Wieder unterwegs

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Ein Unfall ändert für Marko Baader, 21, alles. Wer auf einen Rollstuhl angewiesen ist, leidet unter großen Einschränkungen. Sogar ein kleiner Tagesausflug wird zu einer logistischen Herausforderung. Das wollte Marko ändern und gründete eine Autovermietung für Rollstuhlfahrer

München – Den 2. April 2011 wird Marko Baader, 21, nie vergessen. Er feiert mit seinen Freunden und will schnell zur Tankstelle, um sich etwas zu essen zu kaufen. Er stolpert und stürzt mit dem Kopf gegen eine Mauer. Dabei bricht er sich drei Halswirbel.
Als er aufwacht, realisiert er nur langsam, was mit ihm geschehen ist. Seine Freunde reihen sich um sein Bett, in ihren Augen stehen Tränen. Marko glaubt erst, es sei ein Albtraum. Er will sprechen, aber daran hindert ihn ein Luftröhrenschnitt. Er kann nichts sagen, nicht fragen, als er erfährt, dass er von nun an querschnittsgelähmt ist.

Marko liegt wochenlang auf der Intensivstation, schließlich kommt er in die Reha. Er lernt wieder, einen Arm zu heben, aber der restliche Körper bleibt gelähmt. Marko fällt in tiefe Depressionen. Er will nicht mehr leben.
Währenddessen versucht sein Vater, Joachim Baader, einen elektrischen Rollstuhl aufzutreiben. Die Vereinbarung mit der Kasse sieht dafür zunächst keine finanziellen Leistungen vor. Es heißt, die Familie müsse die immensen Kosten selbst übernehmen. Sie starten Spendenaktionen, veranstalten Benefizkonzerte, verteilen Flyer, das Bayerische Fernsehen schaltet sich ein. Am Ende zahlt die Kasse doch einen Großteil und es kommt viel mehr Geld zusammen als erhofft.

„Wir wollten der Gesellschaft etwas zurückgeben“ sagt Joachim Baader. So kauften er und Marko von dem finanziellen Überschuss einen Bus und gründeten die wheels4wheels, eine Autovermietung für Rollstuhlfahrer.
An den Rollstuhl gebunden sind Menschen mit Behinderung enorm eingeschränkt: Mobilitätspauschalen ermöglichen es zwar, zwischen Wohngruppe und Familie hin und her zu pendeln. Und im Krankheitsfall zahlt die Kasse ein Taxi zum Arzt. Aber für einen Tagesausflug mit Freunden, raus in die Natur, gibt es kaum Kapazitäten. Da kommt das sogenannte PlegiCar von wheels4wheels gerade richtig. Sein Gehäuse birgt Platz für mehrere Rollstühle, verfügt über eine spezielle Bodenverankerung und ist mit einer hydraulischen Hebebühne ausgestattet. „Es ist wahnsinnig wichtig, dass die Leute aus ihren vier Wänden rauskommen“, finden Marko und Joachim Baader, „dass sie merken, sie sind noch am Leben!“
Doch da die Miete für solch einen Bus sehr teuer ist, haben sich Vater und Sohn außerdem für eine Gemeinnützigkeit eingesetzt. Inzwischen gibt es zwei Busse, die aber noch nicht abgezahlt sind. Bald kommt vielleicht ein dritter Bus hinzu. Spendengelder können dabei helfen, die Kosten zu deckeln und die Fahrten günstiger anzubieten.

Marko erzählt von einem Freund aus seiner Wohngruppe, der an Muskeldystrophie leidet und 24 Stunden am Tag beatmet werden muss. wheels4wheels erfüllte ihm vor zwei Jahren noch einen lang ersehnten Traum. Begleitet von Pflegern und Familie, fuhr er ins Disneyland nach Paris. Aber das PlegiCar soll nicht nur Menschen mit Behinderung dienen. Marko und sein Vater wollen auch Senioren im Rollstuhl ermöglichen, „mit Nahestehenden auf Entdeckungsreise zu gehen“.

Inzwischen war der Bus mit seinen Gästen schon in Brüssel, London, in Kroatien und Österreich. Marko ist begeistert. Denn der Bus bietet viel mehr Freiheiten: „Es gibt Firmen, die Urlaubsreisen anbieten, aber da gibt es einen ewigen Vorlauf. Und du bist immer in der Gruppe. Das ist wenig individuell. Du machst, was die Betreuer sagen.“

Und Vorschriften mochte Marko noch nie. Seine Freunde und er fahren mit dem Bus auf Raves oder an den Ammersee, wo sie bis spät nachts am Kaminfeuer sitzen. Jetzt planen sie eine Reise nach Holland. Oder nach Prag. Marko strahlt. Die Lebensfreude hat ihn wieder. Dazu leistet der Bus einen gehörigen Beitrag. Vor allem aber sind es die Spenden für die Fahrten, die Menschen mit Behinderung sozialen Anschluss garantieren, Horizonte weiten und Wege ebnen können, hin zum Abenteuer Leben.

Von Susanne Brandl
Foto: J. Baader

Heimat am Herd

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Jackie Lang, 25, bringt bei „Essen & Liebe“ Menschen zusammen, die bereit sind, für ihr Menü ein bisschen mehr zu zahlen und damit einen Abend lang eine Patenschaft für einen Flüchtling zu übernehmen.

Von Susanne Brandl

Es geht nur um das Nötigste: Um Kleider, Schuhe und Lebensmittelpakete. Das weiß jeder, der bisher in einer Erstaufnahmestelle für geflüchtete Menschen geholfen hat. Dies ist kein Ort, wo Kontakte geknüpft werden. Kurze Blickwechsel gibt es, freundliches Nicken, ein Lächeln vielleicht, aber längere Gespräche entstehen nicht. Auch die Münchnerin Jackie Lang, 25, hat diesen Sommer im Münchner Notquartier an der Denisstraße „Sachen rumgeräumt“. Doch die Atmosphäre war ihr dort „zu steril“. Sie wollte mit den Leuten reden, ihnen zuhören. Nicht aus der Helferperspektive, sondern „auf Augenhöhe, am besten bei einem gemütlichen Abendessen“, sagt sie. Jackie Lang hat ihr Hobby zum Beruf gemacht hat. Seit einiger Zeit kocht und bäckt sie im Glockenbacher „Aroma-Café“ und im Schwabinger „Laden“.

„Ich bin ganz unbedarft, was Flüchtlingshilfe angeht“, sagt Jackie. Nun hat sie mit einer Einladung „Leute mal aus ihrer Bittsteller-Rolle“ holen wollen. Und so stand sie schließlich sieben Stunden in ihrer WG-Küche und kochte „ohne großen Aufwand“ ein ausgefeiltes 3-Gänge-Menü, „um die Leute aufzufangen und zu signalisieren, dass man sie wirklich kennenlernen will“.
„Die Leute“, das sind für Jackie die Geflüchteten. Sie spricht selten von „Flüchtlingen“ oder „Asylbewerbern“. So lässt schon ihre Wortwahl erkennen, dass sie zwischen den Flüchtlingen auf der einen und den Deutschen auf der anderen Seite nicht unterscheidet. Und es handelt sich bei ihrer Idee des gemeinsamen Essens in keiner Weise um Barmherzigkeit oder gar Mitleid. Zu ihrem Essen lädt Jackie auch Münchner ein. Münchner, die sich nicht kennen. Alle Gäste sind sich fremd. Und so entbindet sie die Flüchtlinge von ihrem Stigma. Es geht ums Kennenlernen, egal, woher man kommt und wer man ist.
Das Essen mit den Flüchtlingen gehört zu einem Konzept, das Jackie schon länger verfolgt: Seit diesem Sommer organisiert sie sogenannte Supperclubs. Im Internet erstellt sie eine Aktion, bestimmt den Ort und lädt jeden ein, der kommen will. Ob Freund, Bekannter oder Unbekannter, die Leute zahlen über Paypal, Jackie karrt das Essen ran und bestellt einen DJ. Beim gemeinsamen Buffet im Grünen kommen sich die Leute näher.

Dass Jackie die Dinge entspannt sieht, erfährt man nicht nur, wenn sie erzählt, dass sie mehr durch Zufall „in der Gastro hängen geblieben“ ist. In Ringel-Shirt und Latzhose sieht sie lässig aus. Cool wirkt es, wie sie ihre braunen Locken zum Dutt gewickelt hat, und auch ihr Nasenpiercing passt zu ihrer lockeren, aber toughen Art. 

Um das 3-Gänge-Menü zu finanzieren, sucht sich Jackie über ihre Facebook-Seite „Essen & Liebe“ Menschen zusammen, die bereit sind, für ihr Menü ein bisschen mehr zu zahlen und damit einen Abend lang eine Patenschaft für einen Flüchtling zu übernehmen. Für jede verbindliche Zusage eines Münchners lädt Jackie einen geflüchteten Menschen ein. In nur einer Woche hat sie über Internetportale und soziale Netzwerke 15 Gäste gefunden.
Sie begibt sich ins Münchner Hauptbahnhofviertel und kauft beim Türken Halal-Fleisch, schmort das Lamm in ihrer Küche, schnippelt, brät und würzt, bis die Gäste kommen, die noch nicht wissen, was sie erwartet: Zur Vorspeise eine Kürbissuppe mit Koriander und Crème-fraîche-Dip, ein Feldsalat mit Granatapfelkernen und gebratenem Ziegenkäse, ein Orangen-Fenchelsalat mit Walnüssen, Zucchinipuffer, das Lamm und zum Schluss Maronen-Mousse.
Doch nicht nur das feine Menü hebt die Stimmung, auch der reichlich gedeckte, mit Blumen und Kerzen geschmückte Tisch im Wohnzimmer, der Kamin in der Ecke und die Discokugel an der Decke. Menschen, die sich zuvor nicht kannten, mischen sich untereinander, jeder plaudert mal mit jedem.

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Zwei Jungs aus Somalia, ein junger Mann aus Syrien und selbst die Afghanin, die erst seit vier Monaten in Deutschland ist, unterhalten sich in einwandfreiem Deutsch mit den Münchnern. Im Zweiergespräch geht es auch mal um die Fluchtgeschichten, um den langen Weg nach Europa, aber ansonsten drehen sich die Themen um Arbeit, Freizeit und den Musikgeschmack. Die Gäste legen ihre Musik auf, unter afghanische Klänge mengen sich die deutschen Charts, arabische und europäische Hits wechseln sich ab. Und schließlich tanzen alle.
„Am Anfang war ich schon ein bisschen nervös“, sagt Jackie hinterher, „man weiß ja nie, ob die Gäste auf einer Wellenlänge sind. Sie haben unterschiedliche Hintergründe. Wie harmoniert das? Vielleicht tritt jemand in ein ganz großes Fettnäpfchen, was menschlich ist, was auch nicht schlimm ist, aber was den Abend beeinträchtigen kann. Am Ende muss man ins kalte Wasser springen und dann wird es auch klappen!“ 

Und ob. Bevor sie am späten Abend nach Hause spazieren, haben fremde Menschen Telefonnummern ausgetauscht, viel gelacht, getanzt und „einfach vergessen, was sonst so abgeht“. Und das ist doch weit mehr als nur das Nötigste.

Foto: Jackie Lang, Julien Hoffmann

Soundtüftler

Student David Reichelt schreibt Werbemusik – und jetzt hat er seine erste eigene Oper komponiert. Die Uraufführung findet am 12. Juli in der Reaktorhalle statt

München – Julia hustet. Sie hat überlebt. Ihr Selbstmord ist missglückt. Was sie nicht weiß: Auch Romeo hat seinen Suizid verpatzt. Kurze Zeit später liegt er auf der Intensivstation. Und Julia auf der Chirurgie. Echt blöd für die beiden Liebenden. Aber toller Stoff für eine Oper, die aus dem gescheiterten Liebestod eine spitzfindige Komödie meißelt.

Was wäre wenn? Das fragt sich der Filmkompositionsstudent David Reichelt, 28, auf der Suche nach einem Thema und joggt mit dieser Frage in den Wald. Im Kopf spinnt er den Faden weiter und als er aus dem Wald herauskommt, hat er eine Story in der Hand: Romeo und Julia bleiben mit ihrem Schicksal nicht allein. Auch Tristan und Isolde haben den Liebestod vermasselt. Und so treffen die verwirrten Nordlichter im Krankenhaus auf die heißblütigen Südländer. Es kommt, wie es kommen muss: Julia baggert Tristan an und Romeo bezirzt Isolde. 

Aus der Sprachgewalt der
Figuren filtert der Komponist
die musikalischen Themen

„,La morte di Romeo e Giulietta‘ habe ich in einem Monat runtergehauen“, sagt David lässig. Tatsächlich saß der Filmkompositionsstudent täglich zwölf bis 18 Stunden an seiner ersten Oper. „Manchmal konnte ich nicht mehr schlafen, bin wieder aufgestanden und habe weitergearbeitet“, erzählt David. Der Münchner liebt Herausforderungen. Er ist ein wahres Energiebündel, sportlich, immer präsent und aufgeweckt. Für das Abschlusskonzert sollte er kein reines Konzertstück schreiben, hieß es im Studium, und da war sein erster Impuls: „Hey, ich schreib’ eine Oper.“

Doch wie schreibt man eine Oper? Zunächst einmal brauchte David Text. Und den bekam er von Martin Petschan, einem Kommilitonen aus der Musikwissenschaft. „Die Oper ist in Englisch, Italienisch und Deutsch. Martin hat es vollbracht, über die drei Sprachen Reime zu bauen. Die Musik würde nie so wirken, wenn ich nicht so großartige Texte hätte“, schwärmt David.

Aus der Sprachgewalt der Figuren filterte der Komponist die musikalischen Themen. So gibt es unter anderem ein Liebes- und ein Flirtmotiv, ein Streit- und ein Trauerthema. Tristan und Isolde begleiten nördliche, fast choralartige Klangzüge. Romeo und Julia wiederum sind umgeben von der warmen Klangfarbe der Streicher, die mit viel Vibrato romantische Akzente setzen. „Mein Potenzial liegt darin, schöne, verständliche Melodien zu schreiben. Etwas, das den Leuten gefällt“, sagt David und ergänzt: „Auf jeden Fall bin ich der totale Romantiker!“ Romeo und Julias Liebeskonzept, sich für den anderen zu opfern, empfindet David als „eigentlich richtige Einstellung“. Er bemängelt, „dass heute jeder macht, was er will, sich keiner festlegt, dass alle unverbindlich bleiben“. Im Laufe der Oper verlieren sich die Paare, die sich einst treu bis in den Tod liebten, im polygamen Alkoholrausch. Das klingt nach Gesellschaftskritik. Und doch ist es Davids primäre Absicht, „nicht gesellschaftskritisch, sondern mit Humor ranzugehen“. Neben Lachern gibt es aber auch dramatische Szenen und tief berührende Musik. „Als ich mir alles zum ersten Mal angehört habe, sind mir selbst die Tränen gekommen.“
 Er habe schon immer auf Musik sehr emotional reagiert, erzählt David, der sich als einstiges Problemkind bezeichnet. Nur mit musikalischer Früherziehung war er ruhig zu kriegen. Seine Familie ging mit dem kleinen David in Konzerte und Opern. Mit sechs Jahren wollte er Saxofon lernen. Während seiner Schulzeit komponierte David jeden Tag ein Stück. „Musik war schon immer mein Traum“, erzählt er. „Alle meinten, ich solle Lehrer werden, aber ich habe ja nur ein Leben. Und ich bin hartnäckig geblieben.“

David blättert sich durch seine Oper. Er singt die Arien mit, streckt sich, schwingt die Arme, dirigiert mit den Händen, jagt durch seine Partitur, wacht über jeden Takt. Er sitzt in seinem selbst gebauten Aufnahmestudio, umringt von unzähligen Instrumenten. An E-Gitarren, Ukulelen und Trommeln reihen sich Blasinstrumente aus aller Welt, selbst einen Dudelsack und ein Büffelhorn besitzt er. Während seines Studiums zog er mit dem Saxofon von Bühne zu Bühne, performte in Bands, auf Messen, in Klubs und finanzierte sich über die Auftritte einen Großteil des Studios. Mit seinen Instrumenten stellt er sich regelmäßig vor seine Kabine aus Noppenschaum und spielt drauflos. Am Computer legt er die Stimmen dann übereinander. So entstehen Soundstrecken aller Art – auch für Werbeclips. Zu seinen Kunden zählen inzwischen auch Microsoft und VW. 

Sogar Filme hat der Münchner bereits vertont. Er produzierte den Titelsong von „Im weißen Rössl – wehe du singst“. Und für den nächsten Kinofilm hat er sein Soundsystem schon mit mittelalterlicher Klangfülle gespeist. Wie er zu diesem Erfolg kommt? Für David ist klar: „Die Konkurrenz ist riesig. Du musst der Beste sein und dich von der Masse abheben.“ Gerade Letzteres hat er unter Beweis gestellt, denn kaum jemand schreibt schnell mal so eine Oper. Am 12. Juli ist die Uraufführung in der Reaktorhalle. Und so viel sei schon jetzt gesagt: In Sachen Liebe findet sich eine zeitgemäße Lösung, für die niemand mehr sterben muss.  

Susanne Brandl

Foto: Emanuel Aurel Klempa

Zwei Paar Schuh

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Bei der Firma Shoemates lautet die Devise: „Get one, give one“- 15 Prozent des Verkaufspreises gehen direkt nach Afghanistan, damit dort Kinder Schuhe bekommen

München – Ob Springerstiefel, Pumps oder Luftpolstersandale: Mehr als jedes andere Kleidungsstück verraten Schuhe, woher man kommt, wohin man geht oder wohin man gehört. Jedenfalls hierzulande. In Afghanistan sieht die Lage anders aus. Da stapft das einfache Volk meist barfuß über unebene Straßen. Dreck und Geröll stauben Wege ein. Kinder müssen kilometerlang über steinige Pfade in die Schule laufen. Dort, wo der Schuh mehr als anderswo seinen eigentlichen Zweck erfüllen würde, da fehlt er oft. Schnittverletzungen, Infektionen und Krankheiten sind die Folge.

Doch in einem kleinen Dorf, 50 Kilometer westlich von der Provinz Herat, hüpfen immer mehr Kinder in handfestem Schuhwerk herum. Schuhwerk, das Obaid Rahimi bei einer afghanischen Manufaktur in Auftrag gegeben hat. Aber Obaid lebt schon lange nicht mehr in Afghanistan. Inzwischen ist er Münchner und verkauft mit den Studentinnen Theresa Satzke, 20, und Carolin Toni, 22, schnittige Espadrilles. „Shoemates“ nennen sich die drei. Und ihre Kunden sind in der Regel gut bis sehr gut gebildet. Es sind bevorzugt Frauen zwischen 18 und 38, die sich bewusst gegen die Treter beim Primark um die Ecke entscheiden und auf shoemates.de die leichten Sommerschlupfschuhe für 48 Euro kaufen. Und da kommt Afghanistan wieder ins Spiel. Denn die Kunden wissen: 15 Prozent des Verkaufspreises gehen direkt nach Afghanistan, damit dort Kinder Schuhe bekommen. „Get one, give one“ lautet die Devise – und so bestellt Obaid mit jedem verkauften Espadrilles-Paar regelmäßig ein zweites Paar Schuh in Herat.

Weg von der
Entwicklungshilfe, hin zur
wirtschaftlichen Zusammenarbeit

Der 28-Jährige ist Geschäftsführer des bayerischen Start-ups, das in einem BWL-Seminar an der Uni Passau entstand, als Obaid und seine Kommilitonen für den Wettbewerb „5-Euro-Business“ eine Geschäftsidee entwickeln wollten. Es ging den Studenten darum, neben Profitabilität nachhaltig und sozial zu wirtschaften, also einen Teil des Gewinns an benachteiligte Menschen weiterzugeben. Seit einiger Zeit schon führen sie das Projekt „Headmates“: Sie verkaufen Mützen, die strickbegeisterte Omis aus Alpaka-Wolle fertigen. Davon wiederum profitieren im peruanischen Hochland lebende Hirtenvölker, die zu den ärmsten Menschen der Erde gehören.

Bei ihrem zweiten Projekt entschieden sich die Studenten nun für Schuhe, denn „die spendet man in der Regel nicht“, sagt Obaid, der beim Thema Schuh auch gleich an seine Heimat Afghanistan denken muss. „Im Winter kann es minus 30 Grad kalt werden, da sind Schuhe viel wert.“ Die Schuhe für die Schulkinder sollen afghanische Arbeitskräfte vor Ort herstellen, idealerweise entstehen dadurch Arbeitsplätze.

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Innerhalb weniger Wochen finden Obaid und sein Team einen Espadrilles-Produzenten. Die deutsche Außenhandelskammer empfiehlt ihnen einen vom TÜV geprüften chinesischen Schuhhersteller, dessen hohe Qualitätsstandards bei Produktion, Effizienz und Nachhaltigkeit doppelt zertifiziert sind. Und Obaids Onkel Abdul Qader Rahimi, der bei der „Afghanistan Independent Human Rights Commission“ arbeitet, vermittelt den Kontakt zu einer afghanischen Schuhfabrik. Schließlich knobeln Obaid und sein Team noch am Schuh herum, bis er für die Deutschen „unisex“, „evergreen“ und hip genug ist. Der Schuh für die Afghanen präsentiert sich vor allem funktional, stabil und schlicht. „Wir haben dann beim Wettbewerb den ersten Platz gemacht“, erzählt Obaid.
 Der Jungunternehmer ist selbstbewusst, mit einer gewissen Coolness erwähnt er, dass „Beck am Rathauseck“ jetzt Headmates „haben will“, und dass die Espadrilles demnächst „in der Hohenzollern-straße geführt werden“. Mit einem Lächeln erinnert er sich, wie er als Sechsjähriger aus Afghanistan mit seinen Eltern nach Deutschland kam, weil sein Vater politisch verfolgt wurde. „Ich hatte Privilegien, ich habe in Deutschland gelebt und gelernt. Ich kenne die Kultur der Afghanen, ihre Sprache. Ich muss etwas zurückzugeben.“ sagt Obaid.

Die Taliban fürchtet er nicht. „Es ist ganz einfach. Die Schuhmanufaktur liegt im Westen Afghanistans. Die Taliban sprechen die Sprache da nicht. Die fliegen sofort auf“, sagt er und ergänzt: „Ich glaube, dass sich nur etwas verändern wird, wenn die Menschen dort das selbst herbeiführen. Und wir können sie darin unterstützen“. Er betont dabei, dass „Shoemates“ weg will „von der Entwicklungshilfe zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit“. Auch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)
bewertet es positiv, dass die Schuhe vor Ort produziert werden. „Neuinvestitionen schaffen Arbeitsplätze und Einkommen für die Beschäftigten, durch die Abführung von Steuern auch Staatseinkommen und können so signifikant zur Entwicklung beitragen“, betont Veronika Ulbert, eine Sprecherin des BMZ.

1000 afghanische Kinder haben bereits Schuhe bekommen. Doch das ist dem
Shoemates-Team noch lange nicht genug. Sie suchen Investoren, bald soll es auch Winter-, Damen- und Herrenschuhe
geben. Das Unternehmen wächst weiter und dennoch wird es buchstäblich im-
mer „in den Kinderschuhen stecken“ bleiben.  

Susanne Brandl

Foto: Shoemates

Von Freitag bis Freitag München: Unterwegs mit Susanne

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Vom Regenwetter lässt sich Susanne nicht die Unternehmungslust verderben: Die Hall of Taste im Munich Mixed Arts lädt zum Schlemmen ein, im Lehel kann man auf dem Hofflohmarkt alten Trödel und Raritäten kaufen und ihr Highlight ist das Konzert von Chilly Gonzales in der Münchner Philharmonie

Heute, am Freitag, spaziere ich
schon nachmittags zum Mixed Munich Arts, wohin ich normalerweise erst gegen
Mitternacht aufbreche. Denn in dem gigantischen Heizkraftwerk am Münchner
Königsplatz findet ab 16 Uhr die Hall of Taste statt. Das ist ein Streetfood
Markt, auf dem lokale Köche aus regionalen Produkten multikulturelleSpeisen
aus aller Welt zubereiten. Nachdem ich mich hier ein bisschen durchgeschlemmt habe,
steigt mein Bewegungsdrang. Also trete ich in die Pedale meines
Mountainbikes und heize zur Theresienwiese. Hier treffe ich auf viele
andere Radler, die sich im Namen der Aktion critical mass versammeln, nicht
nur, um zu strampeln: In Form eines kreativen Straßenprotests fahren
diese Fahrradfahrer um 20.30 Uhr vom Fuße der Bavaria aus im Pulk durch die
Münchner Straßen. Sie wollen so auf ihre Gleichberechtigung gegenüber dem
motorisierten Verkehr aufmerksam machen und sich so gegen bonzige
Benzinschleudern behaupten. 

Am Samstag ist bei mir Flohmarkt-Tag. Ich schlendere erst über den Hofflohmarkt
im Lehel
, nicht nur um Schnäppchen einzusammeln, sondern auch, um die urigen
alten Hinterhöfe der schönen Altstadtbauten zu durchstreifen. Anschließend
begebe ich mich zum Second Trend Flohmarkt auf dem Optimolgelände, wo
die Leute sich nicht nur durch die Stände wühlen, sondern bis abends draußen
und drinnen plaudern, trinken und tanzen. 

Am Sonntag folgt nicht nur das Highlight der Woche, nein – schon seit Monaten
freue ich mich auf das Konzert von Chilly Gonzales in der Münchner
Philharmonie
. Mit dem Kaiser Quartett wird der Jazz-Pianist, Komponist und
Entertainer sein neues Album vorstellen und den ganzen Konzertsaal mit seinen
elegischen wie schwungvollen Klanglandschaften in ferne Sphären spielen.
Bevor ich mich aber zum Ende dieser Woche der Musik widme, sehe ich mir am
Sonntag Nachmittag noch junge zeitgenössische Kunst an. Unter dem Motto
Sculpture as Performance“ sind entlang der Pfade und in den Pavillons des
Botanikums Kunstwerke zu sehen, die an der Schwelle zwischen Installation,
Performance und Skulptur zu verorten sind.

Den Start in die neue Woche lasse ich langsam angehen. Erst am Montag Abend
folgt der nächste Programmpunkt auf meiner Eventliste. Ich gehe in ein
Theaterstück, das mir seit geraumer Zeit von allen Seiten empfohlen wurde. Die
Inszenierung von „Und jetzt die Welt“ am Münchner Volkstheater hat sogar beim
Festival „Radikal Jung“ den Publikumspreis gewonnen. In dem Stück von Sibylle
Berg geht es um die Generation von 20 plus, die zwischen Apathie und Selbstoptimierung,
Orientierungslosigkeit und Angst schwankt. Und der Theatertext ist
immerhin von der Zeitschrift „Theater heute“ auch zum deutschsprachigen
Stück des Jahres 2014 ernannt worden. 

Heute, am Dienstag, hoffe ich auf gutes Wetter. Denn ich möchte ins
Viehhof-Kino gehen. Das Gelände, das innerhalb der Baracken des alten
Schlachthofs liegt, hat ein ganz besonderes Flair. Zwischen Graffitis,
heruntergekommenen Backsteinmauern und angrenzenden Gleisen
erhält sich eine kultige, raue Atmosphäre, die für München untypisch ist. Nicht
nur Open-Air-Kino, sondern auch der Nachtbiergarten, Bandauftritte und
viele andere Veranstaltungen locken die Besucher an. Ich interessiere
mich diesmal für das Projekt „1000 Drawings Munich“. Alle, Künstler wie Laien
sind eingeladen, in sogenannten Doodle-Sessions im Viehhof auf DIN
A5-Formaten zu malen, zu zeichnen, zu photographieren, zu kleben und zu
basteln. Endlich werde ich mal wieder selbst kreativ. In „The Night of 1000
Drawings“ im Juli werden die Kunstwerke dann ausgestellt und verkauft. Der
Erlös geht dann unter anderem an die Organisation Refugio.


Mitte der Woche
und Beginn des Sommer-Tollwoods. Nichts wie hin auf das
Festival-Gelände zwischen den grünen Hügeln des Olympiaparks im Norden
Münchens. An diesem Mittwoch muss ich aber nochmal quer durch die Stadt in den
Münchner Süden, zum Kino Mond und Sterne. Denn da läuft ein Film, den ich
leider immer noch nicht gesehen habe, obwohl er sogar ein paar Golden Globes
und einen Oscar gewonnen hat. Für die Filmvorführung der „Entdeckung der
Unendlichkeit
“ ist das Amphitheater des Open-Air Kinos im Westpark unter dem
schier endlosen Sternenhimmel genau die richtige Spielstätte. 

Ab Donnerstag darf es auch mal regnen. Ich ziehe mich zurück in die Kinosäle
dieser Stadt. Denn das Filmfest kommt wieder in die Stadt und wie auf jedem
Filmfestival kann ich mich nicht entscheiden, welchen Film ich zuerst sehen
will. Auf dem Timetable wimmelt es nur so von deutschen, europäischen und
internationalen Spiel- und Dokumentarfilmen. 

Am Freitag geh ich zum Festivalzentrum des Filmfests in den Gasteig, denn
da steigt das Free Open Air, das dieses Jahr dem Swing Tanz gewidmet ist. Neben
Swing Musik werden Filme abgespielt, die bis in die 20er Jahre zurück reichen
und die Geschichte dieses Tanzes widerspiegeln, der gerade wieder eine Art
Renaissance feiert. Das Publikum darf gucken, grooven, tanzen und mitsummen.

 Susanne Brandl

Hüpf und weg

Thomas Bruckmaier hat in München Wohnung und Job gekündigt – jetzt reist er mit einer Hüpfburg durch die Welt. Warum? Um Kindern in aller Welt eine Freude zu machen.

Es ist eine verrückte Idee. Sie hat etwas von einem Kindheitstraum – und doch ist es ein Lebensweg geworden. Ende dieses Sommers hat Thomas Bruckmaier, 27, in München Wohnung und Job gekündigt, eine Hüpfburg in seinen kobaltblauen Mercedes-Bus gepackt und ist losgefahren. Hinaus in die Welt zu all den Kindern, die noch nie gesehen haben, wie sich eine zehn auf zehn Meter große Plastikdecke in eine Burg verwandelt, wie sich Türme aufklappen und Mauern aufplustern. Thomas hat keinen festen Reiseplan. Über seinen Blog hupfundweg.de organisiert er seine Route um die Welt. „Es ist meine Mission, mein Schloss zu all den Kindern zu bringen, die noch nie auf einem der besten Spielzeuge dieser Welt waren“, sagt Thomas. „Wenn ihr Kinder kennt, Schulen, Waisenhäuser, schreibt mir. Wenn es in meine Reisepläne passt, komm‚ ich vorbei.“ Thomas hat inzwischen schon in mehreren SOS-Kinderdörfern Halt gemacht. Von München aus hat er den Balkan angesteuert, seine Hüpfburg war bereits in Slowenien, Kroatien und Bosnien. Überall dort sprangen die Kinder Stunden auf ihr herum. Hopsten, torkelten, plumpsten. Jedes Mal hat Thomas die mächtige Plastikrolle ausgewickelt, aufgepumpt, eingeschrumpft, eingepackt. Da macht selbst die robusteste Hüpfburg hin und wieder schlapp. Zwanzig Mal musste Thomas während seiner Reise schon Löcher flicken. Aber das war für ihn Kleinkram.

Sein ehemaliger Arbeitgeber wollte die Hüpfburg zunächst komplett entsorgen. „Sie war kaputt. Sie hatte 479 Löcher. Da habe ich gesagt, die repariere ich. Die Aussichten waren nicht so gut, niemand hat geglaubt, dass es funktioniert. Aber ich habe es einfach gemacht.“

Was bewegt einen jungen Mann, einen Monat lang 479 Löcher einer maroden Hüpfburg zu stopfen? Er muss besessen sein. Oder tiefenentspannt. Für Thomas war die Sache von Anfang an klar: „Ich hatte ein bisschen Geld angespart. Und dann habe ich mir gedacht, es ist möglich, die Weltreise mit Hüpfburg umzusetzen, also mache ich das jetzt. In zehn Jahren will ich nicht zurückschauen und mir eingestehen müssen, dass ich die geile Idee nicht umgesetzt habe.“

Thomas ist ein Mann mit viel Geduld. Eineinhalb Jahre suchte er nach dem passenden Auto für sich und sein Plastikschloss, bis er im Internet einen betagten Mercedes-Bus gefunden hat. 3900 Euro hat er gezahlt für die alte Karosse, die er hin und wieder reparieren muss. Er hofft, dass ihn der Wagen noch bis nach Indien bringt, denn dahin wollte er „schon immer“. Aber groß in die Zukunft planen will Thomas nicht. „Man muss spontan sein“, sagt er. Denn da ist ja immer noch die Hüpfburg, die richtig platziert sein will. In Istanbul war es äußerst schwer, einen geeigneten Stellplatz zu finden. Aber Thomas ließ nicht locker: „Wenn du den ganzen Tag über nichts anderes als über deine dumme Hüpfburg sprichst, vernetzt dich das Schicksal eines schönen Tages mit den richtigen Leuten.“ Und die richtigen Leute, das waren Jakub und Önver vom schwedischen Kulturinstitut. Die beiden Männer sorgen für syrische Flüchtlinge in einer assyrischen Kirchengemeinde, indem sie Aktivitäten organisieren, um die Asylsuchenden hin und wieder aus dem bedrückenden Zustand des Wartens zu holen.

Da kam die Hüpfburg gerade recht. Zuerst aber musste der Münchner mit dem Bischof von Istanbul sprechen, der die Idee zu Thomas’ Erleichterung absegnete. Dann allerdings standen Bürokratie und Eigentumsrechte im Weg, darüber hinaus war der Hof der assyrischen Kirche den Dimensionen seines Spielmobils nicht gewachsen. Schließlich jedoch stieß Thomas bei einem Streifzug durch Istanbul auf den Parkplatz einer armenischen Kirchengemeinde, die ihnen die Fläche zusagte. Die Flüchtlingskinder staunten, als sich die Hüpfburg vor ihnen aufbaute und immer höher wuchs, immer breiter schnaufte. Erst wichen die Kinder zurück. Doch dann wagte ein Junge den ersten Schritt. „Ganz zaghaft schlich er drauf“, erzählt Thomas, „er wusste überhaupt nicht, was da los ist und hat sich verwirrt umgeschaut.“ Langsam folgten die anderen Kinder hinterher, die Burg beugte und bog sich und schließlich entspannten sich die Gesichtszüge. Die Kinder hatten ihren Spaß, Thomas seine Freude. Inzwischen hat er auf seiner Hüpfburg 689 Kinder gezählt. Und keiner soll für den Hüpfburg-Service zahlen müssen. Thomas lebt von seinen Ersparnissen – und wenn ihm eines Tages doch das Geld ausgehen sollte, kann er auch unterwegs als Webprogrammierer arbeiten.

Er wird bald weiterziehen, Richtung Indien. Auch wenn Thomas die Krisen- und Kriegsgebiete umfahren will, wird es nicht einfach. Er weiß noch nicht, wie die Grenzbeamten reagieren werden – auf seinen alten, kobaltblauen Bus mit der Hüpfburg im Kofferraum.  Susanne Brandl

Weinen, schimpfen, reden

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So einige Sorgen kann das Studentenleben mit sich bringen. Das Team von der Nightline an der LMU gibt Studenten die Möglichkeit, ihre Probleme und Ängste anonym mit jemandem zu teilen.

Da soll nochmal einer sagen, die Studienzeit, das sei die schönste Zeit im Leben. Zur vergeblichen Wohnungssuche gesellen sich Geldsorgen, der ein oder andere Liebeskummer, der erste Bandscheibenvorfall und dann auch noch ungewisse Berufsaussichten. Abends kommt mancher Student nach Hause, fühlt sich leer und erschöpft, er legt sich ins Bett, starrt an die Decke, kann nicht einschlafen. Keine Frage, der Frust muss raus, aber wen kann man denn jetzt noch anrufen?

Ein Telefon klingelt in einem zweckmäßig eingerichteten, kleinen Konferenzraum der Ludwig-Maximilians-Universität. Nach dem zweiten Klingeln geht Marie ans Telefon: „Nightline München, hallo.“ Die Studentinnen Marie, 23, und Christina, 26, sitzen von 21 Uhr bis halb ein Uhr nachts vor zwei Telefonanschlüssen und heben ab, um sich die Probleme ihrer Kommilitonen anzuhören. Die beiden jungen Frauen sind zwei von zwanzig Studierenden, die neben ihrem Studium ein anonymes, kostenloses Sorgentelefon anbieten.

Am anderen Ende der Leitung herrscht häufig zunächst Schweigen und manchmal legen die Anrufer einfach auf. Bleiben sie dran, erwähnen sie oft erst nach einiger Zeit, sie hätten da so ein Problem. „Ich hätte es zu schätzen gewusst, in Situationen, wo ich unter Druck war, anonym mit jemandem reden zu können“ sagt Christina, die aus eigener Erfahrung weiß, wie schwierig es ist, auf einem riesigen Campus enge Freundschaften zu knüpfen, Heimweh oder Stress im Studium zu bewältigen. Immer weniger Studenten können mit einem ansteigenden Studienstresspegel umgehen, wie eine 2012 durchgeführte Forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse in Nordrhein-Westfalen ermittelte. 75 Prozent der Befragten fühlen sich nervös und unruhig, 23 Prozent haben Phasen tiefster Verzweiflung, und 15 Prozent leiden unter Panikattacken. Als Folge greifen immer mehr Studenten zu Psychopharmaka oder suchen einen Therapeuten auf.

Die Probleme, die Marie und Christina zu Ohren bekommen, haben häufig mit Studienstress zu tun, aber viele erzählen auch von Beziehungskrisen, Familienproblemen und Einsamkeit. Da hilft vorurteilsfreies Zuhören, auf das sich die Nightliner spezialisiert haben. Es geht um eine „nicht direktive Gesprächsführung“, Ratschläge dürfen Marie und Christina nicht geben. „Viele Anrufer wollen oft gar keine Ratschläge hören, die wollen sich einfach nur aufregen.“ Gerade Letzteres ist gesellschaftlich verpönt, von Familienangehörigen oder Freunden wird es schnell als unnötige Hysterie abgetan. Die Nightline-Studenten/innen aber nehmen jeden inneren Aufruhr ernst. So dient die Telefonleitung hier auch als Filter. Alles, was in den Studierenden rumort, entladen sie über den Hörer. Denn wenn der Anrufer einmal in einen Monolog eingetreten ist, dann wird dieser „auch von Gefühlsausbrüchen, wie Ärger oder heftigem Weinen“ begleitet.

All der nächtliche Kummer, den die Nightliner auffangen, nagt bisweilen auch an deren Nerven. „Dafür haben wir einmal im Semester eine Supervision mit einem professionellen Psychologen“ erklären Marie und Christina, die manchmal erst nachts um halb 2 ins Bett gehen. Am nächsten Tag müssen sie dann fit sein, Marie studiert Physik und Christina Biochemie. Sie selbst wirken wenig belastet, aber doch nachdenklich, wenn sie von ihren Nachtschichten erzählen. Dabei prüfen sie ihre Sätze, ihre Worte wählen sie bedächtig, im stetigen Blickwechsel miteinander. Sie wollen anonym bleiben, um jedem, auch Freunden und Kommilitonen, die Chance zu lassen, anonym bei ihnen anzurufen.

Das Wälzen der Probleme kann bis zu zwei Stunden dauern, während die Nightliner die Problematik immer wieder zusammenfassend einkreisen. „Das Erstaunliche ist, dass die Anrufer durch das Reden oft auf neue Ideen kommen und ihre Lösungsansätze selbst finden“, sagt Marie und freut sich: „Es ist eine Bereicherung, ich lerne aus den Gesprächen, wie andere Probleme sehen und Lösungen finden, das ist echt spannend“. Und so begegnen sich nachts, wenn München schläft, zwei junge Menschen auf Augenhöhe – nur übers Ohr. Das allerdings ist „offen für jedes kleinste Problem“. Susanne Brandl

Nightline München, Di, Mi, Do von 21.00 bis 0.30 Uhr, Tel.: 3571 3571

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Hunde im Garten

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Ganz intim gehen die Young Chinese Dogs jetzt auf Deutschland-Tour, von Wohnzimmer zu Wohnzimmer, von Sofa zu Sofa. Den Auftakt geben sie bei Emma im Norden Münchens, draußen auf der Terrasse, zwischen Tomatenstaude, Apfelbäumchen und wildem Wein.

Mit einem Klick und drei Worten trifft Emma Pongratz im Januar ihre Wahl zur Band des Jahres 2013 der Junge-Leute-Seite der SZ: „Young Chinese Dogs“. Die Band gewinnt. Emma auch. Sie muss nirgendwo einen Preis abholen oder ein Treppchen besteigen. Sie bekommt ganz einfach Besuch – von den Young Chinese Dogs, die für sie ein Privatkonzert geben. Die Münchner Band spielt einen erfrischenden Indie-Folk-Pop. Mal elegisch, mal euphorisch schlängelt er dahin. Mit reinem Akustiksound von Akkordeon, Gitarre, Ukulele, Trommel und charmantem Gesang geht die Band jetzt auf Tour – ganz intim, von Wohnzimmer zu Wohnzimmer, von Sofa zu Sofa. Den Auftakt geben sie bei Emma im Norden Münchens, draußen auf der Terrasse, zwischen Tomatenstaude, Apfelbäumchen und wildem Wein.

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Fotos: Käthe DeKoe

Es ist die geeignete Kulisse für einen sehr persönlichen, direkten Auftritt. Die Lichtanlage besteht in einer goldgelb flimmernden Gartenlampe. Ihr Schimmer liegt auf den Gesichtern der vielleicht 20 Gäste. Birte Hanusrichter, Nick Reitmeier und Oliver Anders Hendriksson grinsen viel beim Singen, mit kleinen Neckereien foppen sie sich gegenseitig. Sie kosten die intime Atmosphäre aus, bringen die Leute zum Lachen. Einer lästert über die Setlist, der andere „kann keine Noten lesen“ und am Ende unterbricht Birte das Lied: „Irgendwer spielt falsch“, also noch mal von vorn. „Zugabe“ fordern die Gäste am Ende, und das Trio hat noch einiges im Gepäck, immerhin spielen sie erstmalig sieben neue Songs.

„Ihr ward total grandios“, bedankt sich Emma schließlich und sagt, sie fühle sich „auf besondere Art verbunden“. Denn: Emma macht selbst Folkmusik, mit ihrem Trio Violalilliemma war sie auch schon „Band der Woche“ der Junge-Leute-Seite. Und wer weiß, die Wahl zur Band des Jahres 2014 steht noch aus.

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Susanne Brandl

Nachhaltig unter der Discokugel

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Den Vorwurf, nichts zu sagen zu haben, kann man der Gruppe rehab republic nicht machen. Mit Kleidertauschpartys und außergewöhnliche Partys möchten sie Themen wie Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz in die Mitte der Gesellschaft rücken. Zuletzt luden sie unter dem Namen „Clubmob“ ins Milla ein, um den gewaltigen Co2-Verbrauch in Diskotheken zu verringern.

Im Kino läuft zur Zeit „Wir sind die Neuen“ – eine Komödie, in der drei Alt-68er feststellen müssen, dass die jungen Menschen von heute für nichts mehr kämpfen außer für ihre Examen. „Es hat nie eine Generation gegeben, die über so viele Kommunikationsmittel verfügt und dabei nichts zu sagen hat“, behauptet der 60-jährige Alt-Hippie Johannes gegen Ende des Streifens. Aber stimmt das? Kreisen die jungen Leute von heute wirklich nur noch um sich selbst, interessieren sie sich nur für ihre eigene Karriere und haben ansonsten zu nichts eine Meinung?

Den Vorwurf, nichts zu sagen zu haben, kann man zumindest einer Gruppe junger Münchner nicht machen. Unter den Namen „rehab republic“ haben sich Studenten, junge Pädagogen, Medienschaffende, Informatiker, Philosophen und Wissenschaftler zusammengeschlossen, um die Themen Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz noch mehr in die Mitte der Gesellschaft zu rücken. Auch die Studentin Dorothea Kimmerle ist schon seit einiger Zeit ein engagiertes Mitglied bei rehab republic, da sie es zu „einseitig und langweilig“ findet, sich nur um ihr Studium zu kümmern. „Die Gleichgültigkeit der Leute macht mich traurig“, sagt sie, „ich mag Menschen, die eine Leidenschaft haben.“

Und so suchte die 25-Jährige in der Münchner Gesellschaft, wo „jeder in seiner kleinen Mühle vor sich hin arbeitet“, nach Personen, die mal „einen Leerlauf einlegen, um Sachen zu erkennen“. Dorothea schätzt „das Positive“ und die Effizienz an den Kampagnen von rehab republic, die sich nicht gegen, sondern für etwas einsetzen und radikale, aktivistische Umtriebe ausklammern. 

Die Macher von rehab republic sind keine realitätsfernen Idealisten, die sich in ihrem Selbstversorger-Bauernhof verschanzen. Sie rennen nicht mit erhobenem Zeigefinger durch die Straßen, sie hausen nicht in autonomen Kommunen, sie schreien keine Parolen auf Demos. Sie belohnen Fahrradfahrer, indem sie ihnen Äpfel schenken. Sie tanzen in einer Silent-Parade auf Münchner Plätzen und verteilen Kopfhörer, durch die Wortbeiträge nachhaltig lebender Menschen schallen. Sie veranstalten Kleidertauschmärkte. Und nicht zuletzt feiern sie außergewöhnliche Partys. Sie sind sich der Größe der Herausforderungen der jetzigen Generationen bewusst und möchten mit „kleinen Schritten“ in eine nachhaltige Zukunft gehen, „um schwere Krisen und Konflikte zu vermeiden“, und möglichst viele Menschen einbinden.

Erst kürzlich haben sie mit dem Jugendverband vom Bund Naturschutz den sogenannten „Clubmob“ (Fotos: rehab republic) organisiert. Um den gewaltigen jährlichen Kohlenstoffdioxid-Verbrauch eines Clubs zu senken, bietet die rehab republic den Münchner Clubbetreibern eine kostenlose Energieberatung an. Die Clubbetreiber versprechen im Gegenzug, mit den Einnahmen einer Clubnacht Energiesparmaßnahmen vorzunehmen. Und so stieg kürzlich in der Münchner „Milla“ eine große Party, die Tanzfläche füllte sich gegen Mitternacht mit Nachtschwärmern und die Menge wippte zu funkigen Beats. Doch über den Köpfen glänzte nicht nur die Discokugel. Hier flimmerten auch Schriftzüge, die ein Beamer an die Wand warf: „Wusstest du, dass ein mittelgroßer Club 90 Tonnen CO₂ im Jahr ausstößt? Das ist in etwa so viel, wie wenn du 25 mal von München nach Tokio und zurück fliegen würdest“, oder „wie wenn du 325 Tage im Jahr ununterbrochen heiß duschen würdest“. Und: „Um diese Menge an CO₂ zu absorbieren, müsstest du zehn Fußballfelder Wald pflanzen, nur kann man dann nicht mehr Fußballspielen“. Diese Zahlen und Fakten verdarben niemanden an diesem Abend im Milla die Laune. Im Gegenteil. Die Menge wusste, umso mehr sie feiern würde, desto mehr Geld käme in die Kasse für energieeffizientere Ton-, Licht- und Kühlungsanlagen.
 
Dorothea war zufrieden mit dem Abend, mit der Stimmung und damit, dass rehab republic mal wieder der Öffentlichkeit gezeigt hat, dass Energiesparen Spaß machen kann. Es war nicht schwer, die Club-Betreiber zu überzeugen, beim Clubmob mitzumachen. „Zum Glück ist es zur Zeit einigermaßen modern, nachhaltig zu sein“, sagt Dorothea und ergänzt schmunzelnd: „Wer weiß, vielleicht mobben wir irgendwann das P1.“

Bis dahin veranstalten sie allerdings noch eine Menge andere Aktionen. Bald gibt es eine „Turboschnibbelparty“, bei der rehab republic und die Initiative Foodsharing aussortiertes Obst und Gemüse aus Supermärkten holen, um es zu Partyfutter zu verarbeiten. Bei Live-Musik und Speed-Dating laden sie zum „Schnibbeln“, Essen und Tanzen ein. Während die Leute eine Gurke zerlegen, plaudern sie dann zum Beispiel über die Nahrungsmittelverschwendung, über die 80 Kilogramm Lebensmittel, die jeder Deutsche im Jahr im Durchschnitt in die Mülltonne wirft und dass „die Karotte sich ihr Ende sicher auch anders vorgestellt hat“. Auf jeden Fall aber wird mal wieder gefeiert – so, als gäbe es ein Morgen. Susanne Brandl