Fremdgänger: Richtig wichtig nichtig

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Wenn man als eingefleischte Münchnerin in die Welt zieht zum Studieren, erwartet einen immer der ein oder andere Kulturschock. Unter all den neuen Eindrücken aus der großen, weiten Welt ruht aber die Sehnsucht nach der Heimat. Unsere Autorin Katharina erzählt heute, warum sich der grantige Münchner auch einmal ein wenig Smalltalk aneignen sollte.

Der Smalltalk ist der Feind des Münchners. Diesen Eindruck habe ich jedenfalls vor meiner Abreise nach Kalifornien bekommen: Mehrheitlich ließen sich meine Freunde darüber aus, wie sehr es sie nerven würde, ständig mit Fremden über Nichtigkeiten zu plaudern, wie es der Amerikaner an sich eben tut. Oder wie der Münchner denkt, dass es der Amerikaner tut.

Neulich war ich dann im Supermarkt hier in Berkeley. Ich hatte mich endlich zwischen länglichen oder runden, grünen oder gelben Zucchini sowie Auberginen in den Varianten dunkellila oder helllila mit weißen Tupfen entschieden und stand an der Kasse. Der Kassierer bemerkte meine „SF Giants“-Baseball-Kappe und fragte mich, ob ich das Spiel der Baseballer aus San Francisco am Abend zuvor gesehen hätte. Hatte ich nicht. Ich hatte auch insgesamt nicht mehr als zwanzig Minuten irgendeines Giants Spiels in dieser Saison gesehen. Aber das macht ja nichts. Er erzählte mir von der peinlichen Pleite, wir machten Witze über den Pitcher und uns gegenseitig Mut, dass das mit den Playoffs doch noch klappen könnte. Es ist so simpel wie wundervoll. Jemand sagt etwas Nettes zu dir. Du sagst etwas Nettes zurück. Der andere Mensch lächelt, du lächelst, der Tag ist ein kleines bisschen besser. Man kann das oberflächlich finden, schließlich geht es in den seltensten Fällen um mehr Substanzielles als die beachtliche Größe der Wassermelone im Einkaufswagen des anderen. Oder man freut sich einfach darüber.

Eine Sache der Einstellung und der Gewöhnung. Wahrscheinlich würden viele Münchner Studenten auch glatt über ihre eigenen Ugg Boots stolpern, wenn ihnen jemand in der Mensa im Vorbeigehen ein Kompliment zuruft. Der ist bestimmt komisch. Oder gar gefährlich? Einfach nur freundlich – das ist hier die gängige Interpretation.

Aber diese Umstellung ist nicht nur für grantige Münchner hart. Auch einer meiner philippinischen Freunde war am Anfang eher eingeschüchtert von so viel Gesprächsbereitschaft. Heute ist das kaum zu glauben – denn niemand schafft es so gut wie er, dank charmanter Gesprächsführung besonders viele Gratisproben auf dem Farmers’ Market zu bekommen. Das ist dann quasi das nächste Level.

Und was ist die Königsdisziplin im Smalltalk? Für mich zweifellos der Small-Schrei. Der ist immer dann nötig, wenn du dem Busfahrer beim Aussteigen durch den vollbesetzten Bus hindurch ein „Dankeschön! Schönen Tag noch!“ zubrüllen willst. Das gehört hier zur Busfahrt genauso dazu wie der Drogenabhängige auf der Rückbank. Noch habe ich ein paar Monate, um die Tonlage zu perfektionieren.

Text: Katharina Hartinger

Photo: Privat

Band der Woche: Jordan Prince

Der Songwriter Jordan Prince hat für seine Liebe die USA verlassen und macht seit einem Jahr  in München

Musik. Seine im Juli veröffentlichte EP geht über normalen US-Gitarren-Folk hinaus und klingt  wie Science-Fiction. 

Die Welt, die einerseits immer mehr zusammenrückt (sich in die andere Richtung natürlich auch entfremdet), birgt noch mehr als politische Wirren und ökonomische Ungleichgewichte. Es entstehen auch ungewöhnliche Liebesgeschichten daraus – und letztendlich auch neue Musik. Schon vor einigen Jahren etwa spülte es den US-Amerikaner Gabriel Miller Phillips nach München – der Liebe wegen. Eine ernsthafte Beziehung über die Distanz München-New York zu führen, ist auf Dauer ein recht schwieriges Unterfangen. Es entstanden aber sehnsüchtige Songs dabei, die Gabriel mit zarter Stimme gleich mit nach München brachte. Nicht nur die Liebesgeschichte verbindet Gabriel Miller Phillips nun mit Jordan Prince, auch musikalisch entstehen da durchaus Parallelen – auch wenn man der Musik von Jordan anhört, dass sie ein bisschen später geschrieben wurde als die von Gabriel.

Jordan Prince ist auch Songwriter, er ist auch US-Amerikaner und er kam auch der Liebe wegen nach München. Ursprünglich stammt er aus der kleinen Stadt Corinth in Mississippi, seine deutsche Freundin lernte er dann an der Filmhochschule in New Orleans kennen, sie führten eine Fernbeziehung. Im vergangenen August entschied sich Jordan dann dazu, nach Deutschland zu ziehen: Er habe alles verkauft, was er in den Staaten hatte, brach die Zelte ab und lebt nun seit einem Jahr in München. Seine Musik klingt trotzdem noch sehr amerikanisch. Man hört den Songs an, dass sie in ganz klassischer Songwriter-Manier auf der Akustik-Gitarre komponiert wurden: Feine Gitarren-Pickings, sehnsüchtige Melodien und eine ebenso zarte Stimme wie Gabriel Miller Phillips, die Jordan auch gerne mal in die Falsett-Nähe schrabben lässt. Doch seine aktuelle EP, die er im Juli 2016 veröffentlicht hat , geht dennoch über das Prinzip US-Gitarren-Folk hinaus. Denn darauf ist, ganz titelgemäß, eine Band zu hören. Und die haucht der Musik andere Farben ein, da erklingen schräg-spacige Synthesizer oder dünne Flötentöne. Ein wenig Science-Fiction ist das, im ausgesprochen schönsinnigen, mehrstimmigen Folk-Gewand. 

Diese EP hat er noch in den USA aufgenommen, im Juli 2015, kurz bevor er nach Deutschland zog. In München hat er dann die örtliche Musik-Szene erst einmal aus der typischen Singer-Songwriter-Perspektive kennengelernt. Er trat bei den üblichen Open-Stage-Sessions auf, lernte aber auch die alternative Szene um das Import-Export oder die Hauskonzerte kennen. Und allmählich kannte er die Szene, er freundete sich mit Bands wie den Young Chinese Dogs an, die ihn gleich als Support mit auf ein Konzert nahmen, oder trat in Kontakt mit Xavier Darcy.

Ganz hingerissen ist er von der Münchner Szene, in der sich so viele Musiker so stark für ihre Kunst einsetzen würden. Das gefällt ihm, denn auch sein Hauptfokus liegt auf seiner Musik, zum Geldverdienen jobbt er nebenbei. Im Herbst wird er nun die Musikerszene in ganz Deutschland kennenlernen. Als Release-Tour zu seiner EP hat er sich eine ganz beachtliche Liste an Städten zusammen gebucht, wird etwa in Innsbruck, Berlin und Frankfurt auftreten. Und dazu gibt es noch eine Besonderheit: Denn zu dieser Tour begleitet ihn die Keyboarderin Violeta Del Rio, die dafür extra eingeflogen kommt, und die auf seiner EP maßgeblich für den Science-Fiction-Touch verantwortlich ist. Gleichzeitig arbeitet er an seinem ersten Album. Und weil die Sehnsucht und die Menschen in der Fremde eben einen starker Motor für die Kunst sind, wird das ein Konzeptalbum: Jeder der zwölf geplanten Songs wird sich um eine einzelne, wichtige Person drehen, deren Bekanntschaft Jordans Leben verändert hat. Seine Freundin wird mit Sicherheit auch vorkommen.  

Stil: Folk / Songwriter / Neo-Folk
Besetzung: Jordon Prince (Songwriting, Gitarre, Gesang), wechselnde Bandmitglieder
Aus: New Orleans / München
Seit: 2005
Internet: www.jordanprince.bandcamp.com

Von: Rita Argauer

Foto: Peter Ross

Mein München: Braunauer Eisenbahnbrücke

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Ein Bild wie aus einem Wild-West-Film! Das Foto könnte auch in den USA aufgenommen worden sein, ist allerdings beim Flaucher in München entstanden. Gekonnt in Szene gesetzt von Fotograf Matthias Engelmayer.

Wie sehr München seine Heimat geworden ist, merkt Matthias Engelmayer jetzt, wo er für längere Zeit in den USA lebt, um dort ein Praktikum zu machen. „Gerade in den Provinzen in den amerikanischen Südstaaten weiß ich jetzt die Kultur und Geschichte von München noch mehr zu schätzen“, sagt Matthias.

Vor drei Jahren ist der 24-Jährige für sein Wirtschaftsingenieurwesen-Studium nach München gezogen. Geboren und aufgewachsen ist er in Rosenheim. Bevor er eine bezahlbare Unterkunft in München gefunden hat, musste Matthias pendeln. Jeden Tag fuhr er auf dem Weg in die Uni an der Braunauer Eisenbahnbrücke vorbei. Ein Motiv, das Matthias für München-untypisch hält. „Leider ist die Stadt dafür bekannt, dass viele alte Orte, die nicht gleich wieder einem Nutzen dienen, schnell beseitigt werden. Deswegen gibt es relativ wenig verlassene, heruntergekommene Gebäude“, sagt er. Aber genau das Fotografieren von diesem Leerstand verursacht bei Matthias einen Nervenkitzel. Auch bei den Trips in die Städte New York, Detroit und Chicago möchte er sich auf die Suche nach solchen Objekten machen.  

Von: Stefanie Witterauf

Foto: Matthias Engelmayer

Unterwegs im Seidenkleid

Sibylle Randoll reist auf den Spuren ihrer Ahnen durch die USA
– zu besonderen Anlässen im blauen Seidenkleid.

Wie gut, dass ihr langweilig war an diesem Weihnachtstag im Jahr 2012. Sibylle Randoll entdeckte im Schrank ihrer Schwester das Tagebuch ihres Ururgroßvaters und begann, darin zu blättern. Schnell war sie vertieft in die Geschichte von Otto Dahl, dem jungen Lederfabrikanten aus Wuppertal, der im 19. Jahrhundert nach Amerika reiste. Der Hudson River! Die Indianer! Die Niagara-Fälle – dieselben Wasserfälle, die Sibylle Randoll selbst bei einem Auslandsaufenthalt besucht hatte. „Als ich das gelesen habe, war ich sofort angefixt“, sagt sie. Und hatte von diesem Tag an die Idee im Kopf, die Route ihres Ururgroßvaters nachzureisen.

Die junge Frau mit dem ungebändigten blonden Haar und dem Grübchen im Kinn hat etwas Resolutes an sich. Wenn nicht jetzt, wann dann? Denn Sibylle ist jetzt 26 – genauso alt wie ihr Ururgroßvater damals. Otto Dahl hatte sich im Jahr 1880 mit seinem Vater überworfen. Kurz entschlossen buchte er ein Ticket auf einem Ozeandampfer. In Amerika kam er bei deutschen Bekannten unter, arbeitete in New York und Chicago. Im damals noch wilden Westen lernte er neue Techniken der Lederverarbeitung, jagte Hirsche und traf Indianer. Fürs Sightseeing blieb das Wochenende. „Es war eine Art Work and Travel – nur eben 1880“, sagt Sibylle. Eineinhalb Jahre sollte die Reise dauern. Als die Nachricht vom Tod des Vaters eintraf, kehrte Otto Dahl zurück und übernahm die Firma in Deutschland.

Seine Amerika-Route will Sibylle Randoll nun nachfahren. „Barmen to Bozeman“ heißt ihr Reiseprojekt: von Barmen im heutigen Wuppertal bis ins verschlafene Bozeman in Montana. Statt in die USA zu fliegen, sticht Sibylle am 4. Mai mit einem Luxusdampfer in See – es ist ihr erstes Mal auf einem Kreuzfahrtschiff. In den USA will sie nicht mit dem Auto, sondern mit der Eisenbahn unterwegs sein: Auf ihrer Strecke liegen New York, die Niagarafälle, Chicago, Salt Lake City and der Yellowstone-Nationalpark.

Es soll eine bewusst entschleunigte Reise werden, sagt sie. „Wir jetten heutzutage für ein Wochenende um die halbe Erde. Wie ist es so, langsam zu reisen?“ Zumindest auf der Fahrt nach Bozeman wird Randoll der Route ihres Ururgroßvaters so treu wie möglich bleiben.

Auf ihrem Blog explories.de will sie zweisprachig über die deutsche Kultur in Amerika berichten. Schon lange interessiert sich Sibylle für Kultur-Exklaven. Bei einem Aufenthalt in der ehemaligen Kolonie Namibia war sie überrascht, wie lebendig die deutsche Kultur dort teilweise noch ist. „Dort schauen viele am Sonntagabend den Tatort und sprechen beim Abendessen über Merkel.“

In den USA stellen Deutsche historisch gesehen die größte Einwanderergruppe – und haben Spuren hinterlassen: Die Brooklyn Bridge etwa wurde von einem Ingenieur aus Thüringen geplant. Sibylle möchte herausfinden, wie aktiv deutsche Kultur in den USA heute gelebt wird. „Zieht man sich einmal im Jahr ein Dirndl zum Oktoberfest an oder ist das noch im Alltag verankert?“ Sie will in den USA deutsche Restaurants testen und zu Treffen und Festen der deutschen Communitys gehen.

Ausgewanderte Deutsche haben damals auch Otto Dahl aufgenommen, der für sie gearbeitet und bei ihnen übernachtet hat. Ein paar Pflichttermine hat Sibylle schon: die Steuben-Parade in New York, das German Fest in Milwaukee und der German-American Day am 6. Oktober. Das erste Meeting steht jedenfalls schon fest: Bei der Ankunft in New York hat sie das deutsche Generalkonsulat zum Lunch eingeladen.

Auffallen dürfte sie auf jeden Fall: An den wichtigsten Tagen der Reise möchte Sibylle ein blauglänzendes Seidenkleid tragen, das sie extra nach der Mode des 19. Jahrhunderts hat anfertigen lassen. Das „Nachmittagstee- und Spaziergehkleid“, wie sie es nennt, füllt einen halben Koffer und besteht aus sieben Schichten, mit Korsett und Kragen. Gegen Regen schützt der Schirm der Urgroßmutter, der mehr als hundert Jahre alt ist. Nur das Po-Kissen aus modernem, leichten Material und der Reißverschluss fallen historisch aus der Reihe: Schließlich muss Sibylle das schwere Kleid selbst anziehen können.

Für Sibylle ist das Projekt auch eine Möglichkeit für Sightseeing abseits der ausgetretenen Pfade. „Ohne meinen Ururgroßvater wäre ich nie auf die Idee gekommen, nach Bozeman zu fahren. Warum auch?“

Sibylle hat BWL und Tourismusmanagement studiert und ist in der Welt weit herumgekommen: Allein fürs Studium war sie in den Niederlanden, Peru, Dänemark, Slowenien, Spanien und Namibia. Überraschen kann sie die USA-Reise trotzdem noch, meint sie. Ein Baum, den ihr Großvater damals skizziert hat, steht immer noch, nach 136 Jahren. „Was ich da fühlen werde, wenn ich mit der Zeichnung meines Ururgroßvaters dort stehe“, sagt Sibylle und sucht kurz nach Worten. „Darauf bin ich sehr gespannt.“

Von: Elsbeth Föger

Foto: Benjamin Behringer

Ein Punk in Hollywood

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Für sein Filmdebüt hat Matthias Raffeis eine Produktionsfirma aus LA gefunden. Als Darsteller hat der 26-Jährige gleich mal eine deutsche Musik-Größe angefragt.

Matthias Raffeis, 26, ist das Klischee. Das sagt zumindest der weiße, handgeschriebene Schriftzug auf dem Rücken seiner Lederjacke. Matthias sitzt in der gleißenden Wintersonne vor dem dunkelgelben Holz des runden Hangers, in dem sich die Kulissen der „Unendlichen Geschichte“ verbergen. Hier, auf dem Gelände der Bavaria-Filmstudios, hat Matthias Filmregie studiert. Vor beinahe zwei Jahren hat er das Studium an der privaten Medienakademie abgeschlossen. Er träumt wie so viele von einer Karriere, am besten in Hollywood. Nur ist er, anders als viele, schon ein wenig näher dran. Denn er hat eine renommierte und in den USA ausgezeichnete Produktionsfirma für seinen ersten Film gefunden. 

Matthias, schwarz gefärbte, in alle Richtungen abstehende Haare bis auf eine sorgfältig nach unten gegelte Strähne, trägt Springer-Stiefel und einen Nieten-Gürtel. Früher hat er sich jeden Tag einen schwarzen Balken über die Augen geschminkt. Warum? Habe ihm damals gefallen.                                            Aus Klischee-Punker wird Klischee-Filmemacher. Er möchte Hollywood erobern. In seinem Film „Island of Individuals“ wird es um eine Gruppe Jugendlicher gehen, kaum überraschend sind es Punks, die sich in einer düsteren Zukunftsvision im Jahr 2089 von der Gesellschaft absetzen und auf eine Insel flüchten. Eine Insel, auf der ihre Individualität, symbolisiert durch grell-fröhliche Neonfarben, wieder sprudeln kann. Die Welt der ernsten Erwachsenen dagegen wird in schwarz-grauem „Sin-City-Look“ gehalten werden, sagt Matthias.

Für den 26-Jährigen bestehen keine Zweifel an der Umsetzung des Drehbuchs, für das er die Idee schon im ersten Studienjahr hatte. In Zusammenarbeit mit der Produktionsfirma Roll Call Productions, die ihren Sitz in München und in Los Angeles hat, soll der Film spätestens in vier Jahren in die Kinos kommen. „Am Anfang, als herauskam, dass ich den Film tatsächlich machen darf, hatte ich Tränen in den Augen“, sagt er. 

„Selbstverständlich ist es oft noch sehr emotional für Matthias, wenn es um seine Ideen geht. Das ist sein Baby und da will er sich natürlich nicht reinreden lassen“, sagt auch Heide Fliegner, die Leiterin der Produktionsfirma, die in den USA bereits für mehrere ihrer Independent Filme ausgezeichnet wurde. „Island of Individuals“ ist in dem Sinne ein besonderes Projekt für sie und ihre Firma, als dass sie mit Matthias mit einem sehr jungen und auch unerfahrenen Partner zusammenarbeiten. „Aber da er aus einer speziellen Ecke kommt und die Idee an sich sehr groß angelegt ist, sind wir von dem Projekt überzeugt und werden es mit den höchstmöglichen Standards umsetzen“, sagt Fliegner.

Aus einer speziellen Ecke kommt Matthias für Fliegner, weil er bis zu seinem zwölften Lebensjahr selbst in Kalifornien gelebt hat und deshalb die jeweiligen Maßstäbe kennt, an denen Filme in beiden Ländern gemessen werden. „Da es einfacher ist, von englisch auf deutsch zu synchronisieren und es in Hollywood eine sehr viel größere Auswahl an Schauspielern gibt, soll der Film auch dort produziert werden“, sagt Matthias. Zuhause fühlt er sich in den USA trotzdem nicht mehr. „Es war sehr schwer, von dort wegzugehen, als meine Eltern wegen ihrer Arbeit mit meinem Bruder und mir umgezogen sind, und ich bin jemand, dem Heimat sehr wichtig ist“, sagt er und blinzelt in die Sonne. 

Für seinen Film hat Matthias auch eine Crowd-Funding-Kampagne gestartet. „Ziel war, die damit verbundene Facebook-Gruppe auf 10 000 Mitglieder zu erweitern. Ich dachte, wenn jeder einen Euro spendet, hätte ich schon einmal 10 000 Euro mehr, um gute Effekte sicherstellen zu können“, sagt Matthias und wirkt dabei enttäuscht. Die Kampagne läuft nämlich nicht so: Die Gruppe umfasst zwar 9500 Mitglieder, aber nur knapp 3000 Euro wurden gespendet.
Das ist möglicherweise die Kehrseite des Klischees. Matthias ist bewusst, dass er allein durch sein Aussehen aneckt. Immer wieder bekommt er in der U-Bahn abfällige Blicke zugeworfen, zusammen mit den Vorurteilen über Punks: die gehen nicht arbeiten, nehmen Drogen, duschen sich nicht. Das verhärtet sein eigenes Vorurteil gegenüber der Gesellschaft.

Matthias macht sich Gedanken darüber, ob Kinder ihre Individualität freier ausleben können als Erwachsene. Und auch darüber, ob Kinder ohne Erwachsene, die ihnen Regeln und Verbote auferlegen, zurechtkommen würden. Wie sich die Geschichte in seinem Film entwickeln wird, will er noch nicht verraten.

Matthias träumt von einem Ende der „Ellbogengesellschaft“. Ihm ist bewusst, dass seine Nietengürtel und Springer-Stiefel etwas Uniform-artiges sein können. Deshalb wird es in „Island of Individuals“ vielleicht auch eine kleine Hommage an die wahren Punks geben: Man sei mit dem Agenten von Campino von den Toten Hosen im Gespräch, für die Rolle eines der Erwachsenen. Da lacht er. Ja, für ein Punk-Kind wäre der leider schon zu alt.

Von: Theresa Parstofer

Foto: Catherina Hess

Am seidenen Faden

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Eine Insel mit zwei Bergen: Filmstudentin Eva Merz will in ihrem Abschlussfilm „Strings of Hope“ die Geschichte
der Augsburger Puppenkiste erzählen. Gedreht wird in den USA. Doch nun droht das Projekt zu scheitern.

Urmel aus dem Eis, die Katze mit Hut, kleiner König Kalle Wirsch. Die Figuren der Augsburger Puppenkiste haben jahrzehntelang das Leben deutscher Kinder geprägt. Wer konnte es nicht mitsingen, das Lummerlandlied? So bekannt die Marionetten selbst sind, so wenig kennt man ihre Macher. Die Menschen, die sie schnitzen, sie liebevoll einkleiden, sie mit puppenspielerischem Können an den Fäden führen. Das möchte Filmstudentin Eva Merz nun ändern. Die 27-Jährige arbeitet derzeit an ihrem Abschlussfilm „Strings of Hope“, der die Geschichte von Walter Oehmichen und seiner Familie erzählt, den Begründern der Augsburger Puppenkiste.
 Doch Eva dreht nicht in Schwaben, sondern in Los Angeles. Mit amerikanischen Schauspielern. „Ich wollte keinen deutschen Film für deutsches Publikum drehen“, sagt sie, „sondern ein Stück deutsche Kultur in die Welt tragen.“ Die Puppenkiste sei in den USA kaum bekannt, erklärt Eva, die dort seit 2013 lebt und studiert.

Eva, geboren in Weilheim, hatte in München zunächst Fotodesign studiert, doch eigentlich wollte sie immer zum Film. Zwei Mal bewarb sie sich an der Filmhochschule in München. Zwei Mal wurde sie nicht genommen. So etwas kratzt am Selbstbewusstsein. Doch aufgeben, das konnte Eva nicht. Als Abschlussprojekt ihres Fotodesign-Studiums realisierte sie den Kurzfilm „Mondnacht“ basierend auf einem Gedicht von Joseph von Eichendorff. Über Jahre hatte sie versucht, Sponsoren und Förderer für den Film zu finden. Vergebens. Sie zahlte ihn letztlich aus eigener Tasche.

Eine gute Entscheidung, denn Mondnacht brachte sie in jenes Land, das für viele Filmemacher das Eldorado des Kinos ist: die USA. Sie hatte sich mit dem Film an mehreren Filmschulen dort beworben, gleich zwei lockten mit Stipendien, weil sie von der Arbeit der jungen Frau begeistert waren. Eine neue Erfahrung für Eva. „Mir wurde in Deutschland immer erzählt, was ich alles nicht machen kann“, sagt sie, „die Lebenseinstellung in L.A. ist viel motivierender. Hier glauben die Leute an ihre Träume.“ Das tat auch Eva – und wanderte 2013 aus, um am American Film Institute Conservatory zu studieren, zu dessen Absolventen Regisseure wie David Lynch zählen. Aber der Traum vom Filmemachen klang schöner, als er war: Nach einem Jahr Studium wurde Evas Stipendium nicht verlängert. 50 000 Dollar hätte sie allein für die Studiengebühren aufbringen müssen. Zu viel für Eva. Sie brach das Studium ab.

Manch anderer wäre enttäuscht nach Deutschland heimgekehrt. Nicht so Eva. Für Menschen wie sie gibt es das schöne Wort „Stehaufmännchen“. Das sind Puppen mit rundem Unterkörper, deren Schwerpunkt so liegt, dass sie sich immer wieder von selbst aufrichten, egal in welche Schieflage sie geraten sind. Eva hat sich wieder aufgerichtet: Mittlerweile ist sie im UCLA Extension-Programm, einer Art Fortbildung, um eine zusätzliche Expertise im eigenen Job zu bekommen. Solche Kurse gibt es auch für Regie. Um ein Zertifikat dafür zu bekommen, muss Eva nun ihren Abschlussfilm realisieren.

In „Strings of Hope“ versucht sie, die Entstehung der Augsburger Puppenkiste nachzuzeichnen. Es ist eine Geschichte, die 1945 beginnt. Da gibt es den Augsburger Schauspieler Walter Oehmichen, der bereits während des Krieges den Traum vom eigenen Figurentheater hegt und nun versucht, aus dem Nichts ein Theater hochzuziehen. Doch wie soll das nur funktionieren, wo Deutschland in Schutt und Asche liegt? Wie soll man damit eine Familie ernähren? Hinzu kommt: Oehmichen war im Dritten Reich der NSDAP beigetreten, um seinen Job als Oberspielleiter am Theater Augsburg zu behalten, wurde später sogar Landesleiter der Reichstheaterkammer. „Er wollte verhindern, dass ein hochrangiger Nazi auf diesen Posten kommt“, erklärt Geschichtswissenschaftler Matthias Böttger der seit mehr als einem Jahrzehnt die Geschichte der Puppenkiste aufarbeitet, „doch das hat sich später sehr gerächt.“ Oehmichen, der bereits 1945 den Antrag stellt, die Puppenkiste eröffnen zu dürfen, wird von den amerikanischen Besatzern zunächst als verdächtig eingestuft. Die Genehmigung für das Theater gibt es erst mal nicht. Drei Jahre dauert es, bis es zu einer Anhörung kommt. Er wird freigesprochen. Vermutlich auch, weil er während des Dritten Reichs Stücke inszenierte, die eigentlich verboten waren. 1948 kann die Puppenkiste eröffnet werden.

Diese Dinge richtig wiederzugeben, das ist Eva wichtig. Sie hat Oehmichens Erben getroffen, mit ehemaligen Mitarbeitern gesprochen, Einblick in Familienalben bekommen. Mehr als ein Jahr recherchiert sie nun schon. „Deutsche in Hollywood sind oft die bösen Nazis“, sagt Eva, „da gibt so ein Schwarz-Weiß-Denken.“ Ihr gehe es darum, in ihrem Kurzfilm auch die „Grautöne“ wiederzugeben, die Brüche in der Biografie ihrer Figuren sichtbar zu machen. Oehmichen, so formuliert Historiker Böttger es, sei im Dritten Reich tatsächlich eher unpolitisch gewesen, „aber die Erfahrung der Kriegswirren hat ihn stark geprägt. Er war später sehr links.“

Trotzdem erzählt „Strings of Hope“ vorrangig eine Familiengeschichte. Eva geht es um die Interaktion zwischen Oehmichen und seiner Tochter Hannelore, die jene liebgewonnenen Figuren wie das Urmel geschnitzt hat, mehr als 6000 Stück. Die Eltern hatten Hannelore, 1945 fast noch ein Kind, zunächst das Schnitzen verboten. Der Film beschäftigt sich mit genau diesem Konflikt. Und mit der Hoffnung, die Theater in einer Zeit der Not geben kann. „Ich bin großer Fan von Märchen, Mythen, Puppenspiel, weil ich glaube, dass das heilende Wirkung hat. So etwas gibt einem Kraft in Zeiten von Krieg oder Hunger.“

Wenn Eva das sagt, weiß man, warum der Film ihr am Herzen liegt. Sie hat es selbst so oft erlebt, das Scheitern. Den ständigen Neustart. Das Gefühl, aus dem Nichts etwas schaffen zu wollen. Momentan versucht sie, für Strings of Hope eine Finanzierungsmöglichkeit zu finden. 26 000 Dollar wollte sie über die Plattform Kickstarter sammeln, doch es kam nicht annähernd genug Geld für den Kurzfilm zusammen. Strings of Hope hängt buchstäblich am seidenen Faden. In den kommenden drei Wochen muss sie das Geld auftreiben, sonst scheitert das Projekt. Eva wirkt nicht verbittert oder gar deprimiert, wenn sie das ausspricht. Man merkt, sie will das, unbedingt. Irgendwie wird es gehen. Muss es gehen. Denn Eva hat Großes vor: Falls ihr Projekt gut ankommt, will sie die Geschichte noch einmal erzählen. Als Spielfilm. Gedreht wird dann aber nicht nur in den USA, sondern auch in Schwaben. 

Von: Carolina Heberling

Foto: Steffanie Helmchen

Band der Woche: Running Choke

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Sie besetzen eine Nische, und das ziemlich erfolgreich. Mit ihrem Emo-Rock tourten Running Choke bereits in den USA und nahmen dort auch Songs für ihre EP auf. Schöne Melodien, gezupfte Gitarren und ein bisschen verkitschte Rebellion. Die fünf jungen Musiker schaffen sich eine eigene Ästhetik, die eine bestimmte Gruppe abgrenzungswilliger und verliebter Teenager ansprechen dürfte.

Den deutschen Charts wird gerade eine Art Nischenaffinität zugeschrieben. Natürlich nicht in den Single-Charts, die sind spätestens seit Spotify tatsächlich nur noch die oben schwimmenden Fettaugen der Pop-Szene. Kein irgendwie andersartiger Song schafft es da in die Top-Ten, geschweige denn auf Platz Eins. Doch anders ist das in den Album-Charts. Da hat sich sogar etwas gedreht, seit das Internet den Musikmarkt so aufschüttelte. Denn mit Downloads werden Alben obsolet für alle, die keine fanatischen Liebhaber sind. Alben sind etwas für treue Fans. Alle anderen kaufen einzelne Songs. Und die treuesten Fans gibt es nun einmal in der Nische. Etwa im Mittelalter-Rock, was der bis dato recht unbekannten Band Saltatio Mortis gerade ein Nummer-Eins-Album beschert hat.

Eine ähnliche Nische wie die Mittelalter-Imitatoren besetzen die Emos. Das kommt von „Emotional“ und bildete sich quasi als die gefühlige Seite von verzerrter Gitarrenmusik heraus. Da trug man als Fan zum standardisierten Schwarz auch noch Pink und sah ein bisschen aus wie einem japanischen Manga-Comic entsprungen. Emo war eine Zeit lang ziemlich im Mainstream angekommen – Bands wie My Chemical Romance oder Jimmy eat World waren in den Charts, irgendwo zwischen Nische und Masse. Dann kam Tokio Hotel und versaute dem Emo die Abgrenzung zum Mainstream, was die Bewegung ein wenig zerschlug. Und nun, knapp zehn Jahre später, spielt eine Münchner Band wieder mit diesem Stil; und hat damit genau den Erfolg wie die Mittelalter-Kapellen, bei denen man sich fragt, woher all die Fans so plötzlich kommen. Running Choke (Foto: Benedikt Reiwald) bringen es auf knapp 5000 Facebook-Fans, tourten in den USA und sind ganz gut dabei in einem Musikgeschäft, das längst als tot gilt.

Obwohl die Musik, die sie machen, nicht so überrascht: Das sind sehr schöne Melodien, die Running Choke da auf ihrer EP „Where we belong“ spielen. Da werden Gitarren gezupft und berührt, aber auch ein wenig erwartbar darauf gesungen. Doch was im Emo passiert ist, ist die Verkitschung von Rebellion. Wie in einer Soap-Opera sind da plötzlich dramaturgische Wendungen möglich, die vorher im Anti-Genre Rock nicht so recht funktionieren wollten: Das gilt für My Chemical Romance, die der düsteren Gothic-Romantik einen massentauglicheren Anstrich gaben. Und das gilt für Running Choke, die Teenie-Liebe in die Rockmusik holen. Da wird auf dem Cover-Foto der EP geknutscht, ein junges Paar im Sonnenuntergangs-Gegenlicht über Bahngleisen. Kunstwissenschaftlich ließe sich das auseinandernehmen und in der Zeichenhaftigkeit des Unendlichkeitswillen bis in die Romantik zurückverfolgen. Und in der Pop-Kultur ist ein derartiger Flirt mit der Ästhetik von Bravo-Foto-Love-Storys aus den Neunzigerjahren wieder Rebellion. Denn selbst in der Bravo wird Teenie-Verliebtheit heute vermutlich abgeklärter dargestellt. Doch das Quintett um Sänger Christian Beschowetz – der am liebsten in der schwarzen Version einer Sergeant-Peppers-Uniform auftritt – schafft sich da ganz geschickt eine eigene Ästhetik, zusammengesetzt aus bekannten Versatzstücken, die eine bestimmte Gruppe abgrenzungswilliger und verliebter Teenager ansprechen dürfte.

Und die gibt es nicht nur in Deutschland. Weshalb Running Choke auch schon längst den Sprung nach Nordamerika gemacht haben. Etwas, auf das viele Münchner und deutsche Bands vergeblich warten. Doch die Nische fördert eben auch den Zusammenhalt – und so wurden die vier Musiker schon 2013 von einem lokalen, kleinen Label nach Los Angeles eingeladen. Sowohl, um dort live aufzutreten, als auch weitere Songs für ihre EP aufzunehmen.  

Stil: Emo / Alternative Rock

Besetzung: Christian Beschowetz
(Gesang), Benedikt Seifert (Lead-Gitarre), David Friedrich
(Rhythmus-Gitarre), Walter Wahnsinn Jr (Bass), Simon Weidmann
(Schlagzeug)

Seit: 2012

Aus: München

Internet: www.running-choke.com

Rita Argauer

Foto: 

Benedikt Reiwald

Die Entdeckung Amerikas

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Amerikanische Doppelhaushälften und riesige Supermärkte: Lila Hartig (Foto: Franziska Schrödinger) hat mit ihrer Kamera Amerika entdeckt. Nur liegt das nicht in den USA, sondern in Bayern – für ihre Bachelorarbeit hat Lila Stützpunkte der US-Army in der bayerischen Einöde fotografiert.

Die Häuser des Rocky-Mountain-Way säumen gleichmäßig die Straße: orange verputzte Doppelhaushälften mit gepflegten Vorgärten. Neben der Haustür hat jemand eine Fahne angebracht: Stars and Stripes. Auf dem Gehweg: ein Kürbis. Bald ist Halloween. Es ist die perfekte Idylle einer amerikanischen Kleinstadt. Nur liegt die nicht in Amerika, sondern in der Oberpfalz, in Grafenwöhr. 

Der kleine Ort ist einer von vielen Standorten, an dem sich amerikanische Besatzer nach dem Zweiten Weltkrieg niedergelassen haben. Die Amerikaner sind bis heute geblieben, ebenso ihre Kultur. Fotografiestudentin Lila Hartig hat genau diese Kultur fotografiert. Für ihre Bachelor-Arbeit im Fach Design an der Hochschule München hat die 25-Jährige zwei US-Army-Stützpunkte in Bayern besucht und das Leben der Soldaten und ihrer Familien mit der Kamera dokumentiert. Es ist ein seltener Einblick, denn die Amerikaner leben dort abgeschirmt von der bayerischen Wirklichkeit. 

Wer rein will in das militärische Gebiet, muss durch eine Passkontrolle. Fotografieren? Streng verboten. Dabei würde man manches kaum glauben, wenn man keine Fotos hätte; dass da Menschen mitten in Europa mit Dollar bezahlen. Dass der Strom aus 110-Volt-Steckdosen fließt und am Straßenrand in der bayerischen Einöde die Leuchtreklame des „Roadside Diner“ zum Essen einlädt. „51st State“ hat Lila ihre Arbeit genannt – 51. Staat. Passt zu dieser Parallelwelt.

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Lila, die ursprünglich aus Landshut kommt, war nach dem Abitur selbst ein Jahr in den USA. Die Popkultur des Landes habe sie damals fasziniert. Das Inbild der Popkultur: Disneyland – Amerikaner bauen nach europäischen Märchenvorlagen eine Traumwelt mit Micky-Mäusen, Achterbahnen, Zuckerwatte. Genau dort arbeitet Lila ein Jahr lang: in Epcot, einem Themenpark, der zum Disney Resort gehört. Dort gibt es einen sogenannten World Show Case. „Da werden Länder ausgestellt“, erklärt Lila das Prinzip des Freizeitparks. Auch Deutschland. Da stehen niedliche, mittelalterliche Häuser, wie man sie hierzulande aus Rothenburg ob der Tauber kennt. In kleinen Läden können die Besucher Weine und Weihnachten kaufen. Im deutschen Restaurant stehen Klassiker wie der „Black Forest Cake“ auf der Karte. Lilas Job: Bier ausschenken, in Tracht. „Kulturrepräsentant“ nennt sich das. Vorher hatte sie nicht mal ein Dirndl. 

Mit ihren Kollegen wohnt Lila auf dem Gelände des Freizeitparks, unternimmt von dort aus Reisen, um das echte Amerika zu entdecken. Las Vegas zum Beispiel. Das Mekka amerikanischer Lebensart. Es ist eine Scheinwelt, in der Lila merkt, wie wichtig Heimat sein kann. „Wir sind auch in deutsche Restaurants gefahren, weil wir das Bier vermisst haben“, erzählt sie. Die junge Fotografin hat selbst erfahren, wie das ist, fremd zu sein.

Nun also diese Abschlussarbeit: Heimat fotografieren, amerikanische Heimat im Miniformat. Die Bilder, die dabei entstehen, legen bewusst den Fokus auf das Privatleben der Soldaten. Ein Privatleben unter schwierigen Bedingungen: Die Soldaten müssen oft umziehen und sind selten länger als ein paar Jahre an einem Standort. „Heimat auf Zeit“, nennt Lila das. „Es hat mich fasziniert, dass man sich so einen kleinen Staat aufbaut, der komplett amerikanisch ist und man dort autark von Bayern lebt“, sagt Lila. Der 51. Staat eben: Die Kinder der Soldaten lernen nach amerikanischem Schulsystem, eingekauft wird in riesigen Supermärkten. Amerikanische Ignoranz? Nicht wirklich, das weiß Lila inzwischen. Wer dauernd umzieht, für den ist Heimat umso wichtiger. Manchmal ist Heimat eben das Fast-Food-Menü bei Taco Bell. 

Für ihre Abschlussarbeit hat Lila sich mit vielen Soldaten unterhalten. Bei einer Familie konnte sie sogar an Thanksgiving sein – einem der wichtigsten Feiertage für die Amerikaner, den viele nur im engen Kreis ihrer Familie verbringen. Daraus entstanden ist ein freundschaftlicher Austausch zwischen den verschiedenen Lebenswelten. „Die Amerikaner, die ich getroffen habe, sind sehr interessiert an unserer Kultur“, sagt Lila. „Die suchen ja auch ihre Wurzeln in Europa.“ Wurzeln suchen. Keine einfache Sache für jemanden, der dauernd umzieht. Die Soldatenfamilie, die Lila fotografisch begleitet hat, verreist viel, will Europa entdecken. Auf dem Reiseplan: unter anderem das Konzentrationslager Auschwitz. Es ist diese Ambivalenz zwischen eigener und fremder Kultur im Leben der Soldaten, der Lila mit ihren Bildern gerecht werden will. 

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Die politische Dimension der Stationierung spart die junge Fotografin in ihren Bildern bewusst aus. Dabei geraten gerade amerikanische Militärbasen in Deutschland immer wieder in die Kritik der Öffentlichkeit. So zum Beispiel der Air-Force-Stützpunkt in Ramstein, Rheinland-Pfalz: In Ramstein werden Daten amerikanischer Drohneneinsätze analysiert und in die USA weitergeleitet. Drohneneinsätze, die in Ländern wie dem Jemen oder Afghanistan Menschen töten. Verständlich, dass US-Soldaten in Deutschland kritisch gesehen werden. Der 51. Staat, den Lila mit der Kamera einfängt, ist mit seinen Zäunen und Passkontrollen also auch Schutzraum für die Soldaten. Denn die verschwinden in der Öffentlichkeit schnell hinter Klischees: Blinder Patriotismus, amerikanische Machtfantasien. Lila weiß, dass viel mehr dahinter steckt. Da gibt es zum Beispiel den jungen Soldaten ohne Highschool-Abschluss, den sie fotografiert hat. Seine Eltern haben in einer Wohnwagensiedlung gelebt, er selbst war in einer Drogengang. Die Army ist für ihn eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs.

Lila war übrigens – zu ihrer eigenen Sicherheit – nie allein unterwegs: Eine professionelle Kamera wirkt irgendwie verdächtig auf einem Militärgelände. Lila, eine Spionin? Ja, eine Kulturspionin.

Carolina Heberling

Fotos: Lila Hartig, mehr Bilder unter: http://lilaheart.com/ und unter: https://www.facebook.com/51stStateLilaHartig

Die Geschichtensammlerin

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Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs konnten 10 000 jüdische Kinder fluchtartig NS-Deutschland verlassen. Lilly Maier, 22, hat Zeitzeugen über ihr Leben nach den Kindertransporten befragt – und reiste dafür durch die USA

Lilly Maier, 22, hat diesen Moment noch gut vor Augen. Sie studiert heute an der LMU in München (Foto: Catherina Hess). Damals war sie zehn Jahre alt und lebte in Wien, als ein weißhaariger Mann an ihre Haustür klopfte: Arthur Kern. Der 70-Jährige mit Hornbrille und Poloshirt hatte eine sonderbare Bitte – er wollte ihre Altbauwohnung sehen. Dort hatte er gelebt, bis die Nationalsozialisten kamen, bis Wien für Juden brandgefährlich wurde, bis die Familie den damals Zehnjährigen wegschickte, ins rettende Frankreich, dann in die USA. Seine Eltern und der große Bruder kamen ins Ghetto, er hat sie nie wieder gesehen. Mehr als ein halbes Jahrhundert war das her. Doch die Wohnung, die stand immer noch. Nur um sie zu sehen, war Kern aus Kalifornien angereist.

Die Maiers ließen den betagten Juden hinein. Von diesem Moment an war die Geschichte Kerns auch ein Teil von Lillys Leben. „Ich bin damals mit zehn Jahren ins Archiv gegangen“, erzählt die Studentin. Sie half Kern beim Suchen von Meldezetteln. Um mehr über den Nationalsozialismus herauszufinden, nahm Lilly an einem Geschichtsprojekt teil: Bei einer Gedenkfeier ließen Schüler 80 000 weiße Luftballons in den Himmel steigen – einen für jedes österreichische Opfer der Nationalsozialisten.

Lilly hat mittlerweile einen Bachelor-Abschluss in Geschichte in der Tasche. Für ihre Abschlussarbeit bekam die junge Frau den LMU-Forscherpreis für exzellente Studierende. Die Studentin redet schnell und gestikuliert viel, während sie spricht. Sie erzählt, wie sie den Preis auch Arthur zu verdanken hat. Ihn und zwölf andere Juden hat sie über die Zeit nach der Flucht aus Deutschland und Österreich interviewt. Dafür ist Lilly zwei Monate quer durch die USA gereist – von Washington bis an die Westküste, durch fünf Städte.

Interviews waren für Lilly eigentlich nichts Neues: In ihrem Auslandssemester in Washington studierte sie Journalismus, telefonierte gelegentlich mit Pressesprechern im Weißen Haus. Doch die Suche nach Zeitzeugen fing mühsam an. Von der „Kinder Transport Association“, einer Zeitzeugen-Organisation, bekam sie eine Namensliste von Menschen, die damals auf einem Kindertransport gewesen waren – und telefonierte sich durch. Bei den ersten sieben Anrufen hatte sie keinen Erfolg. Viele der Überlebenden waren schon sehr alt, eine Anwältin hatte Bedenken: Was, wenn in der deutschen Arbeit etwas Antisemitisches stand? An diesem Punkt kam wieder Arthur Kern ins Spiel, der damals an ihre Tür geklopft hatte. Um Lilly zu helfen, riefen er und andere Überlebende die Zweifler an. „Die kennen mich, seit ich zehn bin, und haben den anderen gesagt: Lilly schreibt sicher nichts Böses.“

Den achten Namen auf ihrer Liste musste Lilly nicht durchstreichen, hier wurde ihre Anfrage akzeptiert. Eine gebrechliche Jüdin namens Esther lud sie zu sich nach Hause ein. Auf dem Wohnzimmersofa ließ sich Lilly vergilbte Fotos zeigen und stellte vor laufendem Aufnahmegerät Fragen – oft bis zu vier Stunden lang. Die Gesprächspartner erzählten ihre Geschichte, die häufig nicht einmal die eigenen Kinder kannten. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es für Betroffene einfacher ist, so etwas jemandem Fremden zu erzählen“, erklärt Lilly. „Ich selbst weiß mehr über die Lebensgeschichte dieser Menschen als über die Kriegserlebnisse meiner Großeltern.“

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Die Überlebenden, die auf Kindertransporten nach Großbritannien gelangten (Foto: Bundesarchiv), erzählen ihre Geschichten erst seit den Neunzigerjahren. „Das hat auch damit zu tun, dass es früher Hierarchievorstellungen unter den Opfern gab“, erklärt Lilly. „Nur wer im KZ gewesen war, galt als echter Holocaust-Überlebender. Den anderen wurde vorgeworfen, sie hätten ja nichts Schlimmes erlebt.“ Dabei haben auch viele, die Vernichtungsofen und Appellplatz nie gesehen haben, Traumatisches mitgemacht. Als Großbritannien, teilweise auch Frankreich 1938/39 die Grenzen für jüdische Kinder öffnete, konnten 10 000 Kinder NS-Deutschland rechtzeitig verlassen – mit wenig mehr als einem Koffer und einem Schild um den Hals. Ihre Eltern mussten sie zurücklassen. Besonders kleine Kinder glaubten, sie würden zur Strafe weggeschickt. Entwurzelt, manchmal von den Geschwistern getrennt, brachte man sie in oft christlichen Pflegefamilien unter. Die waren häufig liebevoll, manchen ging es aber nur ums Geld. Viele Kinder emigrierten daraufhin in die USA, litten lange unter Schuldgefühlen, überlebt zu haben.

So berührend die Geschichten auch waren: Kritisch geblieben ist Lilly trotzdem. „Wenn jemand beim Transport drei Jahre alt war und mir dann genau den Bahnhof beschreibt, glaube ich ihm das nicht“, sagt sie und rückt ihre randlose Brille zurecht. Obwohl die meisten Zeitzeugen Deutsch konnten, sprachen sie mit Lilly Englisch. Aber immer wieder schlichen sich deutsche Begriffe ein. Die bis zu 90-Jährigen, die früher auf einem Kindertransport waren, bezeichnen sich auch heute noch als „Kinder“. „Es ist wirklich eine Identität geworden“, sagt Lilly.

Die Zeitzeugen sind eng miteinander vernetzt, oft befreundet, treffen sich regelmäßig für Gedenkfeiern. Kaum hatte Lilly das erste Interview geführt, bekam sie neue Kontakte. Dabei half auch ihr Alter: „Viele der Überlebenden reden nicht mit gleichaltrigen Menschen aus Österreich oder Deutschland, weil sie immer Angst haben, das seien Nazis.“ In Überlebenden-Kreisen fand man es bald bemerkenswert, dass sich jemand, der selbst nicht jüdisch war, für das Thema interessierte: „Bist du Arthurs Lilly? Du musst unbedingt meine Bekannte treffen!“ Am Ende hatte sie mehr Interviews geführt, als sie eigentlich wollte. „Ich konnte da einfach nicht Nein sagen.“

Wohl auch deshalb, weil Freundschaften mit den Überlebenden entstanden. Nach den Interviews gingen sie häufig gemeinsam essen. „Dann wurde ich ausgefragt!“ Damit Lilly Weihnachten in New York nicht allein verbringen musste, stellten neun 80- und 90-jährige Juden ihr die Christmas-Party auf die Beine, die sie selbst gar nicht feierten – mit Plätzchen und Stiefeln voller Schokolade.

Wieder zurück in München, schrieb Lilly ihre Ergebnisse nieder. Herausgekommen ist eine „spannend zu lesende, gut geschriebene und innovative Arbeit“, befand die Betreuerin Mirjam Zadoff. Dass Lilly den mit 1000 Euro dotierten LMU-Forscherpreis gewonnen hat, darüber freuen sich manche Überlebende mehr als sie selbst. „Einer hat geschrieben, es bedeute ihm viel, dass München, die ,Hauptstadt der Bewegung‘, eine Arbeit über die Kindertransporte so würdigt.“

Deprimiert haben Lilly die Gespräche mit Zeitzeugen nicht, erzählen sie doch trotz Traumata eine der wenigen positiven Geschichten über den Holocaust. Viele dieser Kinder wurden später überdurchschnittlich erfolgreich. „Es gibt dieses psychologische Phänomen, dass man zum Workaholic wird, wenn man ein großes Trauma erlebt“, sagt Lilly. Eine Studie aus Harvard belegt: Die Kindertransport-Kinder verdienten als Erwachsene besser, wurden häufiger Ärzte oder Anwälte, hatten eine höhere Wahrscheinlichkeit, einen Nobelpreis zu gewinnen. Aus dem damals zehnjährigen Arthur, der von seinen Eltern getrennt wurde, ist ein erfolgreicher Raketentechniker mit drei Söhnen geworden. „Er ist ein total glücklicher Mensch, der Frieden mit dem Ganzen geschlossen hat“, sagt Lilly, zögert kurz und sagt dann: „Es hat etwas von einem Happy End.“ Und wenn Lilly nächstes Semester für ihr Masterstudium wieder in die USA fliegt, wird diesmal sie es sein, die an Arthur Kerns Haustür klopft.

Elsbeth Föger