Mutter Afrika

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Für einen Freiwilligendienst geht Valerie Seitz nach Äthiopien. Anfangs fühlt sie sich dort gar nicht wohl, doch nach einer Reise mit ihren Eltern und ihrem Freund Abiy beschließt sie zu bleiben. Mit dem von ihr gegründeten Verein Enat Ethiopia will sie nun den Öko-Tourismus im Land fördern.

Ferengi. Das bedeutet auf Amharisch, der Amtssprache Äthiopiens: Weiße, Ausländer. Mit ihren blonden Engelslocken und den Sommersprossen auf der Stupsnase kann Valerie es ohnehin nur schwer verbergen: Sie kommt nicht aus Afrika. Und fühlt sich dort doch so angekommen. So sehr, dass sie einen gemeinnützigen Verein gegründet hat und dort hinziehen wird, obwohl sie zu Beginn eigentlich nur wieder weg wollte. Eine Geschichte über Liebe auf den zweiten Blick.

Nach ihrem Abitur 2014 entscheidet sich die Münchnerin Valerie Seitz, 19, zunächst für einen Freiwilligendienst. Ein halbes Jahr reicht ihr, weshalb sie bei einer Organisation in Äthiopien landet, die auch halbjährige Volontariate anbietet. „Ich wollte schon immer nach Afrika“, sagt Valerie. Äthiopien hingegen war reiner Zufall. 

Die kleine Hilfsorganisation bei der sie in der Hauptstadt Addis Ababa arbeitet, organisiert AIDS- und HIV-Aufklärungsprojekte. Oder zumindest soll Valerie das mit Beiträgen auf der Homepage belegen. Sie selbst sagt, dass vieles gar nicht stattgefunden hat und sie sich für falsche Zwecke benutzt fühlte. Nach der Hälfte der Zeit will Valerie ihre Koffer packen. Ihre Eltern kommen sie besuchen und nach einer gemeinsamen Reise zusammen mit ihrem äthiopischen Freund Abiy will sie eigentlich zurück nach Deutschland. Doch es kommt alles ganz anders, und Valerie beschließt zu bleiben. Denn sie hat sich verliebt. In Abiy im Speziellen und in Äthiopien im Allgemeinen. 

Mit neuem Elan entwickelt Valerie nun selbst Ideen, um den Menschen vor Ort zu helfen. „Das Bild, das wir von Äthiopien haben, stimmt überhaupt nicht“, sagt Valerie, die einen dicken Schal um den Hals geschlungen hat, wie er in Äthiopien üblich ist. Nicht jedes kleine Kind hat einen dicken Bauch, weil es unterernährt ist, und Äthiopien ist nicht nur rote Erde. Trotzdem herrscht große Armut. Valerie kann nicht länger wegsehen und will handeln.

Als ihr Vater an seinem Geburtstag einen Spendenaufruf startet, kommt genug Geld für Uniformen zusammen, die Kinder brauchen, um in die Schule gehen zu dürfen. Außerdem baut Valerie einen alten Hühnerstall zu einem kleinen Computerraum um. Im Juli 2015 gründet sie mit anderen Ehrenamtlichen aus Deutschland und Äthiopien den Verein Enat Ethiopia. Enat bedeutet im Amharischen so viel wie Mutter oder Unterstützerin. So sieht sich die zierliche Valerie, die vorsichtig an ihrem Kamillentee nippt: Als Unterstützerin der weniger Privilegierten. 

Bildungsprojekte sind das vorrangige Ziel des Vereins. Die ersten Paten aus dem weiteren Bekanntenkreis sind schnell gefunden. Finanziert werden mit nur 20 Euro im Monat Schulgeld, alle benötigten Materialien und falls ein Bus fährt, auch der Transport. Finanziert werden aber auch Einzelschicksale wie das eines 13-jährigen Mädchens, das an Inkontinenz leidet. Aufgrund ihrer Krankheit wurde sie von ihrer Familie verstoßen. Enat Ethiopia findet eine Patin und kann das kleine Mädchen in einem Krankenhaus behandeln lassen.

Als Valerie nach sieben Monaten ihre neue Heimat Äthiopien verlassen muss, weil sie ihr Visum nicht mehr verlängern kann, ist eines gewiss: Sie will nicht „weitermachen, als wäre nichts gewesen“. Dementsprechend schwer fällt ihr auch die Rückkehr nach Deutschland. Ohne es richtig zu bemerken, kritisiert sie ihre Eltern für deren Lebensstil. Im Vergleich zu dem Leben, das sie aus Äthiopien kennt, scheint alles nur so vor Überfluss und Verschwendung zu strotzen. Sie verkriecht sich in das alte Gewächshaus in Giesing, in dem sie als kleines Kind mit ihrer Familie eine Zeit lang gelebt hat. Über ihrem Kopf raschelt es, weil Vögel über das Glasdach laufen und es riecht nach feuchter Erde. Heimat?

Nachdem der erste Schock überwunden ist, stürzt sie sich in das lang geplante Physikstudium. Nach sechs unglücklichen Wochen steht sie vor der Frage: „Äthiopien oder dieses Physikstudium?“ Die Entscheidung ist schnell gefällt. Der neue Plan: Den Öko-Tourismus in Äthiopiens Choke-Bergen fördern und damit den Menschen vor Ort eine Perspektive bieten. Die Kinder sollen zur Schule gehen, danach aber nicht auf der Suche nach Arbeit in die großen Städte abwandern müssen. Denn dort erwartet sie im Zweifelsfall ein Leben als Bettler oder Haushaltshilfe. Die Eco-Lodge, die Valerie mit ihrem Freund Abiy bauen will, soll ihr eigenes Zuhause werden, aber auch eine Möglichkeit, komfortabel die touristisch wenig erschlossenen Choke-Berge zu besuchen. Später sollen auch erneuerbare Energien in das Projekt integriert werden, Valerie plant ein Fernstudium im Bereich Energieverfahrenstechnik.

Gibt es etwas, das Valerie an München vermissen wird? Spontan fällt ihr nichts ein. „Ich bin Vegetarierin, deswegen kann ich Weißwürste nicht vermissen“, sagt sie und lacht. Außerdem sei das äthiopische Nationalgericht, der Sauerteigfladen Injeira, dem deutschen Sauerteigbrot gar nicht so unähnlich. Wenn es nur das Essen ist – Valerie ist mit dem Herzen schon gar nicht mehr so richtig hier.

Von: Jacqueline Lang

Foto: privat