Mut zum Tackling

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Bei den ersten Football-Trainingseinheiten in Starnberg zeigte sich Jasper Friis, 18, noch extrem schüchtern. Jetzt spielt er in der ersten College-Liga in den USA.

Auf dem Tisch liegt ein Tablett, darauf ein beachtlicher Berg Pommes. „Heute ist Cheat-Day“, sagt Jasper Friis und beißt von einem triefenden, panierten Hähnchenteil ab. Er sitzt in einem Münchner Fast-Food-Restaurant und genießt eine Woche Heimaturlaub. Der 18-Jährige hat pro Woche einen Tag, an dem er sich um seinen strikten Ernährungsplan schummeln darf. Man sieht Jasper an, dass er gerne isst. Auf seine zwei Meter Körpergröße kommen knapp 150 Kilo. Verzichten fällt ihm im Moment aber besonders leicht: Seine Karriere als Leistungssportler ist in jüngster Zeit sehr schnell sehr ernst geworden: Die University of California, auch bekannt unter dem Namen „Berkeley“, hat den jungen Mann aus Gauting für ihr Football-Team rekrutiert. Er spielt kommende Saison in der ersten College-Liga. Football trainieren Amerikaner gerne schon im Kindesalter – nicht nur erstaunlich, dass ein Deutscher den Sprung schafft, Jasper ist erst im Teenageralter zu diesem Sport gekommen.

Ein Blick zurück: Zwei Dutzend Jungs zwischen 14 und 19 hatten gerade die zweite Runde um den Platz gedreht und warfen sich für ihre Dehn- und Aufwärmübungen in den Matsch. Sie waren mit dem Warm-up fast fertig, da eilte ein Nachzügler aus der Kabine die Treppe hinunter auf den Rasen. Er hatte jemanden mitgebracht – Jasper. Dieser wolle einmal probehalber mittrainieren. Der damals noch Zwölfjährige zog den ein oder anderen unauffällig musternden Blick auf sich. Manch einer war zwei Köpfe kleiner als er. Seine wuchtige Statur hätte es ihm erlaubt, bei den Herren mitzuspielen. Die Trainer erkannten angesichts seiner körperlichen Voraussetzungen Potenzial und wollten den Neuling ins Team aufnehmen. Sie stellten ihn in die Offensive Line, jene Reihe von Spielern, die den Spielführer, den Quarterback, beim Werfen beschützt und für den Ballträger, den Runningback, Gegner aus dem Weg schaufelt. Die schweren Jungs im Football.

Seinen Teamkameraden – vor allem den unerfahrenen – kostete es erst einmal Überwindung, die Karambolage mit solch einem Schwergewicht zu suchen. Aber das legte sich im Training schnell, beim „Big-Cat-Drill“ etwa. Hier stehen zwei schwere Spieler nur eine Ball-Länge entfernt in einer Pose gegenüber, die an einen Sumokampf erinnert. Wer es auf Pfiff schafft, den anderen mit gebündelter Kraft weiter nach hinten zu schieben, gewinnt. Eine Aufgabe, bei der man davon ausgehen würde, dass Jasper es durch seine körperliche Überlegenheit einfach gehabt hätte – dem war aber keineswegs so: Sogar die Schmächtigsten unter seinen Teamkollegen schoben den Riesen über das Feld, als wäre es ein Schachspiel. Sie bemühten sich beim Drill sogar um den Platz in der Schlange, der sie gegen Jasper antreten ließ, er galt als leichtes Ziel.

Jasper selbst hatte damals seinen Körper nicht verstanden. Die Schere zwischen seiner Physis und seiner Persönlichkeit klaffte weit auf. Öffnete er den Mund, um sich vorzustellen, so kam ein sanftes Piepsen an die Oberfläche, wo man ein maskulines Grummeln erwartet hätte. Es wirkte, als könnte er nicht einmal einer der aggressiven Starnberger Moor-Mücken einen Flügel krümmen, die in dichten dunklen Wolken den Footballern beim Training das Leben erschweren. „Ich war traurig, weil ich wusste, dass ich besser sein könnte“, sagt er heute.

Jasper arbeitete in Starnberg zwei Jahre lang an sich. An seiner Explosivität und seiner Technik. Von diesem Punkt an ging alles unglaublich schnell: Er wurde in die Bayerische Landesauswahl aufgenommen, in der Saison darauf rekrutierte ihn die Jugend-Bundesliga-Mannschaft der Razorbacks aus Fürstenfeldbruck. Videomaterial von seinen Spielen geriet in die Hände amerikanischer Coaches und überzeugte. Er wurde nach San Bernardino eingeladen, um für die Aquinas-Highschool aufzulaufen. Einmal in Amerika Football spielen – in seinem bisherigen Freundeskreis war das der Traum aller. Als er den Vertrag in Berkeley unterzeichnete, verpflichtete er sich dazu, diesen Traum zur täglichen Routine zu machen.

Momentan muss er dreimal die Woche um 5.30 Uhr aufstehen. Er verlässt das Wohnheim früh am Morgen, um zum Stadion zu gehen. Die Ernährungsschulungen haben ihm beigebracht, dass ein Stück Ananas oder ein Energieriegel an dieser Stelle als Frühstück reichen muss. Zwei Stunden lang trainiert er, während seine Kommilitonen noch schlafen. Danach muss er wie jeder andere Student in die Vorlesung. Berkeley gilt akademisch als Elite-Uni, das macht die Sache für Jasper nicht gerade leichter. Angewandte Mathematik studiert er. Um 16 Uhr hat er wieder für die nächste Trainingseinheit auf dem Platz zu stehen. Noch hat die Saison nicht begonnen, aber spätestens dann findet das Programm täglich statt.

Zurück im Fast-Food-Restaurant: Jasper saugt an einem Strohhalm, um die letzten Tropfen Sprite aus dem Becher zu ziehen. Jasper merkt, dass auf einmal jeder mit ihm befreundet sein will, jetzt, wo er zu den aufsteigenden Sportlern gehört. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass aus Jasper in den kommenden Jahren einer von den ganz Großen wird. Reserviert bleibt seine Freundschaft aber denjenigen, sagt er, die den Willen und die Arbeit sehen, die Jasper in seine Leidenschaft steckt – und nicht nur das Logo auf seinem Trikot.  

Text: Hubert Spangler

Foto: Ariel Nava

Couragierter Schnitt

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Modedesignerin Lisa Haas, 25, entwirft ihre T-Shirts nach dem „Zero-Waste“-Prinzip. Sie will keine Ressourcen verschwenden und Stoffreste nicht unnötig wegwerfen.

Das Etikett hängt aus dem orangefarbenen Kragen. Es lugt nicht nur heraus, das Schild fällt bis weit in den Rücken, es ist deutlich sichtbar. „Courage“ steht dort in Großbuchstaben, Mut. „Das Etikett ist im Inneren eines Kleidungsstücks und normalerweise sieht man es nicht“, sagt Modedesignerin Lisa Haas, 25. „Es ist somit etwas Persönliches. Wenn ich etwas trage, in dem ich mich wohlfühle, dann habe ich ein sicheres Auftreten und genau dieses Gefühl möchte ich den Trägern vermitteln, daher auch der Schriftzug ‚Courage‘.“

Mut, der Ausdruck passt auch zur Designerin selbst. Sie entwirft ihre T-Shirts nach dem „Zero-Waste“-Prinzip. Das bedeutet, dass bei einer Produktion möglichst keine Ressourcen verschwendet und unnötig weggeworfen werden dürfen. In der Mode wären es etwa Stoffreste, die übrig bleiben und anschließend entsorgt werden müssen. Die Motivation, Kleidung nach diesem Prinzip zu entwerfen, hat sich während Lisas Modedesignstudiums an der Mediadesign Hochschule München entwickelt, als sie sich näher mit der Stoffverarbeitung und der Herstellung auseinandergesetzt hat. Und diesem Prinzip der Nachhaltigkeit will sie auch jetzt, nach Abschluss des Studiums, treu bleiben – doch damit hat sie es in der Branche schwer. 

Lisa sitzt in den Räumen des Künstlerkollektivs „The Stu“, bei der junge Kreativschaffende aus den Bereichen Mode, Kunst, Musik oder Fotografie Räume für ihre Projekte nutzen können. Hier hat sie an ihrer ersten Kollektion gearbeitet. Das Prinzip „Zero Waste“ hat sich in der Mode noch nicht durchgesetzt: „Ich finde es schade, dass so viel Stoff weggeworfen wird. Man könnte aus der Menge weggeworfener Stoffe so viele neue Kleider nähen. Es wird am laufenden Band produziert und die Konzerne werfen Kleidung weg, anstatt sie weiterhin zu verwerten“, sagt Lisa.

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Bei ihrer Kollektion entsteht aus einem großen, rechteckigen Stück Stoff ein T-Shirt. Der Stoff wird so geformt und geschnitten, dass kein Verschnitt entsteht. Das bedeutet, dass der gesamte Stoff für ein Kleidungsstück verwendet werden kann. Die Produktion nach diesem Prinzip ist neu und erfordert viel Übung. „Anfangs ist es sehr knifflig herauszufinden, auf welche Weise der Stoff geformt werden muss. Da kann es leider durchaus passieren, dass Verschnitte entstehen.“ Das Material, das sie für ihre Kleidungsstücke verwendet, ist „organic cotton“, ein umweltfreundlicher und ökologisch nachhaltiger Baumwollstoff. Diesen bezieht sie von Stoffherstellern, die sich darauf konzentriert haben, nachhaltige und transparente Mode zu produzieren: „Mir ist es wichtig zu wissen, woher die Klamotten stammen und die einzelnen Produktionsschritte zu kennen. Natürlich ist diese Mode teurer. Aber die Nachhaltigkeit macht es wett und die Kleidung hält länger.“  

Doch es müssen nicht nur neue Stoffe sein, mit denen sie arbeitet. Auch die Stoffe von älterer Kleidung können für neue Kleidungsstücke verwertet werden, sagt Lisa. In ihrer Freizeit trägt sie gern lässige Männermode wie die Lederjacke oder die Anzughosen ihres Vaters, die sie dann nur leicht umschneidert. Auffallend sind auch die dicken Kreolen an ihren Ohren, die ihre Mutter in ihrer Jugend getragen hat. Sie wühlt gerne in den alten Kleidungsstücken ihrer Eltern und schaut, was sie davon tragen oder was sie aus den Stoffen machen kann. Ihr ist es wichtig, dass die Kleidung, die sie entwirft, klassisch ist: „Ich möchte Kleidung entwerfen, mit der man sich mit 18 oder 65 Jahren wohlfühlt und die auch bleibt.“ 18 oder 65? Wie soll so eine Kleidung denn aussehen? 

„Diese Frage kann man pauschal nicht beantworten“, sagt Lisa. „Jeder entscheidet individuell, was für ihn klassische Mode ausmacht und welche Kleidung man in 20 Jahren noch einmal tragen möchte. Ich verbinde klassische Mode mit Zeitlosigkeit.“ Auch ihre Mode ist klassisch – und doch fällt immer ein Farbtupfer auf. Bei den Shirts ihrer Kollektion ist es der orangefarbene Kragen. Sie selbst trägt häufig bunte Häkelketten – eines ihrer Markenzeichen, die sie auch in ihre Shirts integriert.

Lisa sitzt an ihrem Arbeitsplatz. Konzentriert schaut sie auf einen großen Stoff in roter Farbe. Neben ihr liegen ein Maßband und eine Schere. Sie überlegt sich, an welcher Stelle sie die Schere ansetzen soll, um ihn zu schneiden. Auf dem großen Tisch steht eine graue Nähmaschine und dahinter liegen bunte Stoffe und mehrere Häkelketten in kräftigen Farben wie rot, grün oder gelb. Ein gehäkelter Ring ist mit dem anderen verbunden und bildet eine Kette. „Für einen Ring brauche ich ungefähr 20 bis 30 Minuten. Durchschnittlich stelle ich für eine Kette, je nachdem wie lang sie ist, bis zu 50 Ringe her“, sagt die 25-Jährige, die an diesem Tag selbst eine solche Kette in den Farben Blau und Gelb trägt, ihren Lieblingsfarben. Der bunte Farbmix auf dem Tisch bildet einen starken Kontrast zu dem hellen und minimalistisch eingerichteten Raum. Lisa greift jetzt nach der Schere und schneidet den rechteckigen Stoff quer durch. Der erste Schritt ist getan – es wird so gut wie kein Stoffabfall entstehen.

Mit ihrer Abschluss- und T-Shirt-Kollektion hat sie sich bei Labels beworben, die nachhaltige Mode produzieren und bei denen die einzelnen Produktionsschritte transparent sind – bisher noch ohne Erfolg, denn dieser Markt und somit auch die Stellen sind überschaubar. Im High-Fashion-Bereich hat sich das Prinzip der Nachhaltigkeit noch nicht durchgesetzt. „Damit sich was verändert, muss eine Verlangsamung stattfinden“, sagt etwa Modefotograf Arton Sefa, der seit mehreren Jahren große Designer wie Vivienne Westwood oder Stella McCartney auf Modewochen begleitet. „Sobald eine Kollektion draußen ist, wird sofort die nächste produziert. Es bleibt kaum Zeit für ein Umdenken oder dafür, sich zu überlegen, wie man die Materialien am besten verwerten kann. Der Druck ist enorm.“

Es liegt aber auch an den Menschen, findet Lisa Haas. Für die Zukunft wünscht sie sich, dass sich die Leute mehr Gedanken darüber machen, was sie genau tragen, und dass ihnen bewusst werden sollte, dass sie nicht 20 T-Shirts für fünf Euro oder zehn Paar billige Hosen brauchen. Sie betont dabei auch, dass sie niemandem ein Schönheitsdiktat auferlegen möchte: „Die Leute sollen das tragen, was sie wollen“, sagt sie. Aber eines ist ihr wichtig: „Jedes Kleidungsstück ist etwas Besonderes und das soll auch so bleiben.“

Text: Serafina Ferizaj

Fotos: Robert Haas, Manuel Nieberle

Zeichen der Freundschaft: Post für Dich

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In der Schule haben unsere Autorin und ihr Freund Alex zusammen die schlimmsten Lehrer überstanden, jetzt trennen sie mehrere Stunden
Autofahrt. Aber sie haben einen besonderen Weg gefunden, ihre Freundschaft am
Leben zu erhalten…

Ich springe die zwei
Stufen zu meiner Haustüre hinauf. Mit einer Bewegung sperre ich auf und bin
auch schon durch die Tür. Einmal um die Ecke, meine Finger suchen wie von
selbst den kleinsten Schlüssel am Bund. Meine Augen wandern über die Wand mit
den braunen Metallkästen. Sie bleiben genau in der Mitte hängen. Ich schiebe
den Schlüssel ins Schloss und ich wappne mich für die Leere, die mir gleich
entgegenschlagen wird.  Außer der
“Das Stück für zwei Euro”- Pizzabude nebenan, die nur darauf wartet,
vom Gesundheitsamt geschlossen zu werden und Ikea schreibt mir nämlich nie
jemand. Naja, fast nie. Denn alle paar Monate kommt so ein Tag wie heute. Ich
öffne die Türe und eine Postkarte fällt mir entgegen. Meine Finger können sie
nicht mehr auffangen und sie landet am Boden. Ich bücke mich nach der Karte und
werfe  einen kurzen Blick auf die
Rückseite. Strichmännchen schauen mir entgegen. Ich weiß sofort, von wem die
Karte ist.

Alex und ich haben uns auf einem Schüleraustausch kennen
gelernt. Zwei Wochen und zwei Transatlantikflüge später und wir waren
unzertrennlich. Vielleicht weil Alex und ich uns beim Reisen kennengelernt
haben, versuchen wir heute noch, den anderen an unseren Urlauben teilhaben zu
lassen. Denn im Alltag sehen wir uns nie so oft, wie wir gerne würden. Alex
entschloss nach dem Abitur, in Österreich sein Glück zu suchen (oder besser
gesagt, einen interessanten Bachelorstudiengang ohne N.C.) und ich zog nach
München. Gerade weil wir uns oft nur in den paar Monaten zwischen den Semestern
sehen, ist das Postkartenschreiben unsere Tradition geworden. Kleine
Erinnerungen an unsere Freundschaft, die irgendwie immer genau zum richtigen
Zeitpunkt im Briefkasten landen.

Seit unserer Zeit in Amerika sind sieben Jahre und viele
Urlaube vergangen. Mittlerweile sind für mich Ferien undenkbar, in denen ich
nicht fieberhaft nach der lustigsten, ausgefallensten oder oft hässlichsten
Postkarte suche. Während meines Urlaubs an der Ostküste der Vereinigten Staaten
habe ich fast zwei Wochen mit der Suche verbracht, nur um dann festzustellen,
dass Washington D.C. der Albtraum für Postkartenschreiber ist. Leider kein
Touristenladen weit und breit, der die Straßenzeilen entstellt. Letztendlich
fand ich eine Postkarte, in einem leergekauften Drogeriemarkt, ganz hinten zwischen
ausgelaufenen Schneekugeln. Ein vergilbtes Exemplar, scheinbar übrig geblieben
aus den Neunzigerjahren. Ein wahres Kunstwerk aus zufällig ausgewählten
Wahrzeichen Washingtons, die in der Luft zu schweben scheinen, gemalten
Kirschblüten und Feuerwerk, alles vor einem sternenklaren Nachthimmel. Damit habe
ich eindeutig gewonnen.

Denn mit der Zeit haben wir beide den Ehrgeiz entwickelt,
kreativere Postkarten zu schreiben als der andere. Berichte vom Wetter und
Beschreibungen des Hotelstrands sind uns zu langweilig. Alex zeichnet gerne
Comics und viele seiner Karten zieren minimalistische Zeichnungen, die
teilweise nur mit einer Lupe zu entziffern sind. Meine aufwendigste Karte
bisher schickte ich aus einem verregneten Nordseeurlaub. Genauer bestand sie aus
zwei Teilen: für die erste Karte dachte ich mir einen Geheimcode aus, auf
dessen Lösung man nicht ohne Hilfe kommen konnte. Und die zweite Karte
beschrieb ich mit dem Lösungsschlüssel für die erste. Diese schickte ich
natürlich erst eine Woche später los, um Alex warten zu lassen.  Doch der Höhepunkt unseres Postkartenwechsels
war sicher eine Karte mit einem Herz vorne und einem Heiratsantrag hinten.
Nein, nein, nicht das was ihr jetzt denkt! Es war doch nur ein Experiment, ob
mein Briefträger die Karten liest, die er austrägt…
Es gibt wirklich nichts, was nicht auf der Rückseite einer Postkarte den Weg in
den jeweils anderen Briefkasten gefunden hat. Wir bewahren alle Postkarten
sorgsam auf und scherzen darüber, uns auch noch zu schreiben, wenn wir neunzig
sind.

Die heutige Karte ziert ein eher uninteressantes Bild eines
einsamen Weinbergs in mitten von Hügeln. Die Rückseite ist dafür umso dichter
beschrieben, wie um die Leere der Vorderseite auszugleichen. Alex hat ein
Gitter aus kleinen Kästchen gezogen und in jedes Quadrat eine Szene mit
Strichmännchen gemalt. Ereignisse aus seinem Alltag. Es sind zwar nur banale
Erzählungen, aber auf eine Postkarte geschrieben haben sie meinen Tag versüßt.
Irgendwie sorgen unsere Karten immer dafür, dass wir uns nicht aus den Augen
verlieren.

Text: Annika Wiedemann

Foto: Yunus Hutterer

Band der Woche: Isarkind

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Wenn es einen Musikstil des 21. Jahrhunderts gibt, dann ist es die elektronische Musik. Normalerweise sind die Beats computergeneriert und werden nie live mit Instrumenten gespielt. Bei dem Münchener Techno-Duo Isarkind ist das anders…

Bei solchen Erinnerungen freuen sich die heute weit über 30-Jährigen: die Isar-Partys in München. Als das mit dem Techno als neue Musikrichtung anfing, zu Zeiten, als München noch eine Sperrstunde hatte, entwickelte sich eine Szene außerhalb der bestehenden oder neu entstehenden Clubs: Partys in Unterführungen, in verlassenen Gebäuden oder eben gleich ganz unter freiem Himmel an der Isar. Heute wirkt das hier alles organisierter – und natürlich ist elektronische Tanzmusik in all ihren Facetten einer viel breiteren Masse zugänglich geworden als Mitte der Neunzigerjahre. Doch in ein paar Münchner Projekten setzt sich diese Kombination aus anarchistischer Raum-Ergreifung und elektronischer Musik fort. Seit 2010 etwa gibt es die Gruppe Isar Bass. Mit Bollerwagen, Soundanlage und Bierkästen kehrten die an die Isar zurück, um dort Partys zu veranstalten, die sich der inzwischen stark kommerzialisierten Clubszene entziehen.

Das Duo Isarkind trägt den Fluss der Stadt hingegen eher als eine Art Motto im Namen, auch wenn sie musikalisch ebenfalls der elektronischen Musik und dem Techno nahestehen. Nur verzichten sie auf dort sonst übliche Insignien: keine Turntables, keine Computer und keine Synthesizer. Dafür eine konventionelle Bandaufstellung aus Schlagzeug und Gitarre. Schlagzeuger Michael Steinberger und Gitarrist Christian Pfaffinger spielen damit fließenden Analog-Ambient. „Clubsound mit Schlagzeug und Gitarre zu spielen, ist deshalb so spannend, weil wir den Sound live jedes Mal neu formen können“, erklären sie. Die Instrumente seien „vielschichtiger als elektronische Sounds, sie schwingen anders und zwar bei jedem Anschlag“.

Es ist erstaunlich, wie selten es solche Bands gibt. Elektronische Musik ist gegenwärtig prägend wie kaum ein anderer Musikstil. Trotzdem kommt fast niemand auf die Idee, das mit Live-Instrumenten umzusetzen. Wie sehr das knallen kann, zeigte Mitte der Nullerjahre zuletzt die Münchner Band Pollyester. Isarkind sind ein bisschen zugänglicher und lieblicher als die frühen Pollyester. Die Musik ist wolkiger, sie spielen den Techno nicht nur nach, sondern formen diese Musik weiter. Das mag auch an der klassischen Band-Erfahrung der beiden liegen: Im niederbayerischen Hinterland aufgewachsen, haben sie in diversen Punk- und Alternative-Bands gespielt. 

Im Sommer 2017 erschien das selbstbetitelte Debüt-Album. Elf Tracks zwischen treibenden Sechzehntel-Noten und pulsierenden Bass-Drum-Schlägen am Schlagzeug und beinahe psychedelischen Gitarren-Pickings. „Klar knallt das nicht so derbe wie ein High-End-Electro-Beat“, geben sie zu, aber ihnen ginge es sowieso viel mehr um „Atmosphäre und Dynamik“. Dabei entsteht etwas Spannendes. Denn in dieser Musik liegt im Hören plötzlich die Verbindung von Postrock und modularer, technoider Musik offen. Die Gitarren, die Harmonien und die monotonen Kompositionen kennen beide Genres. Im Techno wird das nur oft überdeckt von der Härte der Drumcomputer und den künstlichen Sinusklängen der Synthesizer. Bei Isarkind aber, wo immer hörbar bleibt, dass hier ein echtes Schlagzeug spielt und Metallsaiten schwingen, ist die Nähe plötzlich deutlich hörbar. Auch weil das Duo weniger auf stampfenden Techno, sondern mehr auf Ambient setzt.

Foto: Flo Strigl

Text: Rita Argauer

Band der Woche: Password Monkey

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Wann wohl die Hipster den Hardrock für sich entdecken? Kein Ahnung, aber bis dahin dürfte sich unsere Band der Woche Password Monkey mit genau dieser Musik einen festen Stand aufgebaut haben.

Jimi Hendrix hätte wohl nicht gedacht, dass es mal so weit kommt. Als der seine Gitarrenverstärker zu weit aufriss und ein verzerrter, übersteuerter Klang herauskam, befand er sich damit an der Spitze einer Bewegung: Der Klang der Jugend, Auflehnung gegen die Alten und all die Dinge, die sonst noch den Anfang einer Pop-Bewegung auszeichnen, umgaben Hendrix und seine Musik. Im Moment jedoch wirken E-Gitarren und Rock eher ein bisschen wie die Klassik der Popmusik. Gitarren stehen bei Bankern als Accessoire im Büro, während man sich im Genre um den Nachwuchs sorgen muss. Drohende Pleiten und rote Zahlen von Gitarrenherstellern wie Gibson oder Fender gaben dann im vergangenen Jahr sämtlichen Medien den Anlass, ein paar Abgesänge auf die Rockmusik zu veröffentlichen. Doch wie immer, wenn etwas furchtbar uncool wird, dauert es nicht lange, bis es wieder interessant wird. Vor allem für all diejenigen, die sich gerne von der Masse und dem Mainstream abheben möchten.

Ein bisschen braucht das wohl noch, bis die Hipster den Hardrock entdecken, aber bis dahin dürfte die Münchner Band Password Monkey sich mit genau dieser Musik einen festen Stand aufgebaut haben. Das Quartett, das sich 2015 gründete, ist dabei so etwas wie die Erbengeneration dieses Stils. Gitarrist Chris Furtner und Schlagzeuger Veit Schlembach lernten von ihren Vätern, die schon in den Achtzigerjahren solche Musik gespielt hatten. Chris Buchberger am Bass hatte zuvor in Metalbands gespielt. Einzig Sänger Fabian Lichtenstern genoss eine erst einmal recht konträre musikalische Ausbildung: Klavier und Gesang bei den Augsburger Domsingknaben. Doch das tut der Musik gut, denn Sänger in anständigen Classic-Rock-Bands brauchen eine starke Stimme, die sich neben den ganzen Gitarrenbrettern gut durchsetzen kann – und durch die Musik führt. Man kennt das, zuletzt vielleicht von Bands wie The Darkness, deren Sänger sich in vollstem Stimmvolumen in höchste Höhen schwang. Doch bei denen rutschte der Rock leicht in den Glam und ins Parodistische. Password Monkey hingegen nehmen ihren Stil mit all seinen Versatzstücken Ernst. Dazu gehören, wie in der Single „From the Ashes“, ziemlich harte Riffs, Soli, die auftauchen, noch bevor im Songarrangement irgendetwas anderes passiert ist, und eben recht kraftvoller Gesang. Dabei ist deutlich zu hören, dass Fabians Stimme ausgebildet wurde – er kann mehr, als einfach grölen. Er kann seine Stimme führen, sie bewusst brechen lassen und mit viel Kraft schmettern.

Ein Album haben Password Monkey bisher veröffentlicht. „Chained“ heißt es, denn auch inhaltlich bleiben die vier ihrem Genre treu und benutzen gerne Worte, deren Bedeutung gewichtig ist. Mit ihrem neuen Album – Songs, Arrangements und Pläne stehen schon – wollen sie aber noch einmal einen Schritt mehr in Richtung Professionalität gehen. Dennoch ist das noch Underground. Fast wünscht man sich ein bisschen, dass Hardrock noch eine Zeit länger eine richtige Nische bleiben darf, bevor der Kommerz auch hier wieder greift. Bis dahin kann sich die Musik wie derzeit bei Password Monkey noch frisch, enthusiastisch und vor allem nur um der Musik willen entfalten.

Foto: Maximilian Riemer, Jakob Kanzleiter

Text: Rita Argauer

Band der Woche: KLIMT

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Am 23. März stellt KLIMT ihre neue Platte im Lost Weekend vor. Goldtupfer, grafischer Schmuck und fließende Kleider verwandeln die Musikerin Verena Lederer in eine Kunstfigur. Auf ihrem Debüt-Album 

„Dear Sirens“ taucht der Hörer in eine Welt ein, 

die von der morbiden Eleganz Wiens zu Zeiten des Fin de Siècle geprägt ist.

In der Zusammenarbeit von Andy Warhol mit Velvet Underground hat sich wohl zum ersten Mal das gezeigt, was sich später Art-Pop nannte; also Pop-Musik, die um diesen gewissen Grad künstlicher ist und inszenierter ist, als das etwa bei Rockmusik der Fall ist. Klar, man darf das nicht unterschätzen: Die Rockgesten, die Haarspray-Frisuren, die zerrissenen Punk-Hosen und all der Weltschmerz sind ebenfalls eine große Inszenierung, ein Markenzeichen und eine Bühnenschau. Doch der Unterschied liegt in der Haltung der Künstler dazu: Denn selbst die von Vivienne Westwood durchgestylten Sex Pistols kamen mit der Einstellung auf die Bühne, hier authentisch den Umsturz zu fordern. Oder die eigene Großartigkeit zu besingen (etwa im Fall von Guns ’n’ Roses) oder sich im eigenen Schmerz zu weiden (im Fall von Nirvana). Authentizität wird hier – trotz aller Inszenierung – hochgehalten. Bei Velvet Underground war das anders. Aber aktuell bei Björk etwa auch: Natürlich verhandeln diese Musiker auch Themen, die sie persönlich betreffen. Aber sie borgen sich die Haltung der Bildenden Künstler dafür: Auf der einen Seite das Kunstwerk, auf der anderen der Künstler – und dazwischen ist ein Unterschied, was aber nicht heißt, dass Kunstwerk und Künstlerpersönlichkeit nicht verbunden wären.

Die Münchner Musikerin Verena Lederer alias Klimt  hat sich einen wesentlich älteren Bildenden Künstler als ästhetischen Überbau gesucht: Gustav Klimt. Dessen weiblichen Jugendstil-Wesen, die mystisch und gleichsam real sind, die keusch und gleichsam sexy wirken, dienen Verena allein äußerlich als Vorbild. Ihre Corporate Identity ist durchgeplant, fließende Kleider, Goldtupfer und grafischer Schmuck, all das verwandelt sie als Musikerin in eine Kunstfigur. Und die lädt die Hörer auf ihrem Debüt-Album „Dear Sirens“ in eine Welt ein, die von der morbiden Eleganz Wiens zu Zeiten des Fin de Siècle geprägt ist. Doch wer da Salonwalzer-Klänge oder dergleichen erwartet, wird enttäuscht. Denn Verena ist klug genug, diese äußere Haltung auf ganz und gar zeitgenössische Musik zu transferieren.

Zusammen mit Markus Sebastian Harbauer, der auch Bass bei Exclusive spielt, hat Verena ein Album produziert, dem ihre Wurzeln als Songwriterin kaum noch anzuhören sind. Denn hier wird eigenständige Musik auf einem Niveau produziert, das eher an Feist als an Silbermond denken lässt. Klanglandschaften, Soundscapes, elektronisches Geblubber und alte Synthesizer dominieren die musikalische Ästhetik. Darauf arbeitet Verena mit ihrer Stimme ebenso experimentell: Mal klingt sie nur wie ein vorbeiziehender Hauch. Mal überträgt sie den Inhalt ihrer Texte auf die Komposition, wie etwa in „My only enemy“. Hier erklärt sie sich selbst zu ihrem einzigen Feind, dementsprechend doppelt sie ihre Stimme im Song, hier singen zwei Verenas gegeneinander an, nur um sich im zweiten Teil des Liedes zu neuer Kraft zu vereinigen. 

Solche Tricks sind schon ziemlich klug und graben tief. Die Musik, die auf den ersten Blick eben oberflächlich sehr durchgestylt wirkt, zwirbelt sich mit innerer Logik auf tieferen Ebenen fort. Was dabei herauskommt, ist dann alles eher dunkel, eher ein bisschen morbid und handelt von Ängsten und Zwängen. Und trotzdem trägt das eine entrückte Eleganz in sich. Wie eben auch Gustav Klimts Bilder, etwa dessen schillernde Judith mit dem Kopf von Holofernes, der aber völlig unwichtig am Bildrand klebt. Ein halbes Jahr haben Verena und Markus im Studio an den acht Songs gearbeitet. Das ist keine dahingeworfene Produktion. Die Künstler wollen mehr mit dieser Platte, die am Freitag, 23. März, mit einer Party im Münchner Lost Weekend vorgestellt wird.

Foto: Sophie Wanninger
Text: Rita Argauer

Band der Woche: Die Prokrastination

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In den Songs von Die Prokrastination geht es um aktuelle Themen wie albern betitelte Trends oder Hipster. Verpackt sind die Themen in liebreizenden Poprock-Klängen. Insgesamt erzeugt die Musik eine Euphorie zum Mitsingen.

Der Vorwurf der Ichbezogenheit ist Künstlerpersönlichkeiten gegenüber schnell ausgesprochen. Und auch wenn man immer vorsichtig sein sollte mit schnellen Urteilen, ist das in vielen Fällen wohl gar nicht so falsch. Denn um sich auf eine Bühne zu stellen und a priori davon auszugehen, dass die Menschheit um die eigenen in Kunst gegossenen Ansichten wissen möchte, das setzt eine Persönlichkeit voraus, die diesen Gedanken mit sich vereinbaren kann. Ein bisschen lässt sich so etwas auch an den Texten der Künstler nachverfolgen. Etwa Patrick Wagner, einst Sänger der deutschen Noise-Rock-Pioniere Surrogat. Der machte seine Ichbezogenheit offensiv zum großen Thema seiner Kunst.

Und selbst jetzt, gute 20 Jahre nach Surrogat, wenn Wagner mit seiner neuen Formation Gewalt auftritt und in seinen Texten plötzlich erstaunlich oft das Wort „Du“ vorkommt, wird man das Gefühl nicht los, dieses Du richtet sich wieder an ihn selbst. Er hat seine groß aufgebaute Persönlichkeit quasi aufgespalten und begibt sich künstlerisch in den Dialog mit sich selbst.

Auch in den Texten der Münchner Band Die Prokrastination kommt im Song „Mainstream“ ein ausgesprochen starkes „Du“ vor. Diesem wird zu schmissigen Poprock-Klängen dabei langweilige Mittelmäßigkeit vorgeworfen – und zwar ziemlich drastisch und unmissverständlich aus der Warte des unkonventionellen Künstlers heraus. Wäre das nicht in so ausgesprochen liebreizende und bekömmliche Musik verpackt, wäre das von Surrogat gar nicht so weit entfernt. Doch musikalisch ist der Gegensatz groß, in dem sich das Quartett um Sängerin und Gitarristin Katharina „Katha“ Gulde ästhetisch bewegt. Sie beschweren sich über zwischenmenschliche Unverlässlichkeit („Happy End“), über eine Social-Media-getrimmte Menschheit, die albern betitelten Trends, die man eigentlich unter anderem Namen schon kennt, hinterherrennt („Bikram Yoga“), oder nehmen verspielt die Vorurteile und Blaupausen vermeintlich urbaner Hipsterness auseinander („Sorry Baby“). Die Musik dazu aber besteht aus beschwingten und leicht verzerrten Dur-Akkorden und erzeugt eine allgemeine Mitsing-Euphorie.

„Punk kann als Ausdruck von intensiven Gefühlen, als wütende Stimme, als rebellischer Gegenpol zu festgefahrenen Strukturen auch 2018 aktuell und inspirierend sein“, erklären sie, doch: Punk könne auch schnell „veraltet oder satirisch wirken, wenn er zu plakativ gelebt wird“. Deshalb versuche man mit Die Prokrastination mehr eine innere Haltung zu finden als „typische Punk-Attitüden nach außen zu tragen“. Der Mittelweg, auf den sich die Band, die seit eineinhalb Jahren zusammenspielt, damit begibt, ist aber auch kein leichter. Denn die eigene Antihaltung zerbricht bisweilen an der Zugänglichkeit der Musik. Andererseits sind das gut geschriebene Songs, die wohl ein ungleich größeres Publikum erreichen könnten als etwa Patrick Wagner mit Gewalt und deren Anti-Musik-Attitüde. Von der Gefahr zu einer so plakativ rockistischen Anbiederung zu werden, wie das etwa Jennifer Rostock sind, ist Die Prokrastination jedoch noch ein gutes Stück entfernt. Schon allein, weil in der Musik Indie-Geist und feine Intellektualität mitschwingen, die allzu große Stadion-Poprock-Gesten unterbinden. Die ist zwar nicht ganz so sperrig-studentisch, wie das bei Marv Paul, der früheren Band von Bassisten Gregor
Poglitsch, der Fall war. Im Moment hält sich die Balance zwischen Zugänglichkeit und Kritik bei Die Prokrastination aber sehr gut. Gerade arbeiten sie an einem ersten Album. 

Stil: Pop/Rock
Besetzung: Katharina Gulde (Gesang, Gitarre), Michael Kara (Gitarre, Gesang), Raphael Brunner (Schlagzeug), Gregor Poglitsch (Bass)
Aus: München
Seit: 2016
Internet: www.facebook.com/dieprokrastination

Text: Rita Argauer


Foto: Christin Büttner

Band der Woche: Gaddafi Gals

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Die Gaddafi Gals lassen sich schwer in ein Genre stecken. Es ist eine Mischung aus R’n’B, Cloud Rap und ein wenig Pop.  Ihnen ist vor allem wichtig, Konzepte zu erstellen – was eher selten in Deutschland ist – weswegen sie viel Aufmerksamkeit bekommen.

Lange galt bei zeitgenössischer Pop-Musik eine unausgesprochene Abmachung: Je fetter, desto besser. Alles, was stürmt und drängt, war in dem Aufbegehren, das Pop-Musik für Jugendliche immer noch erfüllt, willkommen. Früher waren das die verzerrten Gitarren, von Mitte der Neunzigerjahre an wurden die von fetten Beats abgelöst. „Wir brauchen Bass, Bass, wir brauchen Bass“, die Punchline von Das Bo in „Türlich, türlich“ läutete im Jahr 2000 das neue Jahrzehnt mit gleichbleibendem Anspruch ein: Fette, breite Musik, in der sich die Musiker als vor Selbstbewusstsein strotzende Platzhirsche stilisierten.

Doch spätestens seit der Cloud Rap vor ein paar Jahren zu mehr als einer bloßen Nische der besonders drogenverliebten Musikhörer wurde, hat sich das geändert. Diese Schlafzimmer-Laptop-Produktionen klingen zierlich, auch wenn sich die darauf wahlweise rappenden oder sich an nur zu erahnenden Melodielinien entlanghangelnden Akteure weiterhin für den Nabel der Welt halten. Die Attitüde dabei ist eine andere: Rebellion heißt heute, auf Fragilität setzen. Und damit rebelliert man bestens gegen Trump und all die anderen in ihrer selbst diagnostizierten Mächtigkeit mächtig albernen, alten Männer.

Schon seit einigen Jahren arbeiten sich die gebürtigen Münchner Musikerinnen Ebow (rechts im Bild) und Nalan (links) daran ab. Man kennt sie entweder als Rapperin (Ebow) oder als Sängerin (Nalan), zusammen sind sie unter den Pseudonymen blaqtea und slimgirl fat die Gaddafi Gals. Da steckt der gestürzte alte Machthaber schon im Namen und die Single, die sie nun aus ihrer Debüt-EP veröffentlicht haben, schreibt das fort: „The Death of Papi“ setzt sich aus einem minimalen und vor allem klanglich hellen und beckenlastigen Beat zusammen, dem jeglicher Prollo-Punch abgeht. Dazu kommen eine simple Orgel und Horrorfilm-flirrende Synthies. Wer dieser Papi genau ist, dessen Tod da zum Thema wird und der im dazugehörigen Video äußerst modebewusst verscharrt wird, bleibt offen. Die Stimmen der beiden schwingen zwischen Rap und angesungenen Melodien darüber, vereinzeln sich und wagen sich natürlich weder zu konkreter Rap-Kaskade noch zu inbrünstigem R’n’B-Gesang. Wer den Gaddafi Gals begegnet, muss sich mit einer Ahnung dieser darunter liegenden Genres zufrieden geben, die Andeutung ist hier Auszeichnung genug.

Zusammen mit walter p99 arke$tra (auf dem Bild in der Mitte), der irgendetwas zwischen ominöser Eminenz im Hintergrund und Produzent ist, streben die Gals dabei nach der Weltherrschaft oder mindestens nach einem eigenen Parfum, das sie bei Erfolg dieses Projekts „GG“ nennen würden. Dahingehend hat sich an alter und neuer Pop-Attitüde also nicht viel verändert. In der Realität bedeutet dieses Projekt aber in erster Linie „häufige, wirre Emails und Nachrichten zur Organisation“, denn eine Pop-Karriere will geplant sein. Auch weil das „Konzepten“ in solch einem Projekt mindestens genauso wichtig ist wie das Komponieren und Texten. Denn nur durch die Verortung im richtigen Style kann der musikalischen Fragilität die nötige Kraft als ernstzunehmende neue Pop-Position verliehen werden. Da solche Konzepte aber in Deutschland und insbesondere in München immer noch sehr selten zur Musik hinzugedacht werden, ist die Aufmerksamkeit, die die Gaddafi Gals schon jetzt bekommen, groß. Der Musikexpress zählt sie zu den besten Newcomern 2018, das Hip-Hop-Genre-Mag „Juice“ beschreibt sie als die Zukunft. Und sie selbst arbeiten an ihrem Debüt-Album „Temple“.

Stil: Neo-Cloud R’nB Rap
Besetzung: Ebow, Nalan (Gesang, Songwriting)
Aus: München
Seit: 2015
Internet: www.facebook.com/gaddafigals


Text: Rita Argauer

Foto: Sophie Wanninger

Band der Woche: LCAW

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Seine Mutter und seine Schwestern sind in der Klassik unterwegs, aber Leon Weber alias LCAW zieht es in eine andere Richtung. Früher war der Musiker als House-DJ bekannt, nun wagt er sich mit Eigenkompositionen in die Popwelt vor.

Das Wort frühreif wird oft negativ verwendet. Man stellt sich einen Streber vor, der trotz geringer Erfahrung alles besser weiß und altklug kommentiert. Der Münchner Musiker, Produzent und DJ Leon Weber, alias LCAW, zeigt jedoch eine Art der frühen Reife, die ziemlich beeindruckend ist. Der 23-Jährige, der als House-Remixer von Indie-Tracks schon vor vier Jahren international bekannt wurde, veröffentlicht nun Ende März mit „Meet me in the Middle“ seine erste EP mit eigenen Tracks. Für die erste Single „Hummingbird“ konnte er die britische Sängerin Sophie Ellis-Bextor als Gast gewinnen. Die ist 38 Jahre alt und hatte 2001 mit „Murder on the Dancefloor“ ihren ersten Nummer-1-Hit. Dennoch hat man hier nicht das Gefühl, dass eine gesetzte Sängerin sich mit jugendlichem Produzenten verjüngen möchte oder dass ein junger Musiker versucht, den Stil eines erwachsenen Stars zu kopieren. In „Hummingbird“, einer leichfüßigen Disco-House-Nummer, treffen zwei Musiker auf gleicher Höhe aufeinander, auch wenn sie 15 Jahre Erfahrung trennen.

„Manchmal schreibe ich ein Lied und habe direkt eine Stimme im Kopf, die perfekt dazu passen würde“, sagt Leon. Als er an seiner EP arbeitete, war das mit der Stimme von Sophie Ellis-Bextor der Fall. Doch weil Leons Remixes eben da schon international erfolgreich liefen, befand sich der junge Musiker in der glücklichen Lage, die Person hinter der Stimme, die er im Kopf hatte, auch ganz reell anfragen zu können. Aufgenommen wurde der Song dann in einem Londoner Studio, in dem auch schon James Blunt oder Adele gearbeitet hatten. Herausgekommen ist eine ziemlich zugängige Pop-Nummer, deren Produktion reif und gesetzt wirkt. Da komponiert jemand, der sich handwerklich und stilistisch sehr sicher ist – obwohl das, neben ein paar Singles, das erste Mal ist, dass Leon mehrere selbstgeschriebene Songs gebündelt veröffentlichen wird. Für Leon ist dieser Song dabei auch der Beginn einer neuen künstlerischen Richtung. Man hört zwar seine Anfänge als House-Remixer durch, doch „Hummingbird“ ist ein richtiger Popsong, den er als „eine moderne Art von Disco und Funk“ beschreibt. Es hat in Leons Karriere allerdings ein bisschen Zeit gebraucht, bis es zu so einer Zusammenarbeit und dieser stilistischen Positionierung kommen konnte. Während er in seinen Remixes immer das musikalische Material anderer Künstler weiterverarbeitete, hat er hier selbst komponiert. Um damit in die Öffentlichkeit zu gehen, wollte und musste er sich sicher sein.

Schon 2014, als seine Laufbahn als DJ und Remix-Produzent bereits internationale Kreise zog, arbeitete er an Original-Tracks, also an Eigenkompositionen. Doch bis er diese für gut genug befand, um sie zu veröffentlichen, dauerte es. Da schwingt ein ziemlich hoher Anspruch an die eigene Musik durch, der vielleicht auch daher kommt, dass Leon von frühester Kindheit an mit klassischer Musik konfrontiert war. Seine Mutter und seine beiden Schwestern sind Berufsmusikerinnen in der Klassik. Leon selbst spielt Klavier und Cello, gewann den Wettbewerb „Jugend musiziert“ und spielte im Bundesjugendorchester. Für eine Karriere in der Klassik habe ihm das permanente Üben jedoch zu wenig gelegen, erklärt er. Sich aber in der Musik fest zu beißen, lange an etwas zu arbeiten und zu feilen, das ist – neben dem musikalischen Grundverständnis – wohl etwas, was er aus der klassischen Ausbildung mitgenommen hat. Gleichzeitig befähigt ihn nun genau das, Songs zu produzieren, die trotz seines Alters auf dem internationalen Pop-Markt bestehen können. 

Stil: Pop/House
Besetzung:
Leon Weber (Komposition, Produktion)
Seit:
2013
Aus:
München
Internet:
www.lcawmusic.com

Text: Rita Argauer


Foto: Yunus Hutterer

Band der Woche: The Sexattacks

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Ursprünglich wollten The Sexattacks nur eine Punkrock-Coverband sein. Doch schnell wird klar: Sie wollen dagegen kämpfen, dass „Populismus überzuschwappen droht und extreme Ansichten immer
mehr ohne Besinnung und Zurückhaltung nach außen getragen werden“.

Das nihilistische Rebellionsgenre Punkrock ist ganz schön alt geworden. In den Siebzigerjahren als pessimistische Antwort auf das Sechzigerjahre-Hippie-Glück atmete diese Musik noch den Geist der Jugend. Jetzt, 40 Jahre später, wirkt Punkrock manchmal etwas verkrampft, so wie ein ewig mahnender Erwachsener, der die zeitgenössischen Themen der Jugend nicht mehr nachvollziehen kann. Punk als Mode ist dabei sowieso völlig ausverkauft, Punk als Musik existiert in München gut in der Deutschpunk- und Hardcore-Szene. Melodischer, englischsprachiger Punk verwässerte seit dem Mainstream-Erfolg, den Green Day Anfang der Nullerjahre feierten, zunehmend.

Dazu passt auch, dass die Münchner Punkband The Sexattacks ursprünglich den Plan hatte, eine Punkrock-Coverband zu gründen. Das erscheint etwas absurd, sind doch Coverbands eben hauptsächlich dafür da, dass Musik bekannter Künstler entweder zum eigenen Vergnügen oder für Fans nachgespielt wird. Punk zu covern, lässt die Dringlichkeit der Rebellion gegen null gehen. „Schon bald haben wir gemerkt, dass wir sehr wohl selbst Songs in dieser Musikrichtung schreiben und unsere eigenen Geschmäcker und Themen einfließen lassen können“, erklärt das Quartett dementsprechend zur Bandgeschichte. Also begann die Truppe um Sänger Uwe Kriegbaum Punkrock, der sich an Bands wie Green Day oder Blink182 orientiert, mit der nötigen Hingabe ins Jahr 2012 zu transportieren. Da gründeten sie sich in ihrem Heimatort Penzberg. 2017 zeigte sich aber als das produktivste Jahr, in dem sie die EP „Secrets“ veröffentlichten. Darauf überrascht der Hochglanzsound. Klar, das ist schnelle Musik mit einem treibenden Schlagzeug und verzerrten Gitarren, doch von Produktionsseite aus klingt das mehr nach astreinem Pop als nach einer DIY-Kellerband. Ähnlich zeigt sich die ganze Reihe an Musikvideos, die sie bisher veröffentlicht haben. Ästhetisch glänzend, fast streberhaft umgesetzt, finden sich da der alte ironische Punkrock-Antistyle – weiße Hemden, schwarze Fliege – genauso wie Insignien wie ein altes Telefon, in das großgestisch hineingesungen wird, oder ein umgekehrtes Raumverständnis, wenn der Sänger an der Decke herumspaziert, wie im Video zum Song „Media“.

Doch Hochglanz wirkt hier nicht abschreckend. Sexattacks nutzen Mainstream-Ästhetik, Hochglanzproduktion und durchaus schon etwas abgetragene Symbole, um daraus eine brennend-euphorische neue Botschaft für sich zu formulieren. Musikalisch ist das nicht neu, aber mit gegenwärtigen Mitteln sehr gut umgesetzt. Und sie meinen es ernst: Wenn sie nicht an neuen Songs arbeiten, kümmern sie sich um Videos, organisieren neue Gigs, überlegen sich Inhalte für die sozialen Netzwerke. Und sonst hängen sie als Kumpels auf Probenwochenenden rum. Auch zeitlich eine Hingabe an die Musik, die das Gesamterscheinungsbild dieser Band so stimmig macht. Obwohl die Punkszene in den Münchner Clubs gerade eher zurückgedrängt sei, berichten sie von einer überwältigenden Publikumsresonanz. Sie wollen die Leute mitnehmen. Das einfach greifbare Auftreten hilft dabei genauso wie die hymnischen Melodien, die unter dem schnellen Punk-Gehacke liegen. Diese Band will gegen eine Gesellschaft rebellieren, in der „Populismus überzuschwappen droht und extreme Ansichten immer mehr ohne Besinnung und Zurückhaltung nach außen getragen werden“. Ihr Dagegen-Sein ist musikalisch jedoch mehr nachvollziehbar und offen als aggressiv. Und das ist 2018 sehr angebracht.

Stil: Punkrock
Besetzung: Uwe Kriegbaum (Gesang, Gitarre), Daniel Jocher (Gitarre), Markus Mund (Bass), Simon Kurz (Schlagzeug, Gesang)
Aus: München
Seit: 2012
Internet: www.thesexattacks.com

Text: Rita Argauer


Foto: Daniel Jocher