Integration mit Leselupe

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Das Projekt ComIn gibt Deutsch- und Computerkurse für Flüchtlinge mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten.

„Ich bin Maram“, tippt die 25-Jährige in die Tastatur – mit ihrem Fuß. Denn die junge Frau aus Syrien sitzt im Rollstuhl und kann sich wegen ihrer Cerebralparese, einer Nervenkrankheit, nur schwer verständigen. Um dennoch am zweistündigen Deutschunterricht teilnehmen zu können, besitzt sie einen gespendeten Laptop, auf dem sie mit dem Fuß langsam jedes neu gelernte Wort eingibt. Dreimal in der Woche wird Maram von ihrer Unterkunft abgeholt, in der sie mit ihren Eltern und sechs Geschwistern lebt. Jedes Mal muss sie die drei Stockwerke getragen werden, denn das Heim ist nicht barrierefrei. Ein ehrenamtlicher Begleitdienst bringt sie ins großräumige Büro des ComIn-Projekts in der Türkenstraße, wo Deutsch- und Computerkurse für Flüchtlinge mit Behinderung angeboten werden.

„Wir sind derzeit auf der Suche nach neuen Räumlichkeiten“, sagt Ricarda Wank, die das Projekt 2003 gegründet hat und bis heute leitet. Gerade wenn mehrere Menschen im Rollstuhl kämen, sei der Computerraum zu eng – außerdem könnten in diesem Zimmer nicht zwei Kurse gleichzeitig stattfinden.

ComIn basiert auf den weltweiten Aktivitäten der Hilfsorganisation Handicap International und fördert die Einbindung von Migranten und Flüchtlingen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung in München. Meist werden diese von Betreuern in Flüchtlingsunterkünften an das Projekt verwiesen. Dort werden sie dann beraten, welche Unterstützung und Förderung für sie sinnvoll sei – je nach Gesundheits- und Aufenthaltsstatus. „Syrer und Menschen aus anderen nicht sicheren Herkunftsstaaten erhalten leichter und schneller Unterstützung durch Stadt und Staat“, sagt Ricarda Wank. „Für Menschen aus den sogenannten sicheren Herkunftsstaaten hingegen ist es sogar mit Versichertenkarte schwer, an Hilfe zu kommen.“ Darum stellt ComIn den Bedürftigen Hilfsgeräte wie Rollstühle, Krücken, Blindenstöcke oder elektronische Leselupen zur Verfügung. Diese erhält ComIn von privaten Spendern – und es gebe immer Bedarf, sagt die Projektleiterin: „Immer wieder gehen beim Verleih Hilfsmittel kaputt, und die Geflüchteten können weder die Reparatur noch ein neues Gerät bezahlen.“ Eine elektronische Vergrößerungslupe kostet 690 Euro.

Für Menschen, die wegen einer Seh- oder Lernbehinderung nicht in Regelkurse eingebunden wurden, bietet das Projekt spezielle Integrationskurse an – geleitet von Haupt- und Ehrenamtlichen mit und ohne Behinderung: Den Deutschunterricht leiten Suad Mohammed, die kleinwüchsig ist und die Wirbelsäulen-Krankheit Skoliose hat, und der Somalier Abdi Karshe, der im Rollstuhl sitzt und derzeit im Krankenhaus ist. Suad Mohammed kam vor elf Jahren alleine aus dem Nordirak und besuchte erst den Deutschkurs von ComIn, bevor sie selbst unterrichtete.

„Vielen Betroffenen tut es gut, sich regelmäßig im Projekt zu engagieren und anderen Geflüchteten mit Behinderung helfen zu können“, sagt Ricarda Wank, die selbst im Rollstuhl sitzt. In Deutschland bleiben Menschen mit einer Behinderung oft im Fördersystem stecken, sie besuchen spezielle Schulen und arbeiten auf dem zweiten Arbeitsmarkt in Werkstätten für Menschen mit Behinderung. „Das ist oft eine große Umstellung für Betroffene aus anderen Kulturen: In Syrien etwa sind sie einfach überall bei ihrem Vater bei der Arbeit dabei, besuchen dann allerdings keine Schule“, erklärt die Projektleiterin. Gleichzeitig würden Menschen mit einer geistigen Behinderung in vielen Ländern oft versteckt, weil die Familien sich ihrer schämen und eine Diskriminierung fürchten.

Das komme aber auch in Deutschland vor. So sei der Behindertenausweis für viele Flüchtlinge ein schweres Stigma, insbesondere wenn die Behinderung sonst nicht sichtbar ist: Als der 21-jährige Hassan seinen Ausweis bekam, war er darüber sehr unglücklich, erzählt Ricarda Wank. Es habe lange gedauert, bis er auch die Vorteile davon – etwa die Freifahrt im Öffentlichen Nahverkehr – akzeptieren lernte.

Der junge Syrer nimmt auch am Deutschkurs teil. Wegen einer Lernbehinderung kann er nicht lesen und schreiben, in Kombination mit Bildern aber Wörter auf Deutsch aussprechen. Nach dem Unterricht räumt er unaufgefordert alle Materialien zusammen und schiebt Marams Rollstuhl. „Er ist immer hilfsbereit und unterstützt die anderen“, sagt Suad Mohammed, seine Lehrerin. Hassan sagt etwas auf Arabisch und sie übersetzt: „Er hat Schmerzen in den Beinen, aber für einen Arztbesuch braucht er einen Dolmetscher.“

Deutsch zu lernen, ist also der wichtigste Schritt für die Geflüchteten mit Behinderung, um ihr neues Leben in München weitgehend selbständig zu meistern. Neben Materialien zur Alphabetisierung von der Schlau-Schule und der Universität plant die Projektleiterin nun etwas Neues. „Wir wollen Möglichkeiten finden, wie Sehbehinderte und Blinde selbständig und unabhängig Deutsch lernen können“, sagt sie. Ein Informatikstudent, der sich bereits ehrenamtlich im Projekt engagiert, sowie weitere behinderte Dozenten und Ehrenamtliche haben sich bereit erklärt, eine App zu entwickeln.

12 Uhr. Maram wird abgeholt und zurück in die Unterkunft gebracht. Wenn ihrem Antrag auf eine barrierefreie Sozialwohnung stattgegeben wird, könnte Maram auch einen Rollstuhl mit Elektroantrieb bekommen, den sie mit ihrem Fuß steuern kann. So ein Rollstuhl, die Leselupen oder orthopädische Schuhe werden benötigt, ebenso wie Geld für Fahrdienste: Gerade im Winter ist die Fahrt mit den Öffentlichen für Rollstuhlfahrer sehr beschwerlich – jedoch übernehmen weder das zuständige Bundesamt noch das Jobcenter die Kosten für ein Taxi oder einen Begleitservice. Maram hat Glück, dass Ehrenamtliche sie begleiten können. Und dann ist da noch Hassan, der seine Kameradin unterstützt.

Text und Foto: Anna-Elena Knerich