Frage der Perspektive

Klein sein hat auch Vorteile. Etwa, dass man nicht sieht, wie dreckig der Schirm der Deckenlampe eigentlich ist… 

Max ist groß. Er ist sogar so groß, dass er den Schirm meiner Deckenlampe von oben sieht. Ich selbst bin fast 35 Zentimeter kleiner. Ich bin so klein, dass mir noch nie in den Sinn gekommen ist, dass Deckenleuchten auch eine Oberseite haben. Bis heute, als Max mir eröffnet, dass auf dem Schirm der Küchenlampe eine dicke Fettschicht ist. 

Kleine Menschen werden gern belächelt, weil sie nicht an das oberste Regalbrett kommen, ohne dabei furchtbar albern auszusehen. Oder weil man Dinge über ihrem Kopf hochhalten kann, so dass sie nicht dran kommen und anfangen, beleidigt auf der Stelle zu hüpfen. Dabei hat klein zu sein bedeutende Vorteile: Wer klein ist und große Schränke hat, braucht keinen Keller. Ganz im Gegensatz zu Lampen ist mir bei Schränken schon länger bewusst, dass sie eine Oberseite haben. Dorthin werfe ich gerne Dinge, die ich nie wieder brauchen werde, aber nicht wegschmeißen will. Denn kaum bin ich von meinem Stuhl heruntergestiegen, sind sie auf ewig verschwunden. 

Perspektive ist eine faszinierende Sache. Heute jedoch fällt mir auf, dass ich bei der Sache mit der Perspektive ein wichtiges Detail vergessen habe: Nicht jeder Mensch hat meine Perspektive. Für Max ist die Ansammlung schmieriger und verstaubter Blumenübertöpfe auf meinem Küchenschrank gar nicht unsichtbar. 

Große Menschen sind schon arm dran: Sie stoßen sich nicht nur bei Burgbesichtigungen ständig den Kopf, sondern müssen ihren Ramsch in den Keller bringen und mit Dreck leben, der für uns platzsparend gewachsene Menschen gar nicht existent ist. Und auch wie vorbildlich sauber meine Hängeschränke von unten sind, wird Max wohl nie erfahren. Als ich ihn bitte, mir die Schere zu geben, die wenige Zentimeter vor ihm direkt unter dem Oberschrank von einem Haken baumelt, beginnt er stattdessen wie wild die ganze Küche abzusuchen. Zumindest dass Schränke auch eine Unterseite haben, kann man ab einer gewissen Größe offenbar ausblenden.

Susanne Krause