Melanie Lerchl hatte mit 18 Krebs und musste erkennen, dass viele junge Erwachsene mit dieser Krankheit alleine gelassen werden. Jetzt gründet sie einen Verein, in dem sich Betroffene mit ehemaligen Patienten austauschen.
Den Geschmack von Metall wird Melanie Lerchl, 23, nie vergessen können. Den hatte sie während ihrer Chemotherapie vor nunmehr mehr als vier Jahren ständig im Mund. Deshalb reagiert sie heute beinahe allergisch auf Volvic-Wasser mit Apfelgeschmack. „Das und drei verschiedene Kaugummisorten waren meine Mittel gegen den Geschmack“, sagt Melanie. Heute wecken diese Dinge jedoch Erinnerungen an ein „Kapitel“ in ihrem Leben, das sie zu einem anderen Menschen gemacht hat.
Mit 18 Jahren, als Melanie sich gerade im dritten Jahr ihrer Ausbildung zur Hotelfachfrau befand, suchte sie wegen Bauchschmerzen ihren Hausarzt auf. Nichts Schlimmes, dachte sie. Bei der Frauenärztin, zu der sie der Hausarzt schickte, wurde jedoch festgestellt, dass Melanie an einer sehr seltenen Tumorart litt. Dysgerminom heißt dieser Krebs, er sitzt an den Eierstöcken und er wächst sehr schnell.
Deshalb wurde die erste Operation unverzüglich durchgeführt. Die Ärzte stellten erst während des Eingriffs fest, dass es bei dieser einen Behandlung nicht würde bleiben können. „Ich habe lange gebraucht, bis ich realisiert hatte, dass nicht-gutartig bösartig heißt und dass bösartig Krebs bedeutet“, sagt Melanie. „Das große Wort, das im Kopf immer mit dem Tod verbunden wird, war da lange nicht präsent.“
Ihre Augen sind dunkelbraun, am Rand der Iris beinahe grün und sie richtet sie immer völlig ruhig auf ihr Gegenüber. Ihr mache es nichts aus, über die Krankheit zu sprechen, in vielerlei Hinsicht sei es ihr sogar ein Anliegen. Denn bereits im Aufwachraum nach der ersten Operation zeichnete sich etwas ab, das sich durch Melanies gesamten Krankheitsverlauf ziehen sollte: die Unfähigkeit der Ärzte, mit einem so jungen Krebs-Patienten umzugehen. „Von den Ärzten hat niemand mit mir gesprochen“, sagt Melanie. „Die haben es meiner Mutter überlassen, mir beizubringen, dass ich eine Chemo machen sollte, dass ich beide Eierstöcke verlieren könnte, selbst wenn ich den Tumor überleben würde.“
Ihrer Erfahrung nach gibt es kaum Angebote für junge Menschen, die an Krebs erkranken. „Sobald man 18 ist, fällt man aus allem raus, was mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat. Aber dass man sich nicht erwachsen fühlt, auch wenn man es offiziell ist, das wird selten berücksichtigt“, sagt Melanie. Außerdem werde Krebs nach wie vor zumeist als „Alte-Leute-Krankheit“ abgestempelt. Jugendpsychiater Daniel Drexler sieht diese Lücke auch: „Bis 18 gibt es sehr viel Betreuung für junge Menschen, danach eher nicht mehr, das stellt nicht nur bei Krebsleiden ein Problem dar.“
Eine ähnliche Meinung vertritt auch die Deutsche Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs, eine Organisation, die erst vor zwei Jahren in Berlin gegründet wurde. Das ‚„Junge Krebsportal“, ein Beratungsangebot, das die Stiftung ins Leben gerufen hat, sei „sehr erfolgreich und gut frequentiert“, sagt eine Vertreterin der Stiftung. „Dennoch stellt die Gründung regionaler Gruppen ein ausgesprochenes Interesse der Stiftung dar, da in diesem Bereich definitiv noch zu wenig Angebot existiert und die jungen Leute sich untereinander austauschen wollen.“
Diese Idee hatte auch Melanie: Sie ist gerade dabei, einen Verein zu gründen. Wie in einer Partner-Vermittlung oder einem Tandem-Programm sollen bei „Kampfgeist. Jung & Stark“ ehemalige Krebspatienten mit gerade an der Krankheit Leidenden zusammengebracht werden. Melanie hat selbst erlebt, wie bestärkend es sein kann, jemanden zu haben, der weiß, wovon man spricht, wenn einem die Haare ausfallen, wenn man nichts mehr essen will, wenn man diesen Metallgeschmack im Mund und noch dazu das Gefühl hat, eine Koffeintablette und eine Schlaftablette gleichzeitig genommen zu haben.
Eine ehemalige Klassenkameradin hatte sich zwei Jahre, nachdem Melanie den Krebs überstanden hatte, an sie gewandt. Ob sie sie um Rat fragen dürfe, da sie an einem Tumor erkrankt sei. Zuerst hatte Melanie gezögert. „Man hat da so Schubladen“, sagt sie. „Die oberste kann man relativ einfach wieder aufmachen. Aber je tiefer man geht, desto schwieriger wird es.“ Für Melanie hat sich dieses „Graben“, wie sie es nennt, in den Erinnerungen an die Zeit ihrer Krankheit jedoch gelohnt, denn das Wissen, dass es andere Menschen gibt, die, jeder auf seine Art, den gleichen Weg gehen, gibt ihr auch jetzt, nachdem die Krankheit überstanden ist, immer wieder von Neuem Kraft.
Kraft, die sie etwa vor den Kontrolluntersuchungen braucht. „Vor allem in der Woche vor so einem Termin, da kann ich einfach nicht so viel leisten“, sagt sie. „Denn die Gedanken sind da. Was, wenn wieder was ist?“ Deshalb lässt sie auch ihre Arbeitgeber und Menschen, die sie neu kennenlernt, wissen, dass sie Krebs hatte. „Dadurch erspart man sich viele ungute Situationen, weil manche Leute, wenn sie es nicht wissen, doch manchmal unangebrachte Kommentare fallen lassen.“
Melanie spricht meistens von „man“, als wäre es nicht ihre persönliche Leistung, mit all dem klar zu kommen. Auch betont sie immer wieder, bei ihr sei alles noch „verhältnismäßig gut gelaufen“ und „nicht so schlimm gewesen, wie es hätte sein können“, obwohl auch sie Geschichten von menschlich unfähigen Ärzten, überlasteten Krankenschwestern und Fehldiagnosen erzählen kann. Vielleicht liegt diese Bescheidenheit darin begründet, dass Melanie eine Kämpferin ist. Die den Krebs besiegt, ihre Ausbildung mit nur einem halben Jahr Verzögerung abgeschlossen hat, mittlerweile in einem Hotel arbeitet und jetzt ihren Kampfgeist in den eigenen Verein steckt. Eine wichtige Erkenntnis aus ihrem Austausch mit anderen Betroffenen ist jedoch auch, dass es nicht den einen Krankheitsverlauf gibt und dass jeder anders mit der Krankheit umgeht. „Ich persönlich wollte eigentlich gar nicht so viel darüber wissen. Das mag naiv gewesen sein, aber so konnte ich mir meine positive Einstellung bewahren“, sagt Melanie. „Für mich war immer klar, dass ich es irgendwie schaffen würde.“ Eine Freundin hingegen wusste in kürzester Zeit alles über ihre Krankheit, über Therapien und Heilungsaussichten.
Doch auch für Melanie ist es jedes Mal wieder schlimm, sich mit einem weiteren Schicksal auseinanderzusetzen. Hilflos fühlte sie sich, als bei ihrem Vater ein Tumor gefunden wurde. „Wie eine falsche Welt kommt einem das vor, wenn man dann im Krankenhaus steht und einen der eigene Vater um Rat fragt“, sagt Melanie. Mittlerweile hat auch er die Krankheit überstanden, aber „wenn man an Schicksal glauben will, könnte man fast meinen, es würde mir befehlen, mich jetzt um den Verein zu kümmern“, sagt sie und lacht, auch wenn es nicht zum Lachen ist.
Melanie war und ist nicht ihre Krankheit. Sie mag ein Teil von ihr sein und es auch bleiben, denn „sie hat mich zu der gemacht, die ich heute bin,“ sagt sie. Auch wenn Dankbarkeit ein merkwürdiges Wort in diesem Zusammenhang ist, weiß sie jetzt vieles im Leben sehr viel mehr zu schätzen. „Klar, man rutscht schon immer wieder in die Kurzsichtigkeit des Alltags, in der einen Kleinigkeiten nerven“, sagt sie, aber vor allem durch die Arbeit für den Verein, die ständige Beschäftigung mit der Thematik wird sie sich der Schönheit und der kleinen Dinge im Leben wieder verstärkt bewusst.
Text: Theresa Parstorfer
Foto: Robert Haas