Nockerln aus Anatolien

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Ausländer sollen vieles, aber ganz besonders sollen sie eines: Ausländer sollen akzentfrei Deutsch sprechen. Das ist eine wunderliche Forderung, wenn man bedenkt, dass ein guter Teil meiner bayrischen Bekannten das nicht hinbekommt. Ihre Rettung ist, dass niemand von Deutschen verlangt, sie sollten akzentfrei Deutsch sprechen.

Meine türkischstämmige Kollegin Sevda gibt Nachhilfe in Deutsch. Sie beherrscht beide Konjunktive und studiert Medizin. Beschäftigt ist sie bei einem Integrationsverein. Das sollte eigentlich genügen, um von ihrem leichten Akzent abzusehen. Aber ich bekomme das nicht hin. Wenn sie spricht, beschäftigt sich nur eine meiner Hirnhälften mit dem Inhalt ihrer Worte. Die andere versucht derweil das Geheimnis dieses wunderlichen Tonfalls zu ergründen. Es ist nicht derselbe Akzent, den meine anderen Kollegen türkischer Herkunft haben. Trotzdem habe ich diese langgezogenen Vokale schon einmal gehört. Irgendwo. Nur wo?

Kenne ich jemanden, dessen Familie aus derselben Region stammt wie Sevda? Vor meinem inneren Auge zeichnet sich ein entlegener Landstrich der Türkei ab, wo man die Vokale zieht wie Kaugummi. Die Türkei ist groß, da ist doch alles möglich. Die Erklärung klingt mäßig plausibel, also gebe ich mich damit zufrieden. Sevda zu fragen, ob ihre Familie aus einer Dialekt-Enklave in Hinter-Anatolien stammt, erscheint mir unhöflich. Wahrscheinlich redet sie hin und wieder eh jemand wegen ihres Kopftuches doof an. Da muss ich nicht auch noch kommen und einen auf Sarrazin machen.

Irgendwann unterhalten wir uns nach der Arbeit so über dies und das. Sevda erzählt, sie habe sich für ein Stipendium des Landes Österreich beworben. Das verwirrt mich. Schließlich habe ich dem unterbewussten Toleranzzentrum meines Gehirns gerade mühsam eingebläut, dass abweichende Vokale Sevda nicht weniger deutsch machen. Und gerade als ich das geschafft habe, will sie nach Österreich abwandern. Warum denn ausgerechnet für ein österreichisches Stipendium, frage ich also. Plötzlich sieht mich Sevda sehr überrascht an – meine Frage muss dämlich gewesen sein. Und schon während sie zur Antwort ansetzt, verstehe ich warum. Denn nun erkenne ich ihn, diesen mir so vertraut fremden Akzent. „Ich bin Österreicherin“, sagt Sevda im schönsten Salzburgerisch. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.

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Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.