Quer gestrickt

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“Venomous”- so heißt das Modelabel von Kainer Heimert. Damit durchbricht er Kleidernormen

München – Der Schmetterlingseffekt: Wenn ein Schmetterling mit den Flügeln schlägt, kann er einen Orkan auslösen. Oder ein Modelabel inspirieren. So war es zumindest bei „Venomous“. Die Idee zu dem Start-up kam Kaine Heimert, 23, durch einen knallblauen Schmetterling. Der giftige Falter ließ ihn nicht mehr los – weil er zweigeschlechtlich ist. Ein Flügel ist weiblich, der andere männlich. Genau das Prinzip, das Kaine modisch vorschwebt. „Auch Frauen haben eine maskuline Seite und Männer eine feminine“, sagt er. „Jeder soll so sein, wie er ist.“ Mit seinen Kollektionen will Kaine Kleidernormen durcheinanderbringen. Anderen dabei helfen, anders zu sein. Denn wenn seine Kunden ihre neuen Kostüme anprobieren, schlüpfen sie für ein paar Stunden in eine fremde Rolle.
 Kaine hat sich auf Mode für Fan-Szenen spezialisiert. Da gibt es futuristische, schrille Kostüme für Videospiel-Charaktere auf Cosplay-Conventions. Düstere Gothic-Kleidung für Modemessen. Oder pompöse Rüschenröcke und hochgeschlossene Blusen für Lolita-Fotoshootings. Auch für Visual Kei produziert Kaine gerne – eine Subkultur, die ursprünglich aus Japan kommt. In der Szene trägt man grellbunte Fantasiekostüme mit Schleifchen genauso wie schwarze Leder-Kleidung mit Nieten. Ein zusammengewürfelter Stil, der mit unseren Sehgewohnheiten kollidiert. Und der einem die Unterscheidung „weiblich“ oder „männlich“ ganz schön schwer macht, tragen doch auch Männer in der Szene manchmal Röcke. 

Auf Definitionen hat Kaine längst
keine Lust mehr: „It’s nothing
about gender – it’s fashion.“

Auch Kaine selbst gefällt es, sich zwischen männlich und weiblich zu bewegen. Beim Interview trägt er Nietengürtel und ein graues T-Shirt. An den häufig durchstochenen Ohren hängen silberne Ohrringe wie aufgespießte Schmetterlinge. Ungewöhnlich für einen Mann. Genauso ungewöhnlich wie die lange, stufige Haarmähne. Die Lippen sind voll, die Gesichtszüge sehr fein. Schräge Blicke ist Kaine mittlerweile gewohnt, nicht erst seit der Gründung des Labels vor einem Jahr. Aber immer noch ist Entrüstung in der Stimme, wenn er sagt: „Oft werde ich als Frau angesprochen!“ Doch wer kann den Passanten den falschen Eindruck verübeln? In Finanzierungsvideos für sein Modelabel tritt Kaine schon mal mit blauer Bluse und Kette auf.

Das fällt aus der Norm. Aber auf Definitionen hat Kaine längst keine Lust mehr. Vielleicht hat er sich diesen Spruch deshalb zum Motto gemacht: „It’s nothing about gender – it’s fashion.“

Aus der Norm gefallen, das sei er schon immer. Schon vom Namen her. Kaine ist nicht, wie erwartet, ein Künstlername. Übersetzt bedeutet der gälische Name Kämpfer. „Das passt sehr gut, weil ich mich immer durch mein Leben gekämpft habe und viele Widrigkeiten überwinden musste“, sagt Kaine.

Als Jugendlicher zog er mit seiner Mutter aus einem Dorf in Sachsen nach München. „In der Schule lief da viel mit Mobbing“, sagt er. Anlass dazu bot schon seine Kleidung. Modisch drehte sich Kaines Welt um Importware aus Asien: tiefschwarze Kleidung mit Nieten, Bändern und Accessoires. Das, was alle trugen, fühlte sich falsch an. „Das war für mich wie verkleiden. Ich konnte nicht richtig dazugehören, aber ich wollte es auch nicht.“ Dass sich der damals Zwölfjährige daher ausgefallene Kleidung bei E-Bay bestellte, war der Mutter anfangs nicht recht: „Willst du wirklich so draußen rumlaufen?“ Ja, das wollte er. Auch wenn man ihm verletzende Dinge hinterher rief, die ihn tagelang den Unterricht schwänzen ließen. Wer sich wie Kaine in Kleidergeschäften nicht so richtig zwischen Damen- oder Herrenabteilung entscheiden konnte, der hatte es schwer. Vor allem in der Pubertät, in der von A wie Aussehen bis S wie Sex alles ziemlich körperfixiert ist.

Seine Mode soll sich nun richtig anfühlen. Qualitative Stoffe müssen es sein, nicht die typischen Cosplay-Massenanfertigungen. Materialkosten zu senken, kommt für Kaine nicht in Frage. Obwohl der junge Modemacher, der noch bei seiner Mutter wohnt, vom eigenen Geschäft bisher eher so schlecht als recht lebt. Fast alle Kleidungsstücke sind handgemachte Unikate. Kaine bestickt sie auch mühevoll selbst mit Perlen – die teure Stickmaschine kann er sich nicht leisten.

Damit sich das zeitlich ausgeht, klingelt der Wecker schon um sechs Uhr morgens. Und die Nähmaschine rattert bis spät am Abend. Manchmal dauert es einen ganzen Monat, bis ein Kleidungsstück fertig ist. Das fertige T-Shirt kostet 20 bis 30 Euro. Ein Korsett das Zehnfache.

Ein bisschen muss man ans viktorianische England denken, wenn man sich Kaine bei der Arbeit vorstellt, stundenlang über den Stoff gebeugt. Das passt: Denn besonders aufwendig sind die riesigen Kostüme der Steampunk-Kollektion. Die katapultieren einen modisch direkt ins viktorianische Zeitalter. Über die 20 Tülllagen eines Rockes quält sich die Nähmaschine nur mühsam, sagt Kaine. Enge Korsetts gehören genauso zum Repertoire wie drei Röcke übereinander.

Merkwürdig – einer, der mit Geschlechternormen nichts anfangen kann, macht Mode aus der viktorianischen Zeit. Einer Gesellschaft, die so prüde war, dass sie Tischbeinen manchmal kleine Stoffhöschen umband: Ein nacktes Tischbein galt als obszön. Und Korsetts? Aus dem Taillen-Gefängnis ist die Frauenbewegung doch nur mühsam ausgebrochen. „Ich mag solche Widersprüche“, sagt Kaine. Und: „Meine Testpersonen haben mir versichert: In meinen Korsetts kann man noch atmen!“ Und atmen können, darum geht es ja bei dem Ganzen.  

Elsbeth Föger

Foto: privat