Dass unter Studenten hin und wieder gelästert und getratscht wird, das dürfte jedem bekannt sein. In Oxford sind es aber nicht die Kommilitonen, sondern die Dozenten, die oftmals zum Mittelpunkt des Gespräches werden.
Mein Herz hämmert. Ich atme tief durch. Dann klopfe ich an die Bürotür meines Supervisors. Er winkt mich herein. Jedesmal wieder, denke ich mir, und ärgere mich. Jedesmal wieder, wenn ich mich mit dem Betreuer meiner Master-Arbeit treffe, bin ich so nervös wie vor einem ersten Date. Diese Analogie ist nicht einmal so weit hergeholt, denn 98 Prozent meines Studienganges, der zu 98 Prozent aus jungen Frauen besteht, ist seit dem ersten Vorlesungstag verliebt in den schlaksigen Anthropologen, der tagein tagaus erstaunlich enge schwarze Jeans und eine Hipster-Brille trägt.
Niemand von uns hätte erwartet, dass es so sexy sein kann, über Foucault zu sprechen. Aber bei jeder sozialkonstruktivistischen Erklärung aus seinem Mund höre ich einen innerlichen Seufzer durch die Reihen der Kommilitoninnen gehen. Und bei jedem gemeinsamen Abendessen mit meinen Freundinnen endet das Gespräch bei unseren Professoren. Nicht nur bei dem für Anthropologie, sondern auch bei unserem Politik-Professor, der jeden seiner Abschlüsse mit dem „highest grade point average in history of the degree“ abgeschlossen, seine Doktorarbeit in 18 Monaten geschrieben und in den letzten sechs Monaten drei Bücher veröffentlich hat, während er nebenbei an Wochenenden Marathon läuft. Ebenso wie bei unserem Ethik-Professor, dessen Handouts gespickt mit Rechtschreibfehlern sind, und nicht zuletzt unserer Jura-Professorin, die schwanger war und jetzt mit Sicherheit Mutter des süßesten kleinen Wesens in Oxford ist.
In anderen Worten: Wir sind besessen von unseren Professoren und unserer Bewunderung für sie. Wir brainstormen, wie viele Kinder sie haben und ob ihre Partner ebenso brillant sind, wir suchen ihre Facebook-Profile, überlegen, wie viel Schlaf sie brauchen und ob sie auf persönlicher Ebene miteinander auskommen. Jede intime Information, die wir irgendwie ausfindig machen, wird gefeiert, weitergesponnen und dann in unsere Schwarmintelligenz integriert, sodass wir nach kürzester Zeit eine Art Geheimsprache voller Insider-Witze und Anspielungen ausgearbeitet haben, unzugänglich für Nicht-Mitglieder unseres Studiengangs.
Mit Sicherheit ist diese Obsession bedingt durch die überschaubare Kursgröße und unseren sozialen Zusammenhalt, über den sich auch besagte Professoren immer wieder wundern und freuen. Womöglich spielt sich in kleinen Studiengängen in Deutschland Ähnliches ab, die Erfahrung während meines Bachelors in München war jedoch anders. Ich erinnere mich nicht, jemals mit Kommilitonen über das Privatleben unserer Dozenten spekuliert zu haben. Abgesehen vielleicht von der ein oder anderen Anekdote, kommt mir das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden in München im Vergleich zu dem in Oxford ein wenig professioneller, vielleicht sogar typisch deutsch vor. Man hält sich höflich zurück und erlaubt sich nicht einmal heimlich darüber nachzudenken, dass eine „öffentliche Person“ wie ein Professor auch eine „private Person“ – Vater, Mutter, Partner oder Marathonläufer – ist.
Wobei: Ich persönlich verspürte schon immer beinahe übertriebene Ehrfurcht vor Menschen mit Doktortitel und Lehrauftrag. Deshalb raste mein Herz auch vor Besprechungen mit meinen Lieblingsprofessoren in München wie vor einem ersten Date. Jedesmal, wenn ich das Büro des Betreuers meiner Bachelorarbeit in der Schellingstraße verließ, ging ich das Treffen noch einmal in Gedanken durch und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Rückblickend bin ich froh, dass ich in diesen Situationen nicht auch noch die Erinnerung an spätabendliche Spekulationen über sein Privatleben im Kopf haben musste.
Text: Theresa Parstorfer
Foto: Privat