Von Müll und Macken

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Nachbarn haben komische Angewohnheiten. Vielleicht ist es da auch gar nicht so schlimm, wenn man sich nicht mal mehr höflichkeitshalber grüßt. Doch was sollte Anna auch zu ihrem Nachbarn sagen, der in der Mülltonne kauert?

Ihre schlimmsten Macken leben die meisten Menschen im häuslichen Umfeld aus. Das erspart uns zwar viel sonderbares Verhalten in der Öffentlichkeit, bedeutet jedoch auch, dass unsere Nachbarn stets besonders bekloppt erscheinen. Vielleicht ist es im Hinblick auf diese Problematik gar kein so großer Verlust, seine Hausgenossen kaum zu kennen, ja, nicht mal höflichkeitshalber zu grüßen, wenn man sich an der Abfalltonne begegnet. Auch als Anna ihren Nachbarn an diesem Abend trifft, sagt sie nichts. Gar nicht mal aus Unhöflichkeit. Klar, einem Nachbarn bei der Mülltonne hätte sie ein flüchtiges „Hallo“ zugeworfen. Aber was sagt man zu einem Mann, der in einer Mülltonne steckt?

Ehe der Einwand kommt, ein Nachbar in der Tonne sei ein Fall für die Kripo: Annas Nachbar ist in einem Stück. Ja, zumindest körperlich scheint er völlig intakt zu sein. Er kauert wie eine Ratte zwischen den Mülltüten und blinzelt erschrocken ins plötzlich einfallende Laternenlicht. Dann legt er einen Finger an die Lippen. „Psst“, zischt er Anna zu. „Bitte sag nichts!“ Anna gehorcht. Sie wüsste auch echt nicht, was sie zu dem erwachsenen Mann, der sich da in ihrer Mülltonne versteckt, sagen sollte.

Unter normalen Umständen würde man vielleicht vermuten, der Mensch im Container sei in Schwierigkeiten. Versteckt sich vielleicht vor der Mafia oder seiner Schwiegermutter. Es spricht nicht für Studentenverbindungen im Allgemeinen, dass Anna dieser Gedanke überhaupt nicht kommt. Denn der Herr im Müll gehört zur Burschenschaft nebenan. Verbindungsmitglieder gehören zu denjenigen Menschen, die ihr erweitertes häusliches Umfeld mit besonders vielen Absonderlichkeiten erfreuen. Also bemüht Anna sich einfach, sich so normal zu verhalten, wie es die Situation eben erlaubt. Sie verstaut den Müllbeutel an der anderen Seite des Containers, eifrig bemüht, ihrem Nachbarn nicht ihren Hausmüll der vergangenen drei Tage um die Ohren zu hauen. Als sie sich schon zum Gehen wendet, fällt ihr dann doch noch etwas Höfliches ein, was man in ihrer Situation sagen könnte. „Soll ich den Deckel auflassen oder zumachen“, fragt sie. Der Nachbar überlegt kurz. Ein kleiner Spalt wäre nett, sagt er dann.

Von Susanne Krause