Fremdgänger: Großes, schweres Oxford

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Es ist nicht alles Gold was glänzt. Unsere Autorin erzählt, wie das Leben an einer Elite-Uni wie Oxford mit einer extremen psychischen Belastung einhergeht.

Leise summt die Heizung. Wenn der automatische Türöffner betätigt wird, ertönt ein schnappendes Geräusch. Im Nebenraum klappern die Tastaturen der Empfangsdamen. Wartezimmer sehen wohl überall gleich aus. Stühle, ein Wasserspender und Zeitschriften auf einem Beistelltisch. An der Pinnwand Anzeigen für Selbsthilfegruppen, kreative Therapie-Formen und Notrufnummern bei ungeplanter Schwangerschaft oder sexueller Belästigung. 

Ich spiele mit dem Reißverschluss meines Anoraks, während ich verstohlen zwei andere Menschen beobachte. Eine junge Frau mit langen, braunen Haaren und einem grauen Rucksack und einen jungen Mann mit blonden Locken, Bart und roten Turnschuhen. Dann werde ich von einer älteren Dame mit kurzem, grauem Haar, ebenfalls roten Schuhen und einer langen schwarz-weißen Strickjacke gebeten, ihr zwei Treppen hinauf in ihr Sprechzimmer zu folgen. 

In Oxford gibt es Geschichten, vielleicht mehr Gerüchte als Wahrheit, aber doch sehr aussagekräftig, darüber, dass einer der mittelalterlichen Türme des Magdalen-Colleges während der Prüfungsphasen für Studenten gesperrt wird. Runtergesprungen seien da schon Leute. Aus Verzweiflung. Die Uni-Homepage weist eine ganze Rubrik für „Counselling“ auf, unter der man sich über die Therapie-Angebote der Universität erkundigen oder auch nur Podcasts gegen Schlaflosigkeit, Schreibblockaden oder Selbstzweifel anhören kann.

Oxford ist ein großer Name. Ein großer, schwerer Name. Ein Name, hinter dem sich nicht nur Ruhm und Bedeutung und Qualität verbergen, sondern nicht selten übersteigerte Erwartungen und Ansprüche. Und Angst. 

Ich weiß nicht, wie oft ich schon gelähmt vor meinem Laptop gesessen bin, angesichts der Aufgabe, aus dem Stegreif in 1500 Wörtern meine (argumentativ begründete) Meinung zu Abschiebepraktiken in europäischen Ländern auszudrücken. Oder auch, wie oft ich weinend in einer Ecke meines Zimmers gekauert bin, aus lauter Angst davor zu versagen, die Prüfungen nicht zu bestehen, all meine Hoffnungen und Fantasien von einer Universität, von der ich geträumt habe, seit ich elf Jahre alt war, zerschmettern zu sehen, an den Klippen meiner eigenen Unfähigkeit.

Jetzt sitze ich in einem weichen, mit Samt bezogenem Ohrensessel und erzähle der freundlichen Dame mit grauem Haar, dass ich zwar nach wie vor nicht schlafen kann, dass ich aber trotzdem versuche, nicht mehr allzu sehr an die Prüfungen zu denken, sondern zu genießen, dass es Frühling wird und dass mir mein Kurs doch immer wieder Spaß macht und ich es als großartige Erfahrung empfinde, von all diesen genialen Professoren unterrichtet zu werden. Mein vierter Counselling-Termin ist das, und offenbar wird es der letzte sein, denn am Ende will die Therapeutin wissen, ob ich glaube, dass ich für den Rest des Jahres klarkommen werde. Sie betont zwar, dass ich jederzeit wiederkommen kann, wenn es wieder zu hart wird, aber das ist alles, was sie im Moment für mich tun kann. Ich nicke tapfer.

Auch in München war ich nicht selten am Zweifeln, ob ich gut genug, klug genug, fleißig genug für mein Studium war, aber ich hatte nie Angst, nicht irgendwie durch die Prüfungen zu kommen, ich bin nie weinend zusammengebrochen, ich hatte nie Angst vor dem Aufstehen und ich habe mich nie gelähmt gefühlt angesichts eines Namens und einer Tradition. Die Tatsache, dass all das in Oxford nicht unüblich zu sein scheint – warum sonst eine ganze Website, ein ganzes Gebäude, eine ganze Kohorte aus Psychologen, um Studenten psychisch wieder auf Kurs zu bringen? – lässt mich überlegen, ob es das alles wert ist.

Vielleicht ist auch genau das der richtige Gedanke, um Oxford zu „entzaubern“. Auch Oxford ist nur ein Ort, wenn auch ein besonders schöner und inspirierender, aber egal, was am Ende des Jahres als „Resultat“ dabei herauskommt, es ist es nicht wert, daran zu zerbrechen.

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat

„Das bin ich. Nur ich“

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Henny Gröblehner, 24, bisher Frontfrau der Band “pourElise”, hat ihr erstes Soloprojekt gestartet. “One Day One Room” heißt das Video, das am Montag erscheint: 24 Minuten Intimität und Natürlichkeit.

Ein Fuß in einem grauen Socken, der sich auf der untersten Strebe eines Barhockers abstützt – das ist die erste Einstellung von Henny Gröblehners neuem Musikvideo. Die ersten Töne einer Gitarre setzen ein und auch der zweite Fuß in einem grauen Socken gesellt sich dazu, bevor ein Schnitt einen erweiterten Blick auf einen lichtdurchfluteten Raum zulässt, in dem sich nur die Sängerin mit ihrer Gitarre befindet. Schon diese ersten Augenblicke setzen die Agenda für den Rest des Videos: Intimität und Natürlichkeit. „One Day One Room“ ist das erste Soloprojekt von Henny, 24, die bisher vor allem als Frontfrau ihrer Band pourElise, bestehend aus wechselnden Konstellationen mit ihrer Schwester Johanna (Gesang), einem Kontrabassisten und einem Schlagzeuger, auftrat. 

Allerdings nicht nur die Tatsache, dass sie sich jetzt nicht mehr pourElise, sondern Henny Herz nennt, auch der Inhalt und die Aufmachung selbst machen das Video zu etwas Besonderem. Die Inspiration dafür fand Henny, als sie anlässlich der Ausstellung „München am Rand“ der Junge-Leute-Seite im April 2016 im Farbenladen auftrat. „Damals habe ich ohne Verstärker und auch ohne Mikrofon gespielt, einfach so wie ich bin“, sagt sie. Eine so schöne und einzigartige, wenn auch ungewohnte Erfahrung sei das gewesen, dass es nicht nur Henny selbst, sondern auch dem Publikum sehr nahe gegangen sei. „Danach hat jemand zu mir gesagt: ,So solltest du dich einfach mal aufnehmen‘.“ 

Das hat Henny nun getan. Ohne tagelanges „Rumgeschnipsle“ an den einzelnen Songs im Nachhinein, bis sie perfekt sind, sondern einfach so, wie es passiert ist. Doch nicht nur das – denn mit der Unterstützung von Tobias Tzschaschel, Stef Zins, Peter Pazmandi und
Willy Löster

von Hauskonzerte entstand zudem ein Video.

„Die haben das total toll gefilmt und dann kam noch dazu, dass der Raum ein totaler Glücksfall war“, sagt Henny über den Videodreh zu diesem neuen Projekt. Durch Zufall war sie auf die „Wiede-Fabrik“ gestoßen, eine Ateliergemeinschaft im Münchner Osten. Für einen Tag konnte Henny das große Atelier mit Wohnküche und der langen, verstrebten Fensterfront benutzen.

„One Day One Room“ heißt das Ergebnis deshalb. Fast 24 Minuten ist das Video lang, fünf Songs spielt Henny auf der Gitarre, begleitet von ihrer sanften, gut ausgebildeten Stimme, mal auf Deutsch, mal auf Englisch, sogar auf Französisch. Mit jedem Lied ändert sich nicht nur Hennys Outfit, sondern auch die Lichtstimmung. Die Kamera scheint nicht nur mit den wechselnden Tageszeiten zu spielen, sondern ist mal ganz nah, dann wieder weiter weg, mal ganz statisch, dann wieder umkreist sie die Sängerin und ihr Instrument. Mit jedem Lied scheint der Zuschauer der Sängerin dadurch ein bisschen näher zu kommen. 

Besonders intensiv wird diese Intimität erstaunlicherweise in den kurzen Pausen zwischen den einzelnen Songs. Wenn sowohl ihr, als auch den Zuschauern bewusst wird, dass da nichts ist außer einem kurzen Schweigen. Diese Unmittelbarkeit will ausgehalten werden, sowohl von der Künstlerin als auch den Zuschauern. Das ist „Performativität“, und gleichzeitig „Authentizität“ für Henny, denn „die Kamera wird ja gewissermaßen zum Publikum“.

Zum ersten Mal in voller Länge hat Henny das Video dann im Arena Kino in München gesehen. „Erst dachte ich, ich würde rausgehen, wenn es läuft“, sagt sie. „Bin ich dann aber doch nicht“, sagt sie und lacht ein bisschen. Sie ist sich bewusst, dass 24  Minuten Video, lediglich gefüllt mit Musik und einer einzigen Person, dem Publikum eine gewisse Aufmerksamkeitsspanne abverlangt.

Auch für Amadeus Gregor Böhm, selbst seit langem Musiker in München, aber auch Chef des Plattenlabels Flowerstreet Records, ist die Länge des Videos die kritischste Frage. „Das ist ein total schönes, unglaublich gut gemachtes Video, aber die Länge ist mit Sicherheit ungewöhnlich. Das ist das Publikum nicht mehr gewöhnt“, sagt er. „Damit will ich nicht ausschließen, dass es nicht funktionieren kann.“

„Im Kino hat das unglaublich gut funktioniert“, sagt Henny. Und von diesem Montag an wird sich herausstellen, wie das Publikum auf das Video reagiert. Wer weiß, vielleicht ist gerade das lange, intime Aushalten, die kleinen stillen Momente dazwischen, eine neue Entwicklung, die es vermag, Musikvideos und die Musik, die in ihnen transportiert wird, in gewisser wieder aufzuwerten. Abseits von möglichst viel Action, Effekten und Geschichten, weil man sich Zeit dafür nehmen muss.

Am 17. März, knapp drei Wochen nach dem offiziellen Videostart, soll die dazugehörige EP „One Day One Room avec Henny Herz“ zum Download erscheinen. Die Planung dieser Veröffentlichung gestaltet sich als ungewohnte Herausforderung, Henny hält sich derzeit in Australien auf. Der Anfang einer Weltreise soll das sein. Oder zumindest einer musikalischen Entdeckungsreise im englischsprachigen Ausland. Neuseeland, vor allem aber New York und New Orleans stehen wegen der musikalischen Bedeutung noch auf der Liste. 

Ihre Sprachkenntnisse will Henny dadurch verbessern und „Inspirationen und Geschichten zu finden“. Melbourne hat es ihr dabei schon sehr angetan. „Hier ist die Kunst- und Musikszene einfach unglaublich toll und inspirierend“, sagt sie und erzählt von kleinen Gigs in Bars und Cafés, die ihr im Moment sogar bei der Finanzierung ihrer Miete helfen. 

Spätestens im Sommer jedoch wird Henny wieder zurück nach München kommen. „Da habe ich sogar schon ein paar Auftritte ausgemacht – sozusagen als Grund, um auch wirklich zurückzukommen“, sagt sie und lacht. Auch deshalb versucht sie, während ihrer Abwesenheit ihre EP und das neue Video in München zu promoten, umso mehr, da diese EP und das Video ihr erstes offizielles Soloprojekt sind. „Das bin ich. Nur ich“, sagt sie.

Text: Theresa Parstorfer

Fremdgänger: Mantra und Muffins

Wenn man als eingefleischte Münchnerin in die Welt zieht zum Studieren, erwartet einen immer der eine oder andere Kulturschock. Unsere Autorin versteht die allgegenwärtigen Klischees über die englische Küche nicht und verspeist freudig ein Stück Triple-Chocolate-Salted-Caramel-Kuchen

Ein Jahr England. Als ich vergangenen Sommer davon erzählte, erntete ich mitunter schon den ein oder anderen mitleidigen Blick. Nicht nur wegen des Brexits, nicht nur (aber auch) wegen des englischen Wetters, nein, erstaunlicherweise vor allen Dingen wegen des englischen Essens. „Und dann bist du ja auch noch Vegetarierin“, bekam ich des Öfteren zu hören. Oder alternativ:  „Oh, das englische Essen soll ja … gewöhnungsbedürftig sein.“

Stereotype Aussagen über nationale kulinarische Traditionen finde ich – um ehrlich zu sein – anstrengend. Als müsste man als Gast in einem fremden Land gezwungenermaßen jede Eigenheit, was Ernährung angeht, mitmachen. Als hätte man in England nicht die Möglichkeit, Nudeln und Tomatensoße zu kaufen, so wie alle Studenten das in München auch tun, um bei Klischees zu bleiben. Als wäre es eine Zumutung für jeden Deutschen, neun Monate lang auf echtes Brot und Sauerkraut verzichten zu müssen.

Natürlich, auch ich vermisse Laugengebäck und Mürbteig, aber nicht so sehr, als dass ich es nicht nach wie vor spannend und erfrischend finden würde, herauszufinden, welche Gerichte die traditionelle britische Küche nun tatsächlich umfasst. Wie ich feststellen darf, ist Oxford dafür nicht der schlechteste Ort, denn sowohl die Colleges als auch Departments, Cafés und Restaurants bieten vieles an, was vermutlich als typisch englisch verstanden wird. Mittlerweile rangieren dabei Scones mit Clotted Cream und Jam (wobei es regionale Streitigkeiten gibt, ob man nun zuerst die sündhaft fette Sahne auf den noch warmen halb salzig, halb süßen Muffin streicht, oder erst die Marmelade – ähnliches gilt für die Frage, ob zuerst die Milch oder zuerst der Tee in die Tasse kommt) schon recht weit oben auf meiner neuen Lieblingsessensliste. Gleiches gilt für Eton Mess (eine sahnige Creme mit Äpfeln und Beeren und Baiser) und auch das englische Frühstück (wenn auch vielleicht lieber erst als Mittags- oder gar Abendessen) mit Rühreiern, Bohnen, Tomaten und Pilzen.

Über Weihnachten kam es zwar zu leichter Enttäuschung, da die englischen Weihnachtsnaschereien wie Fruit Cake und Christmas Pudding, die zu 99 Prozent aus in Rum getränkten Rosinen und Orangeat bestehen, nicht wirklich mit Vanillekipferln und Bratäpfeln mithalten können. Abgesehen davon gehe ich nach wie vor gerne in den regulären Supermarkt und freue mich, wenn das Sortiment im asiatischen Regal nicht lediglich aus einer überteuerten Marke Kokosmilch und Sojasoße besteht, sondern ich die Qual der Wahl zwischen Reisnudeln, Fertig-Chapati und Sushi-Essig habe.

Auch was die Herausforderung meiner Nichts-was-mal-gelebt-hat-Einschränkung angeht, bieten sich in Oxford weit mehr Optionen als die zwei Antwortmöglichkeiten auf meine in Deutschland oft geäußerte Frage, ob ich denn den Salat mit Putenstreifen ohne Putenstreifen haben könnte: Vegetarisches Essen ist in Oxford unheimlich beliebt. Und das in Verbindung mit dem Trend zu hippen Cafés mit Fahrrädern an den Wänden, ökologischem Kaffee und selbstgebackenen Brownies, macht es wirklich mehr als einfach, gut zu essen und sich dabei so richtig hip zu fühlen.

Gerade stehe ich mit einer meiner Kommilitoninnen in eben einem solchen Café an der Theke und bestelle eine Tasse Tee und ein Stück Triple-Chocolate-Salted-Caramel-Kuchen. Der wie aus einem Katalog ausgeschnitten wirkende Barista reicht mir die Rechnung. Nicht umrechnen, sage ich mir leise. Das ist mein Mantra. Nicht umrechnen und dabei trotzdem an München denken. Denn: wenn ich wieder in Deutschland bin, wird mir sogar ein Stück Kuchen in Schwabing billig vorkommen.

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat

Zeichen der Freundschaft: Abgeschweift

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Es gibt diese Menschen, die sich in tausenden Kleinigkeiten verlieren, wenn sie doch eigentlich nur eine Sache erzählen wollen. Und kein Mensch schweift so gut ab wie ihr guter Freund Severin, meint unsere Autorin

Die
Ausschweifung wird immer länger. Ich sehe es kommen, aber ich habe keine Angst
davor. Nach zehn Minuten Exkurs sieht mich Severin an, schüttelt kurz den Kopf
und sagt seinen Satz: „Sorry, ich schweife voll ab. Schon wieder.“ Und ich sage
meinen Satz: „Kein Ding, ich bin noch voll dabei.“ Diesen Moment gibt es in
jedem unserer Gespräche.

Ausgangspunkt für die Ausschweifung war
ursprünglich meine Frage, was Severin seiner Freundin zum Geburtstag geschenkt
hat. Mittlerweile sind wir aber bei dem Konzert des Bach-Chors angekommen, mit
dem er an diesem Abend auftreten wird. Und davor hat er mir seine
Arbeitssituation am Lehrstuhl erklärt, nicht ohne einen Umweg über das geplante
Zeltlager der Kolpingjugend einzuschlagen, das er gerade organisiert. Auf das
Geschenk warte ich noch. Aber das ist normal. Wenn Severin etwas erzählt, dann
erklärt er jede Facette der Geschichte und welcher Umstand zu welchem Ereignis
geführt hat, um letzten Endes zu einem großen, alles erklärendem Fazit zu
gelangen.

Ich vermute, dass er deswegen oft gesagt
bekommt, er solle mal zum Punkt kommen. Vielleicht entschuldigt er sich deshalb
auch jedesmal wieder, wenn er abschweift, wenn seine Ausführungen immer länger
und immer verwinkelter werden. Aber genau das mag ich an ihm. Nicht nur weil
ich weiß, dass am Ende alles einen Sinn ergeben wird, dass er irgendwann sagen
wird: „Aber was ich eigentlich erzählen wollte…“, dass der Kreis sich
schließen, der Schweif in einer runden Geschichte verblassen wird, wie ein
Kondensstreifen am Himmel. Sondern ich mag es auch, weil die Art, wie er seine
Geschichten erzählt, die ohne die Ausschweifung vielleicht nur ganz kleine,
unbedeutende Nebensächlichkeiten wären, einen Blick auf seinen Charakter
zulässt.

Durch seine Geschichten wird mir immer
wieder klar, dass Severin einer der umsichtigsten, treuesten, aufrichtigsten
und sensibelsten Menschen ist, die ich kenne. Wenn ich einmal drei Monate
nichts von ihm gehört habe, kann ich mir eigentlich sicher sein, dass ich
früher oder später eine fünfmal Bildschirm-Größe-lange Whatsapp-Nachricht
erhalte, die zu zwei Dritteln aus einer Entschuldigung mitsamt Erklärung
besteht, warum er so lange nichts hat von sich hat hören lassen, und zu einem
Drittel aus Fragen, wie es mir geht. Im besten Fall beinhaltet sie außerdem
noch einen Vorschlag für das nächste Treffen.

Und dann sitzen wir irgendwo beim Teetrinken
oder Mittagessen und erzählen, was uns so beschäftigt. Wenn Severin einen Schweif
beendet hat, setze ich an. Nach zehn Minuten sehe ich ihn an. Schüttle kurz den
Kopf und sage meinen Satz: „Sorry, ich bin mir gerade nicht sicher, ob das so
viel Sinn ergeben hat – weißt du, was ich meine?“. Und Severin lächelt und sagt:
„Ja, ich glaube schon.“ Nein, nicht nur Severin schweift aus und schweift ab,
auch ich tue das. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass ich noch viel von ihm
lernen kann, was sortierte Schweif-Führung angeht, denn meine Gedanken
vereinen sich nicht immer zu einem großen, allumfassenden Fazit. Aber die
Tatsache, dass Severin mich meistens trotzdem versteht, gibt mir Hoffnung, dass
ich irgendwann so gut werde wie er.

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Yunus Hutterer

Fremdgänger: Klassisch flirten

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Wenn man als eingefleischte Münchnerin in die Welt zieht zum Studieren, erwartet einen immer der eine oder andere Kulturschock. Unsere Autorin tauschte Punk-Konzerte im Milla mit klassischen Choraufführungen in Oxford- und wundert sich, wie ähnlich sich die beiden Welten doch sind.

Die mächtigen Tore der Kirche öffnen sich. Eine Menschenmasse ergießt sich in die von Straßenlaternen und den Fenstern der anliegenden Häuser erleuchtete Gasse. Es ist Sonntagabend, der „Evensong“ im Merton College wurde gerade von einer letzten Hymne beendet, wer will, kann jetzt noch dem Priester die Hand schütteln und sich für den schönen winterabendlichen Ausflug in diese verzauberten Hallen bedanken. Mittendrin: ich mit zwei Freundinnen. Wir halten halb abgebrannte Kerzen in den Händen und sehen uns mit verträumten Augen an.

Ich erinnere mich, einen ähnlich seligen Gesichtsausdruck zuletzt auf dem Gesicht einer Freundin aus München gesehen zu haben, als wir nach dem Konzert einer Punkrock-Band in einer nicht ganz so großen Menschentraube aus dem warmgetanzten Milla in die Holzstraße geschwemmt wurden. Weit weg scheint das alles, zwischen all den schicken Wintermänteln, Tweet-Jackets und Pelzmützen der Menschen um mich herum. In Oxford wüsste ich nicht, wo ich in einem kleinen Club zu lauten Gitarrenriffs auf und ab hüpfen könnte. Ich bin mir sicher, diese Clubs gibt es irgendwo außerhalb der Reichweite ehrwürdiger College-Mauern – ich habe sie nur noch nicht gefunden. Dafür bin ich viel zu beschäftigt, die einfacher zu erreichenden kulturellen Höhepunkte abzuklappern. Denn wie sich herausstellt, schaffe ich es hier, innerhalb von sechs Tagen vier klassische Chorkonzerte zu besuchen. Jedes davon ist voll besetzt bis auf die hintersten Reihen, zu einem nicht zu verachtenden Anteil von Studenten. Auf Facebook lädt man sich nicht zu Partys im traditionellen Münchner Sinne ein, sondern zu Symphonien, Theaterstücken, Chören, Buchvorstellungen und Gedichtlesungen. 

Ich ertappe mich dabei zu bemerken, dass auch in kulturell anspruchsvollen Umgebungen – wie einem Konzertsaal oder gar einer Kirche – soziale Dynamiken ablaufen, die denen einer Nacht in der Münchner Club-Szene nicht unähnlich sind. In der Vorweihnachtszeit wurden die in den meisten Colleges regelmäßig abgehaltenen „Evensongs“ (ein anglikanischer Gottesdienst, bei dem es vor allen Dingen um die Musik geht) von „Carol Services“ (dabei geht es noch mehr und vor allem um weihnachtliche Kirchenmusik) ergänzt. Und als ich vor ein paar Wochen einen solchen besuchte, ebenfalls inklusive Kerzen und Weihrauch, begann mein Mitbewohner auf einmal, angeregt mit der langbeinigen dunkelhaarigen Engländerin zu flirten, die vor ihm saß. Sehr elegant, dachte ich mir. Und ich? Ich sitze im mittelalterlichen Kirchenschiff des Merton College und starre fasziniert auf das von einer schiefen Kerze im Kronleuchter über mir tropfende Wachs, als ich merke, wie süß der Typ mir gegenüber ist. Verstohlen schaue ich immer wieder zu ihm hinüber und bin mir fast sicher, dass er hin und wieder sogar zurückschaut. 

Ich werde nervös. Auf einmal ist die hölzerne Kirchenbank ziemlich unbequem. Kurzzeitig wünsche ich mir, ich wäre in München, in einem Club. Da gäbe es zumindest eine Bar, eine Tanzfläche und (zur Not) ein alkoholisches Getränk, hinter dem ich mich effektiv hätte verstecken können, während gleichzeitig zumindest potenziell die Möglichkeit bestanden hätte, mir ein Herz zu fassen und endlich hinüber zu gehen, um ihn anzusprechen. 

Ich schließe die Augen, ich denke zurück an jenen Abend im Milla. Ja, auch da gab es einen Typen auf der anderen Seite der Tanzfläche. Aber auch da hatte ich nicht den Mut, hinüber zu gehen.

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat

Neuland: Splashing Hill

Susanne Augustin, Bassistin bei Splashing Hill, leidet an zwei Autoimmunerkrankungen. Auch deshalb hat sie am Samstag ein Charity-Konzert im Cord Club organisiert.

Vor
einigen Monaten berichtete die Junge Leute Seite über Susanne Augustin, 25, die
an zwei Autoimmunerkrankungen leidet. Mit ihrer Band Splashing Hill hat sie ein
Charity Konzert organisiert, dessen gesamter Erlös an zwei Stiftungen gehen
soll, die sich mit der Aufklärung und Forschung zu den Krankheiten Lupus und
Morbus Chron beschäftigen und Betroffene und ihre Familien unterstützen. Am
Samstag, 17.12.2016, findet das Konzert im Cord statt. Unterstützt werden
Splashing Hill von Liann und Pour Elise. Einlass ist um 20:00, Karten gibt es
noch im Vorverkauf und am Abend selbst.

Auch einen eigenen Song hat die Band für
Spendenzwecke geschrieben und aufgenommen – ab Anfang des nächsten Jahres soll
„extention“ erhältlich sein.

https://www.facebook.com/events/1308177139227555/

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Alessandra Schellnegger

 

Mal kurz die Welt retten

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Philipp von der Wippel, 20, studiert in Oxford Politik, Philosophie und Wirtschaft. Nebenbei unterstützt der Münchner Start-ups – und will die Gesellschaft verändern. Mit
Zuhör-Runden.

Von Theresa Parstorfer

Ein kurzes Gebet auf Latein, allseitiges Stuhlrücken und das Essen kann beginnen. Es ist Freitag, 19.15 Uhr, in der „Formal hall“ im St. Johns College in Oxford. Kellner in weißen Hemden tragen die Vorspeise auf: Linsensuppe. Seit mehr als einem Jahr gehören diese formellen Abendessen inklusive Anzug und Krawatte, Kronleuchtern und ehrwürdigen Speisesälen zum Leben von Philipp von der Wippel, 20. Er studiert im zweiten Jahr PPE, das steht für Politics, Philosophy und Economics. Das ist der Studiengang britischer Premierminister. David Cameron zum Beispiel.

Politiker möchte Philipp jedoch eigentlich nicht werden. Ihm gefällt das „wie“ der Politik nicht. Allerdings hat er auch nicht allzu viel für eine reine „Anti-Haltung“ übrig. „Ich glaube, man muss das System erst einmal so annehmen und akzeptieren, wie es ist, und dann überlegen, wie man von A nach B kommen kann, was nicht funktionieren wird, wenn man ausschließlich kritisiert, ohne konstruktiv zu denken“, sagt Philipp. Außerdem seien derzeit „Teile unserer Gesellschaft emotional verloren“. Und deswegen hat er nun begonnen, die Welt zu retten.

Das hat Philipp natürlich nicht gesagt – aber ganz vereinfacht lässt sich das so zusammenfassen. Wenn Philipp redet, hebt er seine großen, feingliedrigen Hände und drückt die Finger aufeinander, als würde er nach unsichtbaren Fäden greifen. Als würde er die Gesellschaft wieder zusammendrücken wollen, an den Stellen, an denen sie auseinanderdriftet.

Alles begann mit der amerikanischen Präsidentschaftswahl. Das Ergebnis bezeichnet er als „Paukenschlag“, aber auch als „Symptom“, als „Variable“. Einen Facebook-Post verfasste Philipp am Morgen, nachdem sich die Realität, dass Donald Trump 45. US-Präsident sein würde, in den sozialen Netzwerken manifestierte, denn „diesen Moment müssen wir ausnutzen. Jetzt wachen die Leute auf. Jetzt sind sie bereit, etwas zu tun.“ Es geht ihm darum, jetzt gerade nicht in Stigmatisierungen zu verfallen, sondern zu vereinen.

„In der Demokratie der Zukunft darf es nicht um das lauteste Schreien oder nur die Massentauglichkeit der Botschaften gehen – das ist seit heute klarer denn je. In diesem Sinne lasst uns gemeinsam planen, was jeder Einzelne von uns tun kann“, stand in seinem Post und die daraufhin gegründete Whatsapp-Gruppe „Democracy of the Future“ umfasste nach den ersten Stunden bereits mehr als 100 Mitglieder. Mittlerweile sind es mehr als 250 Mitglieder, und es bilden sich regionale Untergruppen – eine etwa in München.

Vergangenen Mittwoch fand das erste Treffen der Münchner Gruppe unter Leitung von Simon Böhm statt. Philipp war auch anwesend und hofft, mithilfe dieses Impulses in den verschiedensten Ländern, in den verschiedensten Städten „Menschen an einem Tisch zusammenzubringen, die sich aktuell gegenseitig meiden und die sich gegenseitig nur noch über Medien verurteilen“. 30 junge Menschen kamen, vorwiegend Studenten, alle Anfang bis Mitte 20. Im Mittelpunkt des Abends stand das Zuhören. Jeder hatte die Gelegenheit, seine Meinung zu einem bestimmten Thema einem Gesprächspartner zu vermitteln, der nur zuhören durfte – ohne seine eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen. Nach dem Abend berichteten Teilnehmer davon, als wie schön und erfrischend sie es empfunden hätten, wenn einem ehrlich zugehört werde. Anstatt sich bei Demonstrationen gegenseitig anzubrüllen, stellt sich Philipp diese Zuhör-Runden als Orte der politischen Begegnung vor.  

In den lokalen Gruppen soll man sich außerdem, so Philipps Idee, Gedanken darüber machen, wie Gesellschaft anders gestaltet werden könnte. Philipp spricht von Initiativen, die auf einfache Art und Weise Unterschiede und Vorurteile überkommen könnten. Altersheime und Kindergärten zusammenlegen ist eines seiner Beispiele.

Wenn Philipp von Berlin
schwärmt, dann nicht wegen
Berghain, Spätis und Subkultur

 Philipp hat Erfahrung damit, Impulse zu geben und Strukturen zu schaffen. Vor ein paar Jahren hat er „Project Together“ gegründet, eine Initiative, die Start-ups junger Menschen über einen Zeitraum von vier Monaten betreut. Damals hatte er noch nicht einmal Abitur. Und als er es dann hatte, bot ihm die BMW-Stiftung in Berlin eine Stelle an, um sich ein Jahr lang ausschließlich um „Project Together“ zu kümmern und ein professionelles Unternehmen daraus zu machen. Damals hatte er sich nach einem zweimonatigen Backpack-Trip durch Südamerika noch schnell während des Rückflugs über sein Handy eine WG in Berlin gesucht. Bei der Erinnerung lacht er. „Heute würde ich da nicht mehr hinziehen, aber ich habe tatsächlich lediglich geschaut, welche Wohnung den kürzesten Weg zum Büro hatte“, sagt er. In der Habersaathstraße landete er, zwischen Wirtschaftsministerium und dem neuen BND-Gebäude. „Die besten Nachbarn“, sagt er. Wieder lacht er, leichte Zweifel an der Ironie entstehen dennoch. Denn wenn Philipp von Berlin schwärmt, dann nicht wegen Berghain, Spätis und Subkultur, sondern „wegen der Nähe zu politischen Ereignissen“ und den Menschen, die er dort getroffen hat, den Kontakten, die er knüpfen und die Arbeit, die er leisten konnte.

Es sei es eine gewisse Herausforderung gewesen, Unterstützer von der Glaubwürdigkeit zu überzeugen, wenn der Altersunterschied so groß ist. „Du musst immer ein bisschen härter und auch ein bisschen besser arbeiten als jemand, der vielleicht schon zehn Jahre mehr Erfahrung hat, nur um den Vertrauensbonus auszugleichen,“ sagt Philipp. Auch der Erfolg der von Project Together betreuten Projekte spricht für sich. Frederic Meyer-Scharenberg, 27, ist Mitglied eines Münchner Gründerteams von „Crowd-guard“, einer in nächster Zeit auf den Markt kommenden App, die sich für Zivilcourage und Sicherheit einsetzt. „Wir hätten das vielleicht auch ohne Project Together geschafft, aber es ist schon sehr viel schneller und strukturierter abgelaufen“, sagt Frederic.
 Philipp liest Kant, Marx, Nietzsche und er verwendet Worte wie „Synergien“ und „Überbau“ und „Derivat“. Ein weiteres Projekt, das sich mit der Frage nach gesellschaftlicher Gestaltung beschäftigt, ist ein Buch, in dem ein bestimmtes Ereignis oder eine gesellschaftliche Situation aus 16 verschiedenen Blickwinkeln beschrieben werden soll. „Auch wenn es natürlich gefährlich ist, ‚Populismus‘ als Begriff zu benutzen, so denke ich doch, dass es wichtig ist, auch Menschen mit sehr anderen politischen Ansichten zu erreichen, ihren Sorgen ernsthaft zuzuhören und dadurch gegenseitiges Vertrauen zurückzugewinnen. Ohne dieses Vertrauen stehen wir uns gegenseitig im Weg und können keinen gesellschaftlichen Fortschritt erzielen“, sagt Philipp. Jetzt muss das Buch nur noch geschrieben werden, doch das scheint Philipp nicht zu beunruhigen – trotz zweier Essays pro Woche, trotz der Arbeit für Project Together, für die er immer wieder übers Wochenende nach Deutschland fliegt.

Ob ihm manchmal die Kraft ausgeht? Er überlegt. Der „Workload“ sei viel, natürlich, aber eigentlich lebt er genau das Leben, das er leben möchte. Er nennt das „Flow“, „Drive“, „Call“ – das „sich lebendig fühlen“, wenn man merkt, dass man die Chance und vielleicht auch die Verantwortung hat, jetzt etwas zu verändern.

Fremdgänger: Muggel in der Winkelgasse

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Wenn man als eingefleischte Münchnerin in die Welt zieht zum Studieren, erwartet einen immer der ein oder andere Kulturschock. Unter all den neuen Eindrücken aus der großen, weiten Welt ruht aber die Sehnsucht nach der Heimat. Als Theresa sich Robe und Barett für ihr Auslandsstudium in Oxford besorgte, fühlte sie sich unweigerlich in die magische Welt Harry Potters versetzt

Da wäre nur noch die Sache mit dem Zauberstab. Wenn ich mich recht erinnere, ist das eines der letzten Dinge, die Harry Potter vor dem offiziellen Beginn seiner Zauberer-Karriere in Hogwarts, der weltbesten Schule für Hexerei und Zauberei, in der Winkelgasse in London kauft. Gewinkelt war auch die Gasse, die ich vor zwei Monaten entlang gelaufen bin. Getaucht in herrlichste, englische Herbstsonne. Gewappnet für den skurrilsten Shoppingtrip meines Lebens. Oder zumindest so halb gewappnet. Denn ein wenig eingeschüchtert war ich schon, von der Vorstellung, mir einen schwarzen Umhang aus Seide kaufen zu müssen und ein schwarzes … – ja, was ist das eigentlich, was die Studenten in den amerikanischen oder englischen Highschool- und Universitätsfilmen auf dem Kopf tragen und am Ende des Jahres in die Luft werfen?

Das ist Oxford. Undergraduates, so heißen die Bachelor-Studenten, bekommen kurze, schwarze Seidenmäntelchen, Graduates, also Masterstudenten wie ich, dürfen sich schon in über die Knie reichende Umhänge hüllen. Und bei den Doktoranden kommt dann noch allerlei Ärmel und Kragen und sogar ein bisschen Farbe dazu. Das „academic dress“ wird nicht nur anlässlich der Einführungs-Zeremonie und der Abschlussfeier, sondern auch zu allerlei festlichen Aktivitäten und Dinners und sogar den Prüfungen getragen. 

Auch an deutschen Universitäten waren bis vor ungefähr 50 Jahren Talare und Barette (so der Name der Hüte) fester Bestandteil des akademischen Alltags, eine Tatsache, die mir zu keinem Zeitpunkt meiner Universitätskarriere in München bewusst war. Mit dem Slogan „unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ schafften die ‘68er die Umhänge ab. Deshalb war der Erhalt meines ersten Uni-Abschlusses im vergangenen Sommer in München nicht viel feierlicher als ein Besuch im Prüfungsamt zwischen Arbeit und Bibliotheksrückgaben. Keine Robe, kein Barett, keine Zeremonie und auch kein Dinner, nur eine Mappe mit meinem Bachelor-Zeugnis.

In England hingegen hält man nach wie vor selbstverständlich – manchmal mit einem leichten Augenzwinkern, aber durchaus nicht ohne Stolz – an Traditionen, Zeremonien und vor allen Dingen schwarzen Umhängen fest. Mittlerweile neigt sich das erste „Term“ dem Ende zu, mittlerweile zucke ich nicht mehr zusammen, wenn in der immer früher einsetzenden Abenddämmerung ein Radfahrer mit wehenden schwarzen Rockschößen auf dem Weg zu einem Dinner an mir vorbeisaust, mittlerweile höre ich mich selbst regelmäßig fluchen, wenn ich schon halb aus der Tür und auf dem Weg zu einem solchen Dinner bin und merke, dass ich meinen „gown“ wieder einmal vergessen habe. 

Und dennoch: Nach wie vor denke ich mir nicht selten, dass Harry Potter sich ähnlich gefühlt haben muss, als er in den roten Zug auf Gleis 9 ¾ gestiegen ist, der ihn in ein Universum transportierte, in dem andere Sitten und Umgangsformen gepflegt, andere Sportarten betrieben werden, anderes Essen gegessen und nicht zuletzt andere Kleidung getragen wird.

Als ich an jenem Nachmittag am Anfang des Trimesters aus dem Laden in der gewinkelten Gasse zurück in die Sonne getreten war, um 35 Pfund ärmer, dafür ausgestattet mit einem Talar, einem Barett und einem schwarzen Krawattenbändchen, wünschte ich mir, ich könnte tatsächlich auch noch zu Mr. Ollivander gehen, um mir einen Zauberstab zu besorgen. Denn mir war klar, dass ich ein bisschen Magie, ein bisschen Glück oder gewogenes Schicksal würde brauchen können, um in diesem verzauberten Universum zurechtzukommen.

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat

Fremdgänger: Nummer 5 darf rudern

Wenn man als eingefleischte Münchnerin in die Welt zieht zum Studieren, erwartet einen immer der ein oder andere Kulturschock. Unter all den neuen Eindrücken aus der großen, weiten Welt ruht aber die Sehnsucht nach der Heimat.

Ich bin die Nummer 5. Und gerade ist es meine Aufgabe, das Boot zu stabilisieren. Dafür muss ich das Paddel flach aufs Wasser drücken.

Es ist halb sieben Uhr morgens und feine Nebelbänke ziehen über die noch dunklen Wasser der Themse. Immer wieder werden sie durchschnitten, von langen, dünnen Ruderbooten oder den kräftigen Stimmen der Coxes, die durch an den Booten befestigte Lautsprecher verstärkt werden. Die Aufgabe eines Cox ist es, am Ende des Bootes zu sitzen und den acht Ruderern im Boot Anweisungen zuzurufen.

Der Cox in meinem Boot heißt Jenny, hat rote Haare, Sommersprossen und einen sehr schönen britischen Akzent. Deshalb stört es mich auch nicht, dass sie seit einer gefühlten, eisigen Ewigkeit, immer wieder wiederholen muss, dass Nummer 5 gerade nicht rudern soll, sondern das Boot gerade halten. Ich mache das immer wieder falsch, nicht nur, weil ich tatsächlich lieber Rudern würde (mir ist kalt, und außerdem macht es erstaunlich viel Spaß), sondern auch, weil Ruder-Jargon ganz schön verwirrend ist. Da gibt es einen Begriff für die Ruderer, deren Ruder nach rechts in den Fluss ragen („stroke-side“), und einen für die andere Seite („bow-side“). Und dann gibt es einen Begriff für den hinteren Teil des Bootes („bow-four“) – die Nummern eins bis vier – und einen für den vorderen Teil („stern-four“) – also Nummer 5 bis 8. Die bringe ich ständig durcheinander, weswegen ich nie so genau weiß, wer gemeint ist, wenn einer dieser vier Begriffe fällt. Aber das wird schon noch, sage ich mir – ist schließlich das erste Mal, dass ich in einem Ruderboot sitze.

Ich frage mich, ob in München jemals ein Student auf die Idee kommen würde, um halb sechs Uhr morgens aufzustehen, aufs Fahrrad zu steigen, obwohl die Hände schon am Lenker festzufrieren drohen, um dann zwei Stunden in einem dünnen Ruderboot auf einem schon erstaunlich geschäftigen Fluss zu paddeln. Vielleicht, denke ich mir, vielleicht gibt es ja ein paar Münchner, die vor Sonnenaufgang im Eisbach surfen.

Aber wenn ich mich an die großen Augen erinnere, die ich in München regelmäßig erntete, wenn ich gestand, dass ich um halb sechs aufstehen müsse, um eine Acht-Uhr-Vorlesung besuchen zu können (ja, ich wohne sehr weit „draußen“) und daran, wie spärlich besucht diese Vorlesungen dann waren, komme ich zu dem Schluss, dass Frühaufstehen unter Münchner Studenten eher die Ausnahme darstellt.

Gegen Ende des Trainings darf Nummer 5 sogar noch ein bisschen rudern, und als mein Paddel durch das klare Wasser zieht, sich langsam die ersten Sonnenstrahlen durch die Büsche am Flussufer wagen und der Himmel in ein sanftes Rosa getaucht wird, weiß ich auf einmal, warum das Frühaufstehen zumindest in bestimmten – genauer gesagt, den rudernden – Oxford-Kreisen etwas ganz Natürliches ist.

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat

Zeichen der Freundschaft: Vanilleshakes

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Kurz vor der Mathe-Ausfrage in der 9. Klasse lernten sie sich kennen. Seit sie in verschiedenen Städten studieren, treffen sich Korbi und Theresa ein Mal im Jahr, um gemeinsam Vanilleshakes zu schlürfen. Eine weitere Kolumne aus unserer Reihe “Zeichen der Freundschaft”.

Hässlich ist eigentlich das falsche Wort. Geschmacklos auch. Vielleicht eine Kombination aus den beiden, denke ich, während ich das Auto parke und mich elegant durch den 10 cm breiten Spalt fädle, den es der neben mir parkende Wagen erlaubt, meine Fahrertür zu öffnen. Geschmässlich, vielleicht. Das trifft sowohl auf das Dorf, in dem ich mich gerade befinde, als auch auf das Etablissement zu, das ich gerade im Begriff bin zu betreten, um eine der treusten und vielleicht auch unwahrscheinlichsten Freundschaften zu pflegen, die ich mir mit 14 Jahren, als sie entstand, hätte vorstellen können.

Aus irgendeinem mir nicht völlig ersichtlichen Grund ist dies aber zu unserer Tradition geworden, seit wir in sehr weit voneinander entfernten Städten studieren und sehr unterschiedliche Leben leben. Einmal im Jahr treffen Korbi und ich uns dennoch in dem Kaff, in dem er groß geworden ist, in dem einzigen für junge Menschen betretbaren Lokal, das es dort gibt und dessen Innenausstatter eigentlich zu lebenslänglicher Haft in seinem eigenen Verbrechen verurteilt gehört.

Zwischen einer Bar aus Bambus, braunen Fließen und alten Bauerntischen isst Korbi dann einen Burger und ich Käsespätzle und zum Nachtisch bestellt er sich zwei Vanilleshakes nacheinander, da ich eigentlich gar keinen wollte, ihm dann aber doch die Hälfte des ersten wegzutzle. So ist Korbi. Er würde wahrscheinlich alles für mich tun. Meinen Computer reparieren, meine
Hausarbeit formatieren, meine Grafiken für das Kunstgeschichte Referat erstellen, mir versichern, dass ich bestimmt irgendwann „den richtigen“ finden werde und mir außerdem versprechen, dass ich auf jeden Fall noch einen Vanilleshake vertrage, auch wenn sich die Käsespätzle gerade in einen zähen, langsam rotierenden Klumpen in meinem Magen verwandeln.

Als ich in der neunten Klasse das erste Mal mit Korbi, dem damals schon größt gewachsensten Schüler unseres Gymnasiums sprach, musste ich gerade vor der Tür meines Klassenzimmers warten, weil ich die Zweite in der Doppel-Mathe-Ausfrage war. Er kam zufällig vorbei und fragte, ob ich seine Notizen haben wollte, da er gerade das gleiche Thema bei seinem Mathelehrer
durchnahm. Ich sagte, nein danke. Zwei Tage später fragte er mich, ob ich mit ihm den traditionell in der neunten Klasse durchgeführten Tanzkurs besuchen wollte – damit war ich das erste Mädchen meiner Klasse, das einen Tanzpartner abbekam. Zwei Monate lang starrte ich auf seinen rechten Ellbogen, der sich in
etwa auf meiner Augenhöhe befand, während wir DiscoFox, Walzer und ChaChaCha lernten. Für eine Unterhaltung waren wir beide zu schüchtern und die billige Chart-Musik zu laut.

Mittlerweile schaffen wir es jedoch ganz gut, uns über einfach alles zu unterhalten, von Universitäten, geplanten Doktorarbeiten, über den ersten gemeinsamen Hund mit der Freundin (in seinem Fall), verflossene Liebschaften (in meinem Fall) bis hin zu damals, als ich vor der Klassenzimmertür stand und seine Mathenotizen nicht wollte und wie wir (natürlich!) das mit Abstand hübscheste Paar auf dem Abschlussball waren. Deshalb freue ich mich jedes Jahr von Neuem, wenn ich abends in das Auto meiner Eltern steige und in diese geschmässliche Kleinstadt fahre, um mich in diesem geschmässlichen Lokal mit Korbi zu treffen.

Von: Theresa Parstorfer

Foto: Yunus Hutterer