Man nehme den Namen einer Person im Raum und wandle ihn in Wörter sämtlicher Vokabulare um. Das Eis für eine neue Freundschaft ist gebrochen – So zumindest in der Geschichte unserer Autorin.
Ich habe das große Glück, eine Freundin namens Agnes zu
haben. Ich finde sie bezaubernd, aber noch viel bezaubernder finde ich ihren
wandlungsfähigen Namen. Kennengelernt habe ich sie während meines letzten Schuljahres
und ausschlaggebend für mein anfängliches Interesse an ihr war ihr schöner,
kurzer Name.
Agnes saß immer rechts hinter mir und an einem besonders
langweiligen Schultag drehte ich mich zu ihr um und fragte sie, ob ihr bewusst
sei, dass in dem Wort „agil“ ihr kompletter Spitzname „Agi“ enthalten sei. Sie
grinste über meinen schlechten Wortwitz, aber ihr Lächeln war aufrichtig. Ich
sah das als willkommene Einladung, ihr künftig weitere Namensvorschläge
unterbreiten zu dürfen. Je öfter ich mich umdrehte und je kreativer ich wurde,
desto mehr entstand ein leises Bündnis zwischen uns, das sich in den vergangenen
Jahren zu einer stabilen Freundschaft manifestiert hat.
Aus anfänglichen Unterhaltungen in der Biostunde wurden
ausgefeilte und seitenlange Lokalisteneinträge mit neuen Namensvorschlägen für
den Plural (Agen und Agnessen).Vor allem unsere Gruppenarbeiten in Englisch
nutzten wir, um neue Namen zu kreieren: Von lateinischen Begriffen wie „agitare“
über Nomen wie „M(agnes)ium“, „Agitator“, „Argonaut“, bis hin zu Verben wie „agieren“
und „diagnostizieren“. Unser persönlicher Favorit ist und bleibt „Agoraphobie“,
was übersetzt „Platzangst“ bedeutet. Manchmal weiß ich nicht so genau, ob sie
tatsächlich so eine unbändige Freude wie ich daran hatte, neue Namen zu
erfinden. Jedoch gab sie mir stets ein anerkennendes Gefühl, ähnlich wie eine
Mutter, die ihr Kind bei einem Sportturnier anfeuert. Irgendwann fingen wir an,
miteinander feiern zu gehen und auch über andere Dinge als Namen zu reden. Es
entwickelte sich eine tiefgehende Freundschaft. Trotzdem behielten
wir unsere Namenserfindung bei. Agi hat es sich beispielsweise nicht nehmen
lassen, sich auf meinem Abi-Shirt mit „Agoraphobie“ zu verewigen und in meinem
dritten Semester an der Uni kreiste sie in meiner unkorrigierten Hausarbeitsfassung
über das Mittelalter sämtliche Wörter wie „Agonie“ und „agonieren“ ein, wofür
ich ihr heute noch dankbar bin. Vor lauter Stress hätte ich diese beiden Wort-Schätzchen
glatt übersehen.
Wir treffen uns auch heute noch regelmäßig, aber neue
Kosenamen gehören längst nicht mehr zu unseren Hauptthemen. Hin und wieder
fällt uns dann doch wieder ein hübscher Name ein, was uns wiederum daran
erinnert, wie diese langjährige Freundschaft einst begann. Erst neulich habe
ich irgendwo das Wort „Anagnorisis“ (griechisch für Wiedererkennung) gelesen.
Ich werde Agi am Wochenende darauf hinweisen.
Text: Barbara Forster
Foto: Yunus Hutterer