondern weil sie von Zuhause ausziehen möchte.
Und fürs „Rentner-Zählen“, so nennt sie es, bekommt man zehn Euro die Stunde. Also sitzt sie von sieben Uhr an im Freibad der nächsten Kleinstadt und rechnet nach, ob alle schwimmenden Senioren noch die Köpfe über Wasser haben. Die Zeit bis Oktober kommt ihr dabei besonders lang vor.
Für jemanden, der seine Vormittage bei meditativen Tätigkeiten auf dem Land verbringt, ist München besonders abenteuerlich. Als ich Hanna und ihre Freundin nach der Studienberatung abhole, fallen sie beim Fußmarsch immer wieder zurück – aus Angst, von Radfahrern getötet zu werden. Da stehen sie: zwei Rehe mit Hochschulreife, die sich an einen Ampelpfosten drängen. Obwohl das Gewusel nahe der Uni Hanna in mittlere Panik versetzt, ist das hier ihr Ziel: ein Zimmer in München und ein Studienplatz an der LMU. Dass ihre Eltern nicht so ganz einsehen, warum Hanna dörfliche Beschaulichkeit gegen ein bedrohliches Großstadtleben eintauschen sollte, ist ihr egal. Bis Oktober hofft Hanna, genug Rentner gezählt zu haben, damit sie selbst gegen den Willen der Eltern ihr Heimatkaff verlassen kann.
Ich rufe Hanna am Ampelpfosten zu, dass sie nie pünktlich in der Vorlesung sein wird, wenn sie nicht lernt, Fahrradwege zu überqueren. Endlich machen die beiden einen mutigen Hüpfer und schließen zu mir auf. Ich lege ihnen die U-Bahn ans Herz: eine Oase, frei von todbringenden Radfahrern. Aber die U-Bahn ist Hanna auch nicht mehr geheuer, seit eine ihrer Lehrerinnen im Unterricht verkündet hat, wie leicht man dort Bomben zünden könnte. Ich habe das Gefühl, in ihren Augen ist München ein Vorort von Kabul: Dabei ist meine bedrohlichste Erfahrung aus drei Jahren München, dass ich mich an meinem Duschsieb geschnitten habe.
Wir erreichen den Englischen Garten, wo ein paar Entenküken mit nackigen Senioren im Eisbach planschen. Ein meditatives Plätschern liegt in der Luft. Hanna entspannt sich. In ein paar Jahren findet sie München vielleicht so langweilig wie ihre Frühschichten, mit der sie sich den Umzug dorthin finanziert. Susanne Krause
Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.
Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.