Freiheit oder Vollpension?

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Wieder bei den Eltern Zuhause einziehen, ins alte Kinderzimmer. Ein Albtraum. Doch das hat auch seine Vorteile: Wäsche bügeln, Kakao anrühren – und sich die Haare föhnen lassen. Ein Plädoyer für “Hotel Mama”

Ellen versucht sich nach dem Abendessen aus der Küche zu schleichen – möglichst unauffällig, damit ihre Mutter nicht merkt, dass sie sich vor dem Aufräumen drückt. Doch der Fluchtplan ist absurd. Das Faszinierende für Ellen ist jedoch, dass er heute aus einem anderen Grund irrwitzig ist, als er es noch vor zehn Jahren gewesen wäre. Während damals klar war, dass man Mamas Hausarbeitsattacken nicht entkommt, erkennt Ellen heute: Ihrer Mutter ist das vollkommen egal. Mama erwartet überhaupt keine Hilfe.
Wieder zu Hause bei den Eltern einziehen – da holen die meisten Menschen tief Luft und setzen ein mitleidiges Gesicht auf. Muss ganz schön schwierig sein, sagen sie dann. Wahrscheinlich, weil derlei Umzüge oft nicht den erfreulichsten Anlass haben. Dass es nicht ganz so schwierig sein könnte, ahne ich zum ersten Mal, als mein Bruder vorübergehend wieder zu Hause wohnt und ich beobachte, wie Mama vom Frühstückstisch aufsteht, um ihrem ausgewachsenen Elektrotechniker das fehlende Kakaopulver zu holen. Mein Bruder isst genüsslich weiter. Er hat schneller durchschaut als Ellen, dass zurückgekehrte Kinder von sämtlichen häuslichen Pflichten entbunden sind.

Im Leben ist es so: Erst ist man klein und niedlich, und Mama kümmert sich um alles. Dann wird man größer, ist nur noch so lala niedlich und soll im Haushalt mithelfen. Woraufhin man irgendwann auszieht und – jetzt kommt das Verblüffende –, wohl wieder so viel kindliche Niedlichkeit zurückgewinnt, dass Mütter gar nicht mehr davon abzubringen sind, einem die Wäsche zu bügeln, den Kakao anzurühren und (kein Witz, selbst erlebt) die Haare zu föhnen. Zieht man in dieser Phase seines Lebens wieder zu den Eltern, stehen die Chancen gut, eine Art Vollpension zu erleben, wie man sie nie für möglich gehalten hat.

Freiheit und Unabhängigkeit wirken mit frisch gebügelter Wäsche gar nicht mehr so beeindruckend. Als Ellen die Zusage für ihr WG-Zimmer bekommt – und somit wieder ihr Kinderzimmer verlassen kann –, ist ihre erste Reaktion dennoch Freude. Darauf folgt jedoch der Schock und die quälende Frage: Was mache ich ohne meine Mama?

Von Susanne Krause