Das Kaninchen namens „Saftig“

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Braten kommen aus dem Rohr und Würstchen aus dem Kühlschrank? Nicht ganz. Doch dass die süßen Kaninchen ihres Kumpels eines Tages knusprig gebraten auf dem Teller landen sollen, findet Toni gar nicht gut.

Als Toni die Kaninchen eines Kumpels füttert, fragen zwei kleine Nachbarsmädchen, ob sie sich die Tiere mal anschauen dürfen. Es sind zwei niedliche Exemplare; sowohl die Kinder mit großen Augen vor dem Gitter als auch die Tiere mit großen Ohren dahinter. Was die Nachbarsmädchen glücklicherweise nicht wissen: Die Nager heißen „Saftig“ und „Knusprig“.

Wir alle waren einmal Kinder. Und wenn man Kind ist, dann kommen Braten aus dem Rohr und Würstchen aus dem Kühlschrank. So einfach ist das. Natürlich gibt es ein paar engagierte Eltern, die ihren Kindern vermitteln wollen, dass sich der Sonntagsbraten nicht einfach spontan im Ofen materialisiert. Wie etwa der Vater, der seinen Kindern einen Hasen namens „Braten“ in Pflege gab. Als „Braten“ dann wirklich an Knödeln serviert wurde, verspeiste die Nachkommenschaft natürlich keinen Bissen ihres nicht mehr ganz so flauschigen Spielkameraden – glücklicherweise fanden sich im Kühlschrank noch ein paar namenlose Würstchen.

In diesem Sinne ist Tonis Kumpel ganz sicher kein Kind mehr. Er verfolgt voller Vorfreude, wie „Saftig“ und „Knusprig“ brav nach Mastplan zunehmen („Saftig“ bezeichnenderweise etwas besser als sein Käfigkamerad) und freut sich dabei auf ihre Metamorphose vom Haustier zum Festmahl. Toni selbst hat bei der Sache eher gemischte Gefühle: Natürlich ist ihr klar, dass man ein zufriedenes Kaninchen mit besserem Gewissen verspeisen sollte als eine unpersönliche Portion Pferdelasagne. Dennoch hat Toni ihre Pflegehäschen so ins Herz geschlossen, dass sie weiß: Essen könnte sie kein Stück von ihnen.

Tonis moralisches Dilemma wird glücklicherweise durch ein wichtiges Detail erleichtert: Toni ist Vegetarierin. Selbst kultiviert sie statt Braten-in-spe ein kleines Gemüsebeet in einem Gemeinschaftsgarten am Stadtrand. Alles ökologisch, niemand lässt hier sein Leben, ja nicht mal Schneckenkorn ist erlaubt. Nur seit sich ein paar namenlose Nacktschnecken an Tonis Erbsen vergangen haben, ist Schluss mit dem Frieden. Seitdem zerschneidet Toni alle Schnecken – ganz umweltfreundlich! – mit ihrer Gartenschere. Als Vegetarierin muss man ja glücklicherweise nicht essen, was man schlachtet.

Von Susanne Krause