Grölen für den Nachbarn

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Schon erstaunlich, wie sehr gutes nachbarschaftliches Verhalten von der Situation abhängt. Laut und Leise sind da lebensentscheidende Kategorien. Ein Plädoyer für den Wohnungstausch.

Heute Abend höre ich mir die ersten dreißig Sekunden eines Hip-Hop-Songs an. Nicht nur einmal. Nein. Ich verbringe mehrere Stunden damit, mir diese halbe Minute wieder und wieder anzuhören. Ich tue das nicht freiwillig; mein Nachbar von unten hört so laut Musik, dass er nicht merkt, wie ich abwechselnd gegen meinen Fußboden und seine Wohnungstür hämmere.

Wach zu liegen und stundenlang von demselben Lied gequält werden – das erinnert mich an alte Zeiten: Zu Beginn meines Studiums wohne ich noch nicht in einem Mietshaus, sondern zur Untermiete bei einer schlagenden Burschenschaft. Nachts spielen meine Vermieter das Russenspiel. Für Unerfahrene, das geht so: Ein Haufen unglaublich betrunkener Kerle in Uniformen torkelt über den Flur, grölt ein Lied, das nur aus einer Zeile besteht, und versucht alle Mitbewohner aus dem Reich der Träume in die Abgründe des Alkoholmissbrauchs zu verschleppen. Sich einzuschließen bringt wenig. Dann hämmert die Meute gegen die Tür, ganz besonders bei dem Studenten, der im Zimmer nebenan wohnt. Im Gegensatz zu mir ist er Mitglied der Burschenschaft und ganz anders als seine Verbindungsgenossen interessiert er sich nicht für dieses Spiel.

Es ist schon erstaunlich, wie sehr gutes nachbarschaftliches Verhalten von der Situation abhängt: Ich hämmere heute Abend gegen den Fußboden, damit mein Nachbar endlich leise ist und aufhört, dieses monotone Lied in voller Lautstärke und Endlosschleife zu spielen. Zum Vergleich: Die besoffenen Burschen schlagen ihrem Kameraden fast die Tür ein, damit er endlich aufhört, leise zu sein, und mit ihnen stattdessen in voller Lautstärke ein monotones Lied in Endlosschleife singt. Es ist schon paradox, wie schlecht die Welt organisiert ist – wo man sie doch theoretisch so leicht in Ordnung bringen könnte. Ein einfacher Wohnungstausch und, voilà: Mein Nachbar von unten könnte all seine Abende mit schlechter Musik verbringen und im Gegenzug erhielten der Russenspiel-Verweigerer und ich endlich unsere verdiente Nachtruhe. In der Praxis ist die Welt leider nicht so leicht in Griff zu bringen.

Und so bleibt nichts übrig, als mir einzureden, die Hip-Hop-Endlosschleife heute sei wenigstens besser als das Burschenschaftsgegröle von damals. Aber um ehrlich zu sein, hat das Russenspiel einen entscheidenden Vorteil: Das einzige, was es irgendwie erträglich macht, ist schon inklusive – Schnaps.

Von Susanne Krause