Wir kennen sie: die Menschen, die uns auf eine riesen Unordnung im WG-Zimmer vorbereiten und das einzige Chaos ein ungemachtes Bett ist. Wer das Schlimmste prophezeit, kann nur postiv überrachen. Psychologen nennen dieses Phänomen Sandbagging.
Wir alle haben sie gehasst: Diese eine Mitschülerin, die nach jeder Prüfung lautstark gejammert hat, dass sie ganz sicher eine Fünf bekommt, bis sie eine Woche später die zweitbeste Arbeit der Klasse in Empfang nehmen konnte. Psychologen nennen dieses Phänomen Sandbagging. Wer das Schlimmste prophezeit, kann nur positiv überraschen – selbst wenn er dabei allen furchtbar auf den Senkel geht.
Johannes plant offenbar eine besonders große Überraschung, während er versucht, mich auf dem Weg zu seiner Wohnung abzuhängen. Nachdem ich den Termin für die Matinee-Vorstellung verplant habe, beschließen wir kurzfristig, die Filmvorführung zu ihm nach Hause zu verlagern. Auf dem Weg legt er mir gerade zum vierten Mal dar, dass es dort aber nicht aufgeräumt sei und sucht nach fadenscheinigen Ausreden, um sich einen Vorsprung zu verschaffen. In Wahrheit – ich habe es bereits geahnt – reichen natürlich die dreißig Sekunden, die er früher aus dem Aufzug steigt, um die eine herumliegende Hose im Zimmer aufzusammeln und für beinahe tadellose Ordnung zu sorgen. Note: 1-. Ich bin nicht sonderlich überrascht: Menschen, bei denen zuhause wirklich das Chaos herrscht, fühlen sich darin zu wohl, um andere vorzuwarnen.
Nervös wird hingegen der Rest der Menschheit bei Besuch, vor dem man die eigenen vier Wände nicht mehr inszenieren konnte. Auch wenn es keiner gern zugibt: Die letzten fünf Minuten bevor es an der Tür klingelt sind reserviert, um das Buch auf dem Nachttisch auszutauschen, den Politikteil statt der Kontaktanzeigen oben auf den Zeitungsstapel zu legen und noch fix andere Musik einzulegen. Besuch ist eigentlich eine nette Sache, fühlt sich aber immer ein bisschen an wie einst die Zimmerkontrolle im Schullandheim. Dabei prüfen die wenigsten Freunde – ja nicht mal besonders penible Eltern – was sich an Dreck unter dem Bett verbirgt. Bei Johannes entdecke ich den Staub unter dem Sofa auch nur unabsichtlich, als wir es näher vor den Bildschirm rücken. Ehe ich Gelegenheit habe, ihn davon zu überzeugen kann, dass Staub unter Möbelstücken, die man sonst nie verrückt, ein ganz normales Phänomen ist, holt er schon die Kehrschaufel aus der Küche. Bestimmt ist er erleichtert, dass er mich auf das Schlimmste vorbereitet hat. Susanne Krause
Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.
Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.