Zeichen der Freundschaft: Abgeschweift

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Es gibt diese Menschen, die sich in tausenden Kleinigkeiten verlieren, wenn sie doch eigentlich nur eine Sache erzählen wollen. Und kein Mensch schweift so gut ab wie ihr guter Freund Severin, meint unsere Autorin

Die
Ausschweifung wird immer länger. Ich sehe es kommen, aber ich habe keine Angst
davor. Nach zehn Minuten Exkurs sieht mich Severin an, schüttelt kurz den Kopf
und sagt seinen Satz: „Sorry, ich schweife voll ab. Schon wieder.“ Und ich sage
meinen Satz: „Kein Ding, ich bin noch voll dabei.“ Diesen Moment gibt es in
jedem unserer Gespräche.

Ausgangspunkt für die Ausschweifung war
ursprünglich meine Frage, was Severin seiner Freundin zum Geburtstag geschenkt
hat. Mittlerweile sind wir aber bei dem Konzert des Bach-Chors angekommen, mit
dem er an diesem Abend auftreten wird. Und davor hat er mir seine
Arbeitssituation am Lehrstuhl erklärt, nicht ohne einen Umweg über das geplante
Zeltlager der Kolpingjugend einzuschlagen, das er gerade organisiert. Auf das
Geschenk warte ich noch. Aber das ist normal. Wenn Severin etwas erzählt, dann
erklärt er jede Facette der Geschichte und welcher Umstand zu welchem Ereignis
geführt hat, um letzten Endes zu einem großen, alles erklärendem Fazit zu
gelangen.

Ich vermute, dass er deswegen oft gesagt
bekommt, er solle mal zum Punkt kommen. Vielleicht entschuldigt er sich deshalb
auch jedesmal wieder, wenn er abschweift, wenn seine Ausführungen immer länger
und immer verwinkelter werden. Aber genau das mag ich an ihm. Nicht nur weil
ich weiß, dass am Ende alles einen Sinn ergeben wird, dass er irgendwann sagen
wird: „Aber was ich eigentlich erzählen wollte…“, dass der Kreis sich
schließen, der Schweif in einer runden Geschichte verblassen wird, wie ein
Kondensstreifen am Himmel. Sondern ich mag es auch, weil die Art, wie er seine
Geschichten erzählt, die ohne die Ausschweifung vielleicht nur ganz kleine,
unbedeutende Nebensächlichkeiten wären, einen Blick auf seinen Charakter
zulässt.

Durch seine Geschichten wird mir immer
wieder klar, dass Severin einer der umsichtigsten, treuesten, aufrichtigsten
und sensibelsten Menschen ist, die ich kenne. Wenn ich einmal drei Monate
nichts von ihm gehört habe, kann ich mir eigentlich sicher sein, dass ich
früher oder später eine fünfmal Bildschirm-Größe-lange Whatsapp-Nachricht
erhalte, die zu zwei Dritteln aus einer Entschuldigung mitsamt Erklärung
besteht, warum er so lange nichts hat von sich hat hören lassen, und zu einem
Drittel aus Fragen, wie es mir geht. Im besten Fall beinhaltet sie außerdem
noch einen Vorschlag für das nächste Treffen.

Und dann sitzen wir irgendwo beim Teetrinken
oder Mittagessen und erzählen, was uns so beschäftigt. Wenn Severin einen Schweif
beendet hat, setze ich an. Nach zehn Minuten sehe ich ihn an. Schüttle kurz den
Kopf und sage meinen Satz: „Sorry, ich bin mir gerade nicht sicher, ob das so
viel Sinn ergeben hat – weißt du, was ich meine?“. Und Severin lächelt und sagt:
„Ja, ich glaube schon.“ Nein, nicht nur Severin schweift aus und schweift ab,
auch ich tue das. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass ich noch viel von ihm
lernen kann, was sortierte Schweif-Führung angeht, denn meine Gedanken
vereinen sich nicht immer zu einem großen, allumfassenden Fazit. Aber die
Tatsache, dass Severin mich meistens trotzdem versteht, gibt mir Hoffnung, dass
ich irgendwann so gut werde wie er.

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Yunus Hutterer