Fremdgänger: Nervös wie vor dem ersten Date

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Dass unter Studenten hin und wieder gelästert und getratscht wird, das dürfte jedem bekannt sein. In Oxford sind es aber nicht die Kommilitonen, sondern die Dozenten, die oftmals zum Mittelpunkt des Gespräches werden.

Mein Herz hämmert. Ich atme tief durch. Dann klopfe ich an die Bürotür meines Supervisors. Er winkt mich herein. Jedesmal wieder, denke ich mir, und ärgere mich. Jedesmal wieder, wenn ich mich mit dem Betreuer meiner Master-Arbeit treffe, bin ich so nervös wie vor einem ersten Date. Diese Analogie ist nicht einmal so weit hergeholt, denn 98 Prozent meines Studienganges, der zu 98 Prozent aus jungen Frauen besteht, ist seit dem ersten Vorlesungstag verliebt in den schlaksigen Anthropologen, der tagein tagaus erstaunlich enge schwarze Jeans und eine Hipster-Brille trägt.

Niemand von uns hätte erwartet, dass es so sexy sein kann, über Foucault zu sprechen. Aber bei jeder sozialkonstruktivistischen Erklärung aus seinem Mund höre ich einen innerlichen Seufzer durch die Reihen der Kommilitoninnen gehen. Und bei jedem gemeinsamen Abendessen mit meinen Freundinnen endet das Gespräch bei unseren Professoren. Nicht nur bei dem für Anthropologie, sondern auch bei unserem Politik-Professor, der jeden seiner Abschlüsse mit dem „highest grade point average in history of the degree“ abgeschlossen, seine Doktorarbeit in 18 Monaten geschrieben und in den letzten sechs Monaten drei Bücher veröffentlich hat, während er nebenbei an Wochenenden Marathon läuft. Ebenso wie bei unserem Ethik-Professor, dessen Handouts gespickt mit Rechtschreibfehlern sind, und nicht zuletzt unserer Jura-Professorin, die schwanger war und jetzt mit Sicherheit Mutter des süßesten kleinen Wesens in Oxford ist.

In anderen Worten: Wir sind besessen von unseren Professoren und unserer Bewunderung für sie. Wir brainstormen, wie viele Kinder sie haben und ob ihre Partner ebenso brillant sind, wir suchen ihre Facebook-Profile, überlegen, wie viel Schlaf sie brauchen und ob sie auf persönlicher Ebene miteinander auskommen. Jede intime Information, die wir irgendwie ausfindig machen, wird gefeiert, weitergesponnen und dann in unsere Schwarmintelligenz integriert, sodass wir nach kürzester Zeit eine Art Geheimsprache voller Insider-Witze und Anspielungen ausgearbeitet haben, unzugänglich für Nicht-Mitglieder unseres Studiengangs.

Mit Sicherheit ist diese Obsession bedingt durch die überschaubare Kursgröße und unseren sozialen Zusammenhalt, über den sich auch besagte Professoren immer wieder wundern und freuen. Womöglich spielt sich in kleinen Studiengängen in Deutschland Ähnliches ab, die Erfahrung während meines Bachelors in München war jedoch anders. Ich erinnere mich nicht, jemals mit Kommilitonen über das Privatleben unserer Dozenten spekuliert zu haben. Abgesehen vielleicht von der ein oder anderen Anekdote, kommt mir das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden in München im Vergleich zu dem in Oxford ein wenig professioneller, vielleicht sogar typisch deutsch vor. Man hält sich höflich zurück und erlaubt sich nicht einmal heimlich darüber nachzudenken, dass eine „öffentliche Person“ wie ein Professor auch eine „private Person“ – Vater, Mutter, Partner oder Marathonläufer – ist.

Wobei: Ich persönlich verspürte schon immer beinahe übertriebene Ehrfurcht vor Menschen mit Doktortitel und Lehrauftrag. Deshalb raste mein Herz auch vor Besprechungen mit meinen Lieblingsprofessoren in München wie vor einem ersten Date. Jedesmal, wenn ich das Büro des Betreuers meiner Bachelorarbeit in der Schellingstraße verließ, ging ich das Treffen noch einmal in Gedanken durch und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Rückblickend bin ich froh, dass ich in diesen Situationen nicht auch noch die Erinnerung an spätabendliche Spekulationen über sein Privatleben im Kopf haben musste. 

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat

Neuland: Ella Josaline

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Neue Stadt, neues Glück. Die junge Musikerin Ella Josaline zieht es nach Berlin, weit weg von ihrer Heimatstadt München. Dort will sie nach neuer Inspiration für ihre Songs suchen.

Ella Josaline will weg. Weg aus München und weg von dem „Mädchen-mit-Gitarre- Image“, in dem sie sich sieht, seit sie 2015, gerade mal 16 Jahre alt, das Stadt-Land-Rock- Festival der Junge-Leute-Seite der SZ verzauberte. Musikalisch weiß die junge Frau zwar noch nicht genau, wo es hingehen soll, aber der Ort, an dem dieser „Findungsprozess“ stattfinden soll, ist Berlin. Dort lebt Ella seit einer Woche, da die Hauptstadt „immer schon eine Inspiration war“ und sie immer schon das Gefühl hatte, „da hinzugehören“. Während Ella vorhat, ihr Abitur an einer Fernschule abzulegen, will sie in der Hauptstadt Konzerte und kreative Veranstaltungen besuchen und herausfinden, was da noch so alles in ihr steckt an Kunst und Musik.

München ist für Ella zwar „Heimat“, allerdings fühlte es sich nie an wie „zu Hause“. Dennoch ist sie „total dankbar“, ihre musikalische Karriere dort gestartet zu haben. Und sie würde es auch jederzeit wieder so machen.

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Calvin Hayward

Fremdgänger: Der Prinz und mein Pyjama

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In Oxford kann es schon mal vorkommen, dass Prinz Charles dem neuen College-Café einen Besuch abstattet. Unsere Autorin zeigt sich jedoch, im Gegensatz zu ihren aufgescheuchten Kommilitonen, unbeeindruckt vom großen Hype.

Ich bin ein Stubenhocker. Und ein Stalker. Mein College-Zimmer befindet sich im Erdgeschoss, weitab von Türen-schlagenden Mitbewohnern und nächtlichen Küchenpartys. Und die einzige Ruhestörung, der ich regelmäßig ausgesetzt bin, ist das Rattern der Waschmaschine im Zimmer über meinem Bett. Ich mag die Stille und die Tatsache, dass ich in meinem Zimmer im Pyjama am Schreibtisch sitzen und meinen Masterarbeit-Rhythmus abseits fremder Augen gestalten kann. In Bibliotheken gehe ich schon lange nicht mehr. Die sind in Oxford zwar atemberaubend schön, jedoch unruhig und überfüllt.

Neuerdings lässt mein Fenster zudem uneingeschränkte Blicke in das kürzlich eröffnete College-Café – den Hub – zu, weshalb ich mich in Momenten abschweifender Gedanken in der Position des heimlichen Beobachters wiederfinde. Natürlich, es könnte als voyeuristisch ausgelegt werden, zu wissen, wer wann Kaffee trinken geht und wer mit wem am Tisch sitzt. Allerdings manifestiert sich in diesem Raum zwischen meinem Zimmer und dem Hub auch die märchenhafte Absurdität des Lebens in Oxford.

Meine Pyjamahose ist grau mit kleinen schwarzen Herzen. Eigentlich denke ich über Postkolonialismus und Solidarität nach, als ich bemerke, dass Jasmine, eine meiner besten Freundinnen, am Fenster des Hubs sitzt. Den ganzen Vormittag über ist mir schon überdurchschnittliche Geschäftigkeit aufgefallen – von Besuchern bis hin zu Küchenpersonal, das fieberhaft Tassen von einem Ende zum anderen getragen hat. Ich schicke Jasmine eine Whatsapp-Nachricht. Die Antwort erfolgt den Bruchteil einer Sekunde später. In Großbuchstaben. „PRINCE CHARLES IS COMING! GET OVER HERE. NOW.“

Ich starre kurz auf die Herzen auf meiner Hose. Prince Charles. So etwas passiert in München nicht. Die berühmteste Person, die ich dort einmal zufällig gesehen habe, war Jürgen Vogel, oder vielleicht auch nur jemand, der so aussah wie Jürgen Vogel. Ich greife nach dem erstbesten gesellschaftsfähigen Outfit und haste zum Hub. Jasmine umklammert ihr Handy wie einen Rettungsanker und schickt ihrer Mutter in Kanada minütliche Updates. Als dann der britische Thronfolger den Raum betritt, beginnt ein regelrechtes Snapchat-Gewitter.

His Royal Highness bekommt eine Tasse Earl Grey eingeschenkt, dann werden ihm die wichtigsten Personen vorgestellt. Der Anlass des Besuchs ist das Gebäude, in dem wir uns befinden, da es sich um das erste Passivhaus in Oxford handelt, mein College ein Vorreiter im Gebiet des energiefreundlichen Wirtschaftens ist und Prince Charles sich gerne als Umweltfreund präsentiert. Er spricht mit einigen Studierenden, erkundigt sich, wie Oxford gefällt. Nachdem Jasmine ihm die Hand geschüttelt hat, sieht sie mich an und formt mit dem Mund die Worte „OH MY GOD“.

Ich frage mich, warum ich mein Handy nicht wie einen Rettungsanker umklammere, sondern lediglich mit leicht amüsiertem Interesse sowohl die Aufregung meines Umfeldes als auch die erstaunlich großen Hände des potenziellen Königs betrachte. Vielleicht stumpft Oxford mich ab. Vielleicht habe ich mich schon zu sehr daran gewöhnt, dass es hier möglich ist, Berühmtheiten wie einem waschechten Prinzen oder auch Bernie Sanders die Hand zu schütteln – unter Umständen sogar im Pyjama. Vielleicht ist es aber auch das Bewusstsein, dass die Tatsache, dass ich sie treffen durfte, zwar mit Sicherheit eine gute Geschichte abgeben wird, aber nichts daran ändert, dass ich eine halbe Stunde später wieder im Pyjama an meiner Masterarbeit schreiben werde.

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat

Fremdgänger: Teure Exzesse

Der Wahnsinn von Oxford zeigt sich für unsere Autorin diesmal anhand der alljährlich abgehaltenen Bälle: Alle Organisatoren wollen mit noch mehr Show das Vorjahr in den Schatten stellen. Eine Karte kostet dann auch mal eben 200 Pfund.

Die Ahnen starren uns von ihren Leinwänden aus an. Mit einer Mischung aus Entsetzen und Resignation, möchte man im Schein der Discokugel meinen. Im Speisesaal des Harris Manchester Colleges hüpfen in Abendkleider und Smokings gewandete Studierende zu Abba auf und ab. Der Alkoholpegel ist mittlerweile so hoch, dass niemand zu bemerken scheint, dass der auf der Orgel-Empore positionierte DJ mit „Give me a man after midnight“ zum dritten Mal innerhalb einer Stunde den gleichen Song spielt. Abgesehen von der Möglichkeit, dass dies der schlechteste DJ der Welt sein könnte, lässt sich meine erste Ball-Erfahrung in Oxford jedoch durchaus sehen – eine Tatsache wiederum, die vor allem mich selbst überrascht.

So gut wie jedes der 38 Colleges rühmt sich mit einem solchen alljährlichen Großereignis, wobei natürlich jedes neue Ball-Komitee alles Vorhergegangene in den Schatten zu stellen versucht. Deshalb befindet Oxford sich, was Bälle angeht, in einer kontinuierlichen Aufwärtsschleife aus Bemühen und Größenwahn. Man munkelt, vor einigen Jahren habe Coldplay auf einem der Bälle gespielt – die Latte liegt also hoch. Dieses Beispiel lässt allerdings auch vermuten, dass großes Vergnügen teuer ist. Unter 70 Pfund kommt niemand auf einen Ball. Der Durchschnitt bei den „angeseheneren“, älteren Colleges liegt eher bei 150 bis 200 Pfund. Wie viele Bälle kann man sich da schon leisten? Meine studentische Sparsamkeit verbündete sich noch dazu mit einer gewissen feministischen Frustration angesichts der Beobachtung, dass auf einmal überdurchschnittlich viele Mädchen um mich herum in regelmäßigen Abständen von Abendkleidern, Frisuren, Make-up und potenziellen Dates zu sprechen begannen, während meine männlichen Freunde debattierten, ob es sich für einen oder maximal zwei Abende lohnen würde, ein White-Tie-Outfit (70 Pfund) zu kaufen. Gender-Diskurs hin oder her, „the Oxford experience“ stellte sich einmal mehr als Totschlagargument heraus. Ich rechtfertigte meine Entscheidung, wenigstens zu einem der billigsten Bälle (50 Pfund) zu gehen, damit, dass mein Abiball-Kleid unbedingt noch einmal getragen werden wollte.

Als ich dann jedoch, nach Hüpfburg, Foto-Boot, Süßigkeiten-Brunnen, fünf unglaublich guten Bands, exquisitem Büffet, Pimms, Wodka-Shots und Zaubershow zum dritten Mal Abba höre und meine ursprünglich sorgfältig gelockten Haare nur noch in losen Strähnen in meinem schwitzigen Nacken kleben, denke ich mir, dass die Situation vielleicht gar nicht so übertrieben ist, wie ich sie mir ausgemalt habe. Auch in München zahlen meine Kommilitonen Hunderte von Euros, um auf Festivals zu tanzen, zu trinken, zu flirten und dem Universitätsalltag für kurze Zeit zu entkommen. Auch wenn sich zu Hause niemand erst in einen Smoking oder ein Abendkleid zwängt, haben wir in diesen Outfits ebenso viel Spaß, sind teilweise ebenso betrunken und freuen uns ebenso wie Münchner Studenten, dass es Freitag ist. Dass wir viel Geld dafür gezahlt haben, einen Abend lang vergessen zu dürfen, dass nach dem Wochenende ein Montag auf uns wartet, an dem wir wieder vor unseren Büchern und Computern, Hausarbeiten und Prüfungsvorbereitungen sitzen. Insofern sollte das Entsetzen auf den Gesichtern der gemalten College-Ahnen angesichts des feucht-fröhlichen Exzesses in ihren ehrwürdigen Speisesälen nicht allzu groß sein, denn auch sie werden hin und wieder gefeiert haben – möglicherweise sogar noch sehr viel exzessiver und exzentrischer als wir.


Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat

Fremdgänger: Wo ist zu Hause, Mama?

Unsere Autorin sinniert darüber, wie sich ihr Verhältnis zu “zu Hause” in den letzten Monaten auf ihrem Auslandsaufenthalt in Oxford verändert hat. Und merkt, dass das Ganze ziemlich kompliziert ist.

Da ist Staub. Unter dem Schreibtisch in meinem Zimmer zu Hause in München, am östlichen Ende der S4. Ich liege auf meiner Yogamatte und strecke die Füße Richtung Zimmerdecke in eine Kerze. Ich atme tief durch. Nicht nur, weil man das so macht beim Yoga, sondern auch, weil ein Teil von mir gerne aufspringen und den Staubsauger aus der Abstellkammer holen würde.

Ich befinde mich auf kurzem Heimaturlaub. Eine Woche ist jedoch nicht lang genug und mein Programm zu voll, um den Staubsauger auspacken zu können. Ich denke darüber nach, was es eigentlich heißt, nur kurz auf Heimaturlaub zu sein und Häuslichkeit hintenan zu stellen. Ich habe nur das Nötigste an Kleidung in einen Rucksack gestopft, ich wasche kein einziges Mal Wäsche und ich muss mir eine neue Zahnbürste kaufen, weil im Bad keine mehr für mich vorgesehen ist. Spätestens als ich merke, dass ich mich schon wieder auf England freue, verwandelt sich das Bewusstsein, dass „zu Hause“ eben nicht mehr wirklich „zu Hause“ ist, in einen leichten ziehenden Schmerz, irgendwo zwischen meinem Blinddarm und meinem Magen.

Dieses Gefühl ist keineswegs ausschließlich mit einem Auslandsstudium verbunden, klar. Alle meine Freunde, die nach dem Abitur von „zu Hause“ weggezogen sind, haben diese Erfahrung schon vor Jahren gemacht. Nur weil ich immer wieder „zu Hause“ gelebt habe zwischen den unterschiedlichsten Auslandsaufenthalten, ist es für mich nach wie vor ein überraschender und sehr viel langsamerer Ablösungsprozess.

Oft betone ich, wie gern ich zu Hause gelebt habe, wie dankbar ich während meiner Studienzeit in München für die Tatsache war, dass ich am Abend in den Zug steigen und zu meinem Pferd, meiner Schwester und meinem ruhigen Zimmer kommen konnte. Zum ersten Mal spüre ich, dass sich das verändert hat. Nicht nur ist meine Schwester mittlerweile ebenfalls ausgezogen und mein Pferd zu alt, um geritten zu werden: Auch „ich“ zu sein, fühlt sich anders an, als ich den Rucksack dieses Mal „zu Hause“ in unserer Diele abstelle. Die überproportionale Verwendung von Anführungszeichen ist nur der semantische Ausdruck der Realisierung, dass wir irgendwann alle erwachsen werden und unsere Kinderzimmer zu klein und zu sehr mit einer Kindheit verbunden sind, in die wir nicht mehr zurückkehren können. Egal, wie verlockend sich eine solch nostalgische Rückkehr anfühlen mag in Momenten, in denen das Erwachsenenleben zu anstrengend wird. In meinem Fall, vor allen Dingen dann, wenn es mir zu viel wird, an einer fremden Universität in einem fremden Land, in einer fremden Sprache etwas über fremde Dinge zu lernen. Heimweh ist dennoch eine Rarität geworden und schon jetzt tut der Gedanke, in ein paar Monaten mein Zimmer in Oxford für immer von meiner Persönlichkeit befreien zu müssen, ebenso weh wie das Bewusstwerden, dass „zu Hause“ nach diesem Jahr auch nicht mehr „zu Hause“ sein wird, egal, wie oft ich dann Zeit haben werde, Staub zu wischen.

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat

Zombie in Jogginghosen

Wenn sogar Marielena, die griechische Eleganz in Person und Kommilitonin unserer Autorin, im Schlabberlook in die Uni kommt, kann das nur eines bedeuten: es ist Prüfungszeit in Oxford, und die Studenten nehmen langsam zombieähnliche Zustände an.

Langsam verwandle ich mich in einen Zombie. Morgens krieche ich aus meinem Bett, viel zu früh, viel zu unausgeruht, wenn es nach meinem Körper gehen würde. An wirklich engagierten Tagen schaffe ich es, meine Schlafanzughose gegen eine Jogginghose einzutauschen. Make-up, gezupfte Augenbrauen oder gefeilte Fingernägel – brauche ich nicht. Im Moment sind alle Schalter auf Überleben gestellt, auf „Bulimie-Lernen“, wie eine meiner Freundinnen in München es einmal nannte. Die Prüfungen rücken unaufhaltsam näher und ich bin gefangen in einem paradoxen Interessenkonflikt. Auf der einen Seite will ich nichts sehnlicher, als dass der erste Prüfungstag endlich da ist. Ich will endlich nicht mehr jeden Tag aufstehen müssen, wissend, dass da ein unbezwingbarer Berg an akademischer Literatur auf mich wartet, dessen Steilhänge womöglich immer mit Fragezeichen gespickt bleiben werden. Ich will nicht mehr wie ein Zombie in Jogginghosen mit mir selbst debattieren müssen, ob ich es mir leisten kann, einen Spaziergang zu machen, zu duschen oder ein anständiges Abendessen zu kochen, weil ich dadurch wertvolle Lernzeit vergeuden würde.

Auf der anderen Seite sind gerade diese Fragezeichen das, was mich mindestens einmal am Tag panisch meine Atemzüge zählen lässt, weil ich merke, dass ich niemals alles lesen und lernen und verstehen und verinnerlichen werde können, was möglicherweise für ein Bestehen der Prüfungen hilfreich sein könnte.

Manchmal ist es tröstlich, dass es uns allen gleich geht. Ich sehe andere Zombie-Gestalten an meinem Fenster vorbeiwandeln auf dem Weg zur Bibliothek. Sogar Marielena, normalerweise die griechische Eleganz in Person, trägt einen dunkelblauen Jogginganzug, Turnschuhe und ihre Haare fallen in wilden Locken über ihre Schultern, Theas Augenringe werden bedenklich dunkel und das Licht im Zimmer meiner Mitbewohnerin scheint immer an zu sein, egal, zu welcher Uhrzeit es mich in der Nacht auf die Toilette treibt. Manchmal ist es aber auch sehr verunsichernd, dass jeder eine andere Lernstrategie verfolgt. Die Facebook-Gruppe meines Kurses läuft heiß, nicht nur mit Fragen, sondern auch mit spätabendlichen Fotos aus Bibliotheken, die ich meide. Auch wenn ich nicht dankbarer für die Unterstützung und den Zusammenhalt meines Kurses sein könnte, wünschte ich mir, es wären ein paar entspanntere, vom Lernstress unberührtere Persönlichkeiten unter uns.

Ich weiß, auch in München stellen Prüfungen und die Phase davor einen Stressfaktor dar. Auch hier verwandeln sich Studenten in Zombies, wenn das Semesterende näher rückt. Aber wieder einmal habe ich das Gefühl, in Oxford ist alles ein bisschen intensiver, alles ein bisschen gewichtiger als in Deutschland. Weil es in Oxford so schwer ist, aus dem Universitätskosmos auszubrechen, weil es letztlich keine Trennung zwischen „zu Hause“ und „Uni“ gibt, ist es leicht, 15 Stunden am Tag fieberhaft Papers zu lesen und Karteikarten zu beschriften. Während es gleichzeitig quasi unmöglich ist, ein Gespräch zu führen, bei dem es nicht früher oder später (meistens früher) um die anstehenden Prüfungen und den Lernstoff geht. Deshalb ist es womöglich gut, dass ein Ende des Zombie-Zustands absehbar ist, egal, ob wir alle Papers gelesen und alle Karteikarten beschriftet haben oder nicht.

Manchmal, in lichten Momenten, schaffe ich es dann aber sogar, die zwei Seiten des Paradoxes zu vereinen. Wenn ich merke, wie viel ich tatsächlich schon gelernt habe, wie viel weiter mein Horizont ist im Vergleich zu Beginn des Kurses, wird mir bewusst, dass ich tatsächlich nicht ausschließlich für die Prüfungen lerne, sondern für mich und vielleicht sogar für die Welt.

Text:
Theresa Parstorfer

Foto: Privat

Fremdgänger: Hochstapler an Elite-Unis

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Oxford, die Heimat des „Hochstapler-Syndroms“: Unsere Autorin hat das Gefühl, ihre Mitstudenten in Oxford machen sich mit noch mehr Zweifeln Gedanken über die Zukunft, als es die Studenten in München tun.

Ganz bestimmt werden wir alle arbeitslos sein. Obwohl wir einen Abschluss in Oxford gemacht haben. Ich warte gerade auf zwei Kommilitonen im Eingangsbereich meiner Fakultät, als ich ein wenig ungewollt das Gespräch einer Gruppe von Studierenden mit anhöre. Es geht um Stellenausschreibungen bei Internationalen Organisationen, NGOs, den Vereinten Nationen und der EU. „Ich stelle gerade fest, dass ich hoffnungslos unterqualifiziert bin für all diese Dinge“, sagt eine der Studentinnen und seufzt. Zustimmendes Gemurmel. Es folgt das notorische Googlen berühmter, erfolgreicher Weltenretter und deren Lebensläufe. So gut wie die werden wir niemals, so weit der allgemeine Konsens.

Recht schnell habe ich herausgefunden, dass Oxford die Heimat des „Imposter-Syndroms“, des „Hochstapler-Syndroms“ ist. Ein nicht geringer Anteil der Leute hier denkt, er sei zuallererst nicht gut genug, um überhaupt einen Platz an dieser Uni verdient zu haben. In einem zweiten, logischen Schritt sind wir davon überzeugt, „hoffnungslos unterqualifiziert“ zu sein für jeden potenziellen Beruf, den wir gerne ausüben würden, wenn wir das Studium abgeschlossen haben werden. Besonders dringlich werden diese Sorgen jetzt, da das zweite Trimester vorbei ist und die meisten Studierenden in einjährigen Masterprogrammen beginnen, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Hilfreich ist es dabei, dass unsere Oxford-Postfächer täglich von E-Mails überflutet werden – mit Einladungen zu Karriere-Messen, Jobangeboten und offiziellen Servicestellen der Universität, die bei der Erstellung eines professionellen Lebenslaufs unter die Arme greifen wollen.

Gedanken über die Zukunft machen sich Studenten in München genauso. Zweifel sind auch dort involviert. Zweifel, Abwägungen und Entscheidungen. Es mag tröstlich sein zu wissen, dass Studierende überall auf der Welt von den gleichen Sorgen und Unsicherheiten geplagt zu werden scheinen. Dennoch: Manchmal wünschte ich mir, meine Freunde in Deutschland in einem Gespräch mit den Studierenden hier in Oxford zusammenzubringen. Manchmal kommen mir die Sorgen, die hier geäußert werden, realitätsfern, um nicht zu sagen aufgesetzt vor.

Mag sein, dass es immer jemanden geben wird, der „besser“ ist als man selbst, auch wenn man es nach Oxford geschafft hat. Mag sein, dass es immer eine noch beeindruckendere Ausbildung gibt, und natürlich ist Erfolg auch immer abhängig von einem jeweiligen Ziel, das angestrebt sein mag. Es kann manchmal hilfreich sein, sich in Erinnerung zu rufen, was man schon erreicht hat und welche Möglichkeiten das mit sich bringt. Und dass es Menschen gibt, die von diesen Möglichkeiten vielleicht nicht einmal träumen können. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher: Wenn meine Freunde in München wüssten, wie unterqualifiziert sich viele Leute in Oxford fühlen, würde ich zu hören bekommen: „Was wollt ihr denn noch mehr als einen Abschluss an dieser Elite-Uni?“

Wahrscheinlich würde ich entgegnen: „Wisst ihr, Oxford ist auch nur eine Uni.“ Und: Die Ausbildung, die in Deutschland ermöglicht wird, ohne sich finanziell in dem Ausmaß verschulden zu müssen, wie das in England meistens der Fall ist, ist definitiv nicht weniger relevant für unseren späteren Beruf. Niemand von uns, der auch nur ein bisschen Leidenschaft, Ausdauer und Begeisterung mitbringt, wird am Ende seines Studiums ohne Arbeit dastehen. Da bin ich mir fast sicher. Aber ein bisschen Sorgen darf man sich doch noch machen, oder?

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat 

Fremdgänger: Am Rand der Tanzfläche

Auf den Partys in München war unsere Autorin meist nicht unter den Tanzenden zu finden. In Oxford lässt sie im Angesicht des neuen Umfelds alle Hemmungen fallen und scheint sich auf der Tanzfläche

plötzlich richtig wohl zu fühlen.

Meine Feinstrumpfhose klebt an meinen Fußsohlen. Ich brauche einige Zeit, um den, wie sich herausstellt, sehr effektiven Klebstoff aus Alkohol, Dreck und Schweiß zu lösen, ohne den seidigen Stoff zu zerreißen oder das Gleichgewicht zu verlieren. Es ist kurz vor ein Uhr morgens und ich stehe auf einem Bein balancierend in meinem Zimmer. Eine horrende Zeit für alle Oxfordstudenten, die um spätestens acht Uhr morgens geduscht und angezogen den Kampf mit ihren reading lists aufnehmen wollen oder müssen. Trotzdem war ich heute auf einer Party. BOP heißen diese Partys hier. Akronym für Big Opening Party. Meistens gibt es ein Motto – alles schon da gewesen: von ABBA über Noah’s Ark bis hin zu Halloqueen (Achtung: Wortspiele immer gern gesehen). 

Heute war James Bond dran – James BOP quasi. Und ich bin der Meinung, im langen, schwarzen Abendkleid und vor allem mit Zehn-Zentimeter-Stiletto-Absätzen, mit denen es ein Leichtes gewesen wäre, jeden potenziellen Angreifer zu erdolchen, mache ich einem Bond-Girl alle Ehre. Die Absätze waren dann aber auch der Grund, warum ich nach einer Stunde Tanzen doch auf Barfuß beziehungsweise Strumpfsockig umdisponiert und nun die Konsequenzen ob dieses Übermuts zu tragen habe: verklebte und verfärbte Fußsohlen und Feinstrumpfhose. So viel getanzt zu haben, dass ich mir tatsächlich die Schuhe ausziehen musste, ist jedoch an sich schon bemerkenswert, denn der Nerd, das bin normalerweise ich. Vor allem auf Partys. 

In München war ich immer ein bisschen zu steif, immer ein bisschen zu verkrampft, immer ein bisschen zu schüchtern. Und auf jeden Fall immer ein bisschen zu nüchtern, um als wirklich „cool“ im Münchner Sinne des Wortes gelten zu können. Damit hatte ich mich dort eigentlich schon ganz gut abgefunden. Ebenso wie mit dem Gefühl, dass die Partykultur in der bayerischen Landeshauptstadt in all den Jahren ein für mich nicht wirklich zugängliches Reich geblieben ist, so gern ich auch dazugehört hätte. Tanzen gehen blieb für mich immer mit dem Anspruch verbunden, irgendwo dazuzugehören und einem bestimmten Bild entsprechen zu müssen.

Oxford stellt diese Ordnung jedoch interessanterweise auf den Kopf. Während ich mich in München im Vergleich zu all den erfahrenen Club-Tänzern stets außen vor gefühlt habe, bin ich in Oxford auf einmal die Tanzflächen-Attraktion. Mag sein, dass sich die vielen Stunden Tanzunterricht mittlerweile doch auszahlen. Oder aber, ich lasse auf einmal jegliche Hemmung fallen, angesichts all dieser klugen Menschen, die tagsüber an den Problemen der Welt knobeln, während sie in der Nacht (oder sagen wir: am Abend) eher an unbeholfene Teenager auf den ersten Jugendtreffpartys erinnern, wie sie unsicher zu Radiomusik mit dem Kopf oder dem Fuß wippen. Vielleicht ist es eine Kombination aus beidem, noch zusätzlich verstärkt durch die Tatsache, dass mich mein Körper in diesen (seltenen) Momenten, in denen ich ihm eine Auszeit von all der Lernerei gönne, daran erinnert, wie befreiend die Dunkelheit der Nacht sein kann. 

Gerade kommt mein Mitbewohner mit strahlenden Augen auf mich zugetanzt, während ich dabei bin, durchgeschwitzt und strumpfsockig, aber verdammt glücklich, zu einem alten Chartsong auf und ab zu hüpfen. „Du weißt, wie man tanzen geht“, sagt er mit überraschter Anerkennung im Blick. Insgeheim bin ich dankbar für all die Jahre in München, in denen ich Zeit hatte, mir, mit dem Kopf und dem Fuß wippend, vom Rand der Tanzfläche abzuschauen, wie man tatsächlich tanzen geht.


Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat

Fremdgänger: Alles geregelt

Sind Deutsche generell regelgehorsamer? Unsere Autorin pfeift in Oxford inzwischen wie ihre Mitstudenten auf so manche rote Ampel und entdeckt dabei feine kulturelle Unterschiede zu ihrer Heimat. 

Die Ampel springt auf Rot. Ich trete in die Pedale und sause über die rote Ampel. Zeit ist kostbar und Ampeln sind eher eine Empfehlung. Zumindest in Oxford. Zumindest für Radfahrer. Außerdem bin ich spät dran für ein Seminar und es regnet. 

Oxford und München bezüglich ihrer Verkehrslage und Infrastruktur zu vergleichen, ist Quatsch. München ist eine Millionenstadt, Oxford darf mit seinen 152 000 Einwohnern durchaus als Provinznest bezeichnet werden. Spannend zu beobachten ist jedoch, wie sich die Dimensionen dieser kleinen Stadt in meiner subjektiven Wahrnehmung von Zeit und Raum verschieben. Nachdem ich drei Jahre lang ungefähr eine Stunde für den Weg zur Uni einplanen musste, konnte ich es nach meiner Ankunft hier in Oxford einfach nicht glauben, dass ich innerhalb von nur fünf Minuten mit dem Rad zu meiner Fakultät gelangen konnte – und deshalb prinzipiell immer mindestens zehn Minuten zu früh in jeder Vorlesung saß. Jetzt, nach vier Monaten, kommen mir jedoch bisweilen sogar diese fünf Minuten zu lang vor. Jede rote Ampel kommt da irgendwie ungünstig. 

Deshalb hat sich parallel zu meiner neuen Wahrnehmung von Entfernungen auch eine gewisse Resistenz gegen Verkehrsregeln entwickelt. Denn Oxfords Verkehrssystem ist verwirrend. Ganz davon abgesehen natürlich, dass hier alle Autos auf der falschen Seite fahren (!), verästeln sich Straßen an den unwahrscheinlichsten und denkbar ungünstigsten Stellen, Ampeln funktionieren nicht oder sind so unmöglich geschaltet, dass man sich oft in der Mitte der Hauptverkehrsader befindet und nicht mehr weiterkommt, Einbahnstraßen tauchen aus dem Nichts auf, Fahrradwege führen einmal über den Fußgängerweg und dann wieder auf der Straße entlang, und von Schlaglöchern und porösem Asphalt und Wanderbaustellen will ich gar nicht anfangen.

Die ersten Male, als ich zögernd ein paar Radfahrern folgte, wie sie bei Rot skrupellos weiterfuhren, musste ich an eines meiner Ethik-Seminare in München denken. Es ging um Thomas Hobbes, den Leviathan und um die Frage, ob Gesetze in einem Staat immer befolgt werden müssen beziehungsweise ob ziviler Ungehorsam auch mal richtig sein kann. Ich erinnere mich deshalb an diese eine Stunde, weil das Beispiel von Verkehrsampeln genannt wurde. Wenn keine negativen Konsequenzen aus meiner illegalen Straßenüberquerung resultieren, ist es dann in Ordnung, das Gesetz zu brechen? Oder unterminiert das die gesamte Idee eines legitimierten Souveräns? Als ich dann einmal auf einer Party, relativ zu Beginn des Jahres in Oxford, meine Bedenken ob zivilen Ungehorsams an roten Ampeln äußerte, erntete ich einige Lacher. „You don’t have the time to wait for a traffic light – just think of all the reading you could be doing in the accumulated time over the years, that you spent waiting for the light to turn green“, wurde mir gesagt. 

Und auch wenn das auf den ersten Blick oberflächliche Überlegungen sind, so sagt es doch vielleicht mehr über feine kulturelle Unterschiede aus. Sind Münchner und Deutsche generell regelgehorsamer? Oder inwieweit sagt es etwas darüber aus, wie überlegt und vernünftig Bürger (zumindest im Straßenverkehr) miteinander umgehen können, selbst wenn sie nicht auf das offizielle grüne Licht der Ampel warten? Soweit ich weiß, passieren in Oxford nicht verhältnismäßig mehr Unfälle als anderswo.

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat

Fremdgänger: Judith Butler statt Angela Merkel

Unsere Autorin erkennt diese Woche im Ratespiel-Klassiker „Wer bin ich“ eine Verkörperung ihres Universitätslebens in Oxford.

Zehn paar Augen richten sich gespannt auf Theo. Als letzter im Raum hat er einen kleinen Notizzettel auf der Stirn kleben. Auf dem Zettel steht „Kate Winslet“. Es ist Freitagabend und mehr als die Hälfte meines Kurses drängt sich um die Kochinsel in der Küche eines meiner Kommilitonen. An den Fensterscheiben kondensiert der Dampf des frittierten Tempura-Gemüses und meine frisch gewaschenen Haare riechen nach heißem Brat-Öl. Wir spielen „Wer bin ich“, mit einer Konzentration und Hingabe, die ich mittlerweile vor allem aus unserem „Movement and Morality“-Kurs kenne, wenn wir über die normative Rechtfertigung von Nationalstaatsgrenzen diskutieren.

Auf Theos erstem Zettel stand „Shakespeare“ – das war eindeutig zu einfach gewesen: Theo schreibt und veröffentlicht gefühlt jede Woche ein neues Gedicht und hat, seit ich ihn vor knapp fünf Monaten kennengelernt habe, mindestens vier verschiedene Poesie-Preise gewonnen. Aber jetzt, bei einer der derzeit berühmtesten britischen Schauspielerinnen, scheint er zu versagen. Er hebt hilflos die Hände und meint „Guys, I don’t know this person – I swear.“ Das kann eigentlich keiner der Anwesenden glauben, denn Theo, der außerdem auch schon seinen Bachelor in Geschichte und Politik hier in Oxford absolviert hat, ist nie um eine Antwort verlegen. Doch selbst als alle Mädchen im Raum mit ausgebreiteten Armen anfangen „My Heart Will Go On“ zu singen, bleibt er ratlos.

„Wer bin ich“ war schon immer eines meiner Lieblingsspiele, weil es ein bisschen mehr über die spielenden Personen verrät, als das vielleicht den Anschein haben mag. Vielleicht ist dieser Abend gerade deswegen eine der besten Verkörperungen des Universitätslebens in Oxford, die ich bisher erlebt habe. Wenn ich zu Hause in München mit meinen Freunden „Wer bin ich“ spiele, ist der ausgefallenste, um nicht zu sagen intellektuellste Name vielleicht „Angela Merkel“ oder „Günter Jauch“. Aber die Klassiker sind „Johnny Depp“, „Pamela Anderson“ oder „Philipp Lahm“.

In der vergangenen Stunde haben meine internationalen Freunde hingegen „Friedrich Engels“, „Cecil Rhodes“, „Sigmund Freud“, und „Judith Butler“ erraten müssen – und das nicht selten auch nach kürzester Zeit geschafft. Zu Hause in München gibt es eine Trennung zwischen intellektuellem Universitätsleben und Privatleben. Meine Freunde sind nicht notwendigerweise meine Kommilitonen, niemand würde bei „Wer bin ich“ auf die Idee kommen, einen berühmten Historiker oder gar einen Professor auf die Stirn des Nachbarn zu kleben. Nicht nur läuft hier in Oxford Studium, Leben und Freundschaft ineinander, oft habe ich auch das Gefühl, dass die Leute hier viel mehr in ihren akademischen Leidenschaften aufgehen und soziale und kulturelle Vorlieben hegen, bei denen etwa meine party-freudige kleine Schwester die Augen verdrehen und gähnen würde.

Der letzte, der seine Person – „Edith Piaf“ – vor Theo erraten hat, war Francesco. Seine Augen verengten sich angestrengt, als er die Antworten auf seine Ja-Nein-Fragen aufzählte: „I am not famous for my pretty looks, nor for being a politician, an intellectual or a sportsperson – for what other reasons would one be famous?“ Ich musste schmunzeln, denn es ist beinahe erleichternd, dass es für diese Menschen, die ich in den vergangenen Monaten nicht nur unglaublich lieb gewonnen, sondern auch von Anfang an in dem ein oder anderen Moment als einschüchternd wahrgenommen habe, angesichts dessen, was sie schon erreicht haben, Wissens-Bereiche gibt, in denen sie ratlos sind. Auch wenn das „nur“ die Namen der derzeit angesagtesten Schauspieler sind.

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat