Frische Apps aus der Region

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Junge Münchner programmieren Smartphone-Applikationen für Chinesischbegeisterte, Allergiker, Reiselustige, Liebessuchende oder Rollstuhlfahrer – ein Überblick

Das Handy, der tägliche Begleiter. Dank einer Unmenge an Apps kann jede U-Bahnfahrt lehrreich, jeder Einkauf stressfrei sein und sogar die Partnersuche spielerisch ablaufen. Münchner Studenten beteiligen sich am anhaltenden App-Trend und bereichern den Markt und das Internet mit ihren Ideen.

Dating-App Mazel: Die Idee hinter mazel ist schnell erklärt: Die kostenlose Dating-App ist das „Anti-Tinder“, sagt Steffi Feldmann, 26. Gemeinsam mit drei langjährigen Freunden aus Mühldorf hat sie eine virtuelle Plattform gegründet, auf der man anfangs nicht einmal ein Foto seines potenziellen Partners sieht. Stattdessen soll das Interesse über das Verhalten geweckt werden – im Spiel. Insgesamt vier Spiele gilt es mit dem Partner zu lösen. Das soll so lange dauern wie eine U-Bahnfahrt. Informationen über den anderen muss man sich häppchenweise erarbeiten: Nach Quizduell und Wortspiel gibt es zur Belohnung ein paar Infos über den Partner – etwa den Beruf oder das genaue Alter. Und beim Memory lässt sich seine Augenfarbe aufdecken.

Profilbilder tauscht man erst am Ende aus. Für das Team ist es das vierte Start-up. Erst einmal hoffen sie auf weibliche User. „Wir wollten ein Dating-Produkt machen, das nicht nur Kerle anspricht“, sagt Steffi. Bei mazel tritt man nicht mit vielen, sondern anfangs immer nur mit einem Partner in Kontakt. „Beim Kennenlernen soll man sich auf diesen Menschen konzentrieren“, findet Steffi. Ob das klappt? Wer weiß. Der Name mazel kommt von „mazel tov“, auf Jüdisch „viel Glück“, einem Ausspruch, der oft auf Hochzeiten fällt (www.mazelapp.com).  

Elsbeth Föger


Falgy, für Allergiker:
Den Einkauf für Allergiker erleichtern, dieses Ziel hatte sich die Ingenieurswissenschaft-Studentin Marina Rotmüller,26, mit fünf Kommilitonen gesetzt, als sie im Rahmen eines Unikurses eine Geschäftsidee entwickeln sollten. Heraus kam Falgy, kurz für Food Allergy Support, eine App, die den Einkauf für Allergiker vereinfachen soll. Die Idee ist denkbar simpel: Man scannt den Barcode des Produkts und die App zeigt direkt an, ob man das Produkt mit seinen Allergien verträgt.

An Falgy sind schon
einige Allergiker-Verbände
interessiert

Die Daten holt sich Falgy dabei aus der Datenbank der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA. Zudem liefert die App schon daheim Vorschläge, welche Lebensmittel man mit diversen Allergien essen kann. So entfällt die mühsame Suche im Supermarkt. Falgy ist noch nicht auf dem Markt, ein funktionierender Prototyp soll bald bereit sein. Das größte Hindernis ist noch die Finanzierung. Denn die Nutzung der Datenbank setzt eine Gebühr voraus. Die Studenten sind aber bereits in Verhandlungen mit verschiedenen Supermärkten. Auch diverse Allergikerverbände zeigen sich interessiert. Und für die Übergangszeit wollen sie die App notfalls über Kickstarter finanzieren – oder aus der eigenen Tasche.

Philipp Kreiter

Let’s Yalla, die Spontanreise-App: Vier junge Münchner bieten mit ihrer App Flüge an, die am Abend vorher ab 20 Uhr freigeschaltet werden. Am nächsten Vormittag geht es los. Hin- und Rückflug in Europa: unter den üblichen Preisen, abhängig von Tag und Ziel. Gegründet wurde Let’s Yalla im Mai, gerade läuft die erste Testrunde. Registrieren können sich Reiselustige auf www.letsyalla.de. Im Oktober soll die App, deren Vorbild aus Israel kommt, auch in Deutschland starten. Zunächst mit Abflügen in Hamburg und Berlin, dann rasch auch von München aus. Schließlich wollen Ori Hagai, Ingo Ehrle, Christian Heydecker und Katharina Seehuber auch selbst einmal ganz spontan aus der Wahlheimat losreisen können.  

Friederike Krüger

Zizzle, zum Chinesisch lernen: Fünf junge Männer Mitte Zwanzig haben ein Startup gegründet, das mit einer App das Chinesischlernen erleichtern soll. Nur einer davon ist selbst Chinese, der 23-jährige Kevin Li. Der Jurastudent findet das aber gar nicht seltsam: „Als Muttersprachler kann man gar nicht so genau beurteilen, welche Probleme man als Ausländer damit hat, die chinesischen Zeichen zu lernen“, erklärt er. Oft könnten Chinesen sich nicht vorstellen, dass die Methoden, die sie in der Schule verwendet haben, für Ausländer nicht effektiv seien.
Begeistert von der chinesischen Sprache und Kultur sind die vier weiteren deutschen Gründer Hannes Frömel, Tim Oelrich, Hagen Reiling und Projektleiter Lukas Lohove aber auf jeden Fall.
Im Mittelpunkt von Zizzle stehen die Schriftzeichen, die beim Lernen die größte Herausforderung darstellen. Jedes Zeichen steht für eine bestimmte Silbe, insgesamt gibt es mehrere tausend. „Man muss sich, wenn man ein chinesisches Schriftzeichen lernen will, die Form, die Bedeutung, die Aussprache und den Ton des Zeichens merken“, erklärt Kevin. „Das fällt den meisten sehr schwer!“ Die neue App versucht mit Bildergeschichten diese verschiedenen Elemente dauerhaft für den Lernenden zu verknüpfen. In zwei Wochen soll die Betaversion von Zizzle als kostenlose App mit Abonnement-Option verfügbar sein, erste Videotutorials gibt es bereits jetzt auf der Webseite. (http://www.zizzle-app.com/)

Elisabeth Kagermeier

Hoomn, eine Art WhatsApp-Gruppe für die ganze Stadt: „hoomn“ nennen die vier Gründer um Manuel Schulze, 27, ihr Startup. Die App soll es einfach machen, Menschen im gleichen Ort eine Frage zu stellen. „Die spannendsten lokalen Tipps kommen oft von Leuten, die man einfach auf der Straße anspricht anstatt von irgendwelchen Reisetipps-Webseiten“, glaubt Manuel, VWL-Student. Auf die öffentlichen Fragen antwortet man normalerweise mit einer privaten Nachricht wie auf WhatsApp – eine Kommentarfunktion gibt es aber auch. Die Themen reichen von Job- und Verkaufsangeboten über „Wer geht mit aufs Oktoberfest?“ bis zu Restaurant-, Sport- und Reisetipps. Für all diese Themen gibt es zwar bereits Plattformen; seine Stärke sieht das Startup aber darin, dass es sich auf die unmittelbare Umgebung konzentriert.

„Mit der App kann der Rollstuhl
mit Kopfbewegungen und
Sprachsteuerung bedient werden.“

Außerdem werden keine personenbezogenen Daten erhoben. „Hoomn funktioniert vollständig anonym“, sagt Manuel. Das bedeutet aber auch mehr Probleme mit sogenannten „Trollen“, die fragwürdige Inhalte einstellen – die Hemmschwelle ist im Mantel der Anonymität gering. Diese Nutzer können für die App gesperrt werden. Seit dem Start im Juli haben etwa 30 000 Menschen die App für Android oder iOS kostenlos heruntergeladen. Angefangen hat hoomn in München und Köln, mittlerweile haben sich auch in Berlin, Stuttgart, Aachen und Frankfurt Communitys gebildet. (http://www.hoomn.com/)  

Elisabeth Kagermeier

Glasschair für die Google-Brille: Die Studenten Dominik Schniertshauer, 25, Shady Botros, 25, und Claudiu Leverenz, 24, haben eine App für die Google Glass entwickelt, die körperlich eingeschränkten Menschen das Lenken von elektrischen Rollstühlen erleichtern soll. Die Steuerung soll hauptsächlich durch Kopfbewegungen funktionieren. In Garching sitzt Shady in dem Testmodell. Ein kurzes Nicken mit dem Kopf und der Stuhl fährt los. Shady neigt seinen Kopf nach rechts und der elektrische Rollstuhl fährt nach rechts. „Manche Rollstuhlfahrer können ihre Hände nicht bewegen. Mit unserer App kann der Rollstuhl mit Kopfbewegungen und Sprachsteuerung bedient werden“, sagt Shady. Dabei werden die Steuerkommandos per Bluetooth an einen Adapter übertragen, der an das Steuerport des Rollstuhls angeschlossen werden kann. Angefangen hat „Glasschair“ als Uniprojekt. Doch das Potenzial und die gewonnene Unabhängigkeit für Rollstuhlfahrer, die das Projekt besitzen, sollen nicht mit dem Semester enden. Mittlerweile haben die drei jungen Männer für ihre App ein eigenes Start-Up gegründet. Außerdem arbeiten sie an einer Alternative zu der horrend teuren Google Glass. Die App soll auch an andere Smart Glasses angepasst werden und mit allen gängigen Elektro-Rollstühlen kompatibel sein. Am 29. Und 30. September vertreten Shady und Dominik ihre App auf der „Weareable Technologies & Digital Health“ Messe in Bonn (www.glasschair.de).  

Stefanie Witterauf

Illustration: Daniela Rudolf

Abdrücken

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Bombenalarme, Anschläge, Schüsse: Für ein Praktikum verbrachte Fotostudent Fabian Sommer, 23, fünf Monate in Israel. Mit seinem Handy machte er Momentaufnahmen: „Das ist meine Art, das Ganze zu verarbeiten.“ 

in bisschen sieht es aus, als würden sie das Feuer anbeten. Ein brennender Reifen, viel schwarzer Qualm und zwei Menschen kauern davor auf der mit Schutt übersäten Straße. Soldaten mit Helmen kommen auf den Betrachter zu. Ein dritter Mann richtet sich gerade auf, eine Kamera in der Hand. Und blickt direkt in die Kamera. Oder besser: ins Handy von Fabian Sommer, 23, der diesen Augenblick mit seinem alten, zerkratzten Samsung 100 festgehalten hat.
 Der Reifen brannte vor etwa sieben Monaten in den Straßen Tel Avivs, wo Fabian zu dieser Zeit ein fünfmonatiges Praktikum als Kamera-Assistent in der Auslandskorrespondenz der ARD absolvierte. Eine halbe Stunde habe eine ganze Schar Fernsehteams sich um diesen brennenden Reifen versammelt, um ihre Aufnahmen zu machen. „Eigentlich war da nichts, außer dem Reifen. Aber Feuer kommt immer gut in den Nachrichten“, sagt er heute, im Schatten Münchner Bäume, gleich neben dem Friedensengel.

Fabian studiert Fotodesign an der Hochschule München. An sich sind Handyfotos für ihn, wie für jeden ausgebildeten Fotografen, ein Graus. „Ist ja klar, wenn ich als Fotograf mit einer höllisch teuren Kamera plus Equipment rumbastle und dann kommt jemand mit seinem iPhone 6 und macht ein Foto, das eigentlich genauso aussieht“, sagt er und lacht ein bisschen. Aber während seiner Arbeit als Kameraassistent konnte und wollte er sich nicht mit einem richtigen Fotoapparat ablenken. Also begann er, einfach sein Handy zu zücken, wenn er ein passendes Motiv entdeckte. Auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem Nachhauseweg, beim Warten, auf der Fahrt zu einem Aufnahmeort oder auch während des Drehs. Am Anfang machte er diese Fotos nur für sich. Mit der Zeit wurde ihm aber klar, dass er gerne ein Projekt daraus entwickeln würde, da jede der Aufnahmen etwas ganz Besonderes für ihn ist. „Das ist meine Art, mit den Dingen umzugehen und das Ganze zu verarbeiten.“

Irgendwann gewöhnt
man sich daran.
Irgendwann macht man dicht 

Das ist das erste Mal, dass er zugibt, dass es da etwas zu verarbeiten gibt. Zuvor hatte er den Kopf geschüttelt auf die Frage, ob er denn nicht Angst gehabt habe. Angst, wenn er nachts immer wieder erst realisieren musste, dass der Lärm, der ihn aufgeweckt hatte, nicht von Feuerwerkskörpern stammte, sondern von Schüssen. Angst nicht, sagt er, da sei einfach zu viel Adrenalin mit im Spiel. Und dann, irgendwann, gewöhne man sich daran. Irgendwann mache man dicht. Er fährt mit der flachen Hand an seinem Gesicht vorbei. 

 Überraschend und bewundernswert habe er es gefunden, wie offen, wie lebensfroh und freundlich die Menschen in Tel Aviv sind, trotz allem. Trotz der Unruhen, trotz der Bombenalarme, trotz der Gewalt. Es ist quasi unmöglich, mit Fabian über seinen Aufenthalt in Israel zu sprechen, ohne bei der Politik zu landen. Klar, verändert hat sich seine Einschätzung der Lage schon, „viel zu kompliziert“ sei diese, als dass man sie als Außenstehender, als Deutscher noch verstehen könnte.

Genossen hat er die fünf Monate trotzdem. Am liebsten wäre er noch länger geblieben, aber sein Visum lief aus. „Israel ist eigentlich das perfekte Touristen-Land“, sagt Fabian. „Da gibt es einfach alles.“ Innerhalb von drei Stunden könne man von den verschneiten Bergen in die sengende Hitze der Wüste gelangen, oder eben ans Meer. Vor allem, wenn er über Tel Aviv spricht, spürt man seine Begeisterung für das kleine Land. „Es heißt immer, Tel Aviv ist in einer Blase“, sagt er. Obwohl die Stadt in einem Land des Mittleren Ostens liegt, sei sie sehr europäisch. „Eigentlich wie Berlin, nur kleiner.“ Unglaublich viele Kulturen treffen dort aufeinander, weil Juden aus der ganzen Welt Israels Aufruf gefolgt sind, in ihr gelobtes Land zu ziehen.
 „Die Leute feiern das Leben da so richtig“, sagt er. Und das trotz der Tatsache, dass viele Menschen, vor allen Dingen junge Leute, daran gewöhnt sind, nie Geld zu haben. Die Lebenshaltungskosten seien noch viel höher als in München. Verdienen würden die Menschen trotzdem nicht mehr, erzählt Fabian. Vielleicht liege die Lebensfreude eben an dieser Weltoffenheit oder auch an der Geschichte eines Volkes, das immer „die Koffer gepackt im Flur stehen haben musste“. Das habe seine israelische Mitbewohnerin einmal gesagt.

Fabian kann nicht sagen, wie viele Fotos er mit seinem zerkratzten Handy gemacht hat, von Hochhäusern am Meer, von Graffiti auf alten VW-Bussen, von Absperrband, von Simon Perez in seinem Arbeitszimmer und Friedhöfen mit tausenden von Marmorplatten. Lila Wolken über ockerfarbenen Steinwüsten. Ein Lieblingsfoto hat er nicht. All diese Momente sind wertvoll. Aber er hat sich für eine Auswahl von 48 Bildern entschieden und sie in einem Buch zusammengefasst. Eine Projektarbeit im Seminar „Bildjournalismus“ ist es am Ende geworden. Drei Exemplare gibt es. Dickes, graues Papier, ein bisschen Text als Erläuterung zu den Bildern, handgebunden. Klar, es wäre schon schön, das irgendwie herauszugeben, aber da ist Fabian realistisch. Der Markt für solche Fotobücher, noch dazu, wenn sie keine echte „Geschichte erzählen“, sei nicht besonders groß.

Weitere Informationen unter http://fabiansommerfotografie.tumblr.com/

Theresa Parstorfer

Foto: Fabian Sommer, Detlev Sommer

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Neuland

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Auf einer israelischen Kunstmesse auf der Praterinsel vergangenen Sommer lernten Matthias Lamsfuss, 24, und Eric Schönemeier, 25, die Gründer der downstairs. Galerie (Foto: Leo Konopizky), die junge Künstlerin Natalie Feldesman, 29, aus Tel Aviv kennen. Neben den Gemeinsamkeiten in der künstlerischen Arbeit stellten sie fest, dass auch politische Gedanken geteilt werden. „Tel Aviv und München ähneln sich in ihrem mikrokosmischen Käseglockencharakter“, sagt Eric. Nun veranstaltet die downstairs. Galerie vom 29. bis 31. Januar eine Ausstellung mit dem Titel „Excess – or post western decadency“ im Gabirol Kulturzentrum in Tel Aviv. Insgesamt stellen 18 Künstler ihre Werke aus – davon zehn Israelis und acht Deutsche.

Von Stefanie Witterauf

Abseits von Krieg und Gewalt

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Der Fotostudent Stefan Loeber lebt für seine Bachelor-Arbeit ein halbes Jahr lang in Tel Aviv. Er möchte mit seinen Bildern andere Seiten von Israel entdecken – ein Gespräch.

Es ist Krieg, als Stefan Loeber, 26, (Foto: Johannes Gerblinger) in den Flieger nach Israel steigt: Fast ein halbes Jahr will er bleiben, um das Land zu entdecken, um dort Fotos zu machen. Als der Münchner im August in Tel Aviv ankommt, sind es die brutalen Kämpfe in Gaza, jener „Krieg der Bilder“, die die ganze Welt medial verfolgt. Die militärischen Auseinandersetzungen sind zwar inzwischen vorbei, dennoch sind es die Bilder von gegenseitiger Gewalt, die man außerhalb Israels momentan wahrnimmt: Es sind Anschläge wie jene auf eine Synagoge in Jerusalem vergangenen Dienstag, die ein Öffentlichkeit finden. Doch Fotostudent Stefan möchte mit seinen Fotos andere Seiten von Israel entdecken, Bilder abseits von Krieg und Gewalt einfangen.

SZ: Israel ist ja momentan nicht das sicherste Reiseland. Was war die Motivation, ausgerechnet dort auf Fotoreise zu gehen?
Stefan Loeber: Ich studiere Fotografie und bin jetzt in Israel, um meine Bachelorarbeit zu machen. Mein Interesse liegt im Bereich der Porträt- und Reportagefotografie und deswegen wollte ich eben für längere Zeit in ein anderes Land, um dort etwas Neues zu sehen. Es hat sich dann angeboten, nach Tel Aviv zu gehen, weil meine Freundin ursprünglich aus Israel kommt und es natürlich spannend ist, sich mit den aktuellen Konflikten fotografisch auseinanderzusetzen.

Was für ein Gefühl war es, in ein Land zu fahren, in dem Krieg herrschte?
Ich kannte schon vorher Leute aus Tel Aviv und hatte so einen ganz guten Einblick, wie die Situation vor Ort ist – deswegen wusste ich, dass es „okay“ ist, dort hinzufahren, was die Sicherheit anbelangt. Aber klar, der Krieg lässt einen natürlich nicht so schnell los. Wenn man anderseits dann in den Alltag abtaucht, merkt man, dass hier auch vieles sehr normal ist und man vom Krieg gar nicht so viel mitbekommt. Manchmal kam ein Alarm, aber im Prinzip ist Tel Aviv eine sehr große, sichere Blase – der Krieg war hier eher eine emotionale Sache, denn die Gedanken daran kann man nicht ausblenden.

Die militärischen Auseinandersetzungen sind zwar vorbei, dennoch gibt es immer wieder Anschläge in Israel: Anfang November in Tel Aviv, vorigen Dienstag auf eine Synagoge in Jerusalem. Verändert so etwas das Sicherheitsgefühl?
Ich merke schon, dass ich viel darüber nachdenke und vorsichtiger bin als vorher. Bei uns in München wäre das ganz anders, aber hier haben sich die Leute an so etwas gewöhnt. Natürlich ist die Angst da, dass es wieder zu größeren Unruhen kommt, doch andererseits ist das ja auch nichts Neues: Es hat ja immer wieder Zuspitzungen des Konflikts gegeben – das ist im Prinzip nur eine Wiederholung von alten Tatsachen. Aber dass solche Anschläge wieder gehäuft passieren, zeigt eben, dass es auf beiden Seiten eine wahnsinnig große Radikalisierung gibt. Gerade wenn man mit Leuten darüber spricht, hört man oft ganz beiläufig sehr radikale Dinge. Häufig kann man diese Aussagen dann gar nicht einordnen, weil sie eigentlich von ganz normalen Leuten kommen. Das zeigt einfach, wie kaputt und gewalttätig die Ansichten der Gesellschaft hier mitunter sind.

Und die Eltern? Die sind vermutlich nicht so glücklich, wenn sich der Sohn entscheidet, nach Israel zu gehen.
Meine Eltern hätten mich wahrscheinlich lieber in München gesehen, dennoch haben sie immer respektiert, was ich tue. Aber natürlich kann man sich nicht vorstellen, wie es ist in Israel zu leben, wenn man in Deutschland ist und die Situation nur aus den Nachrichten kennt. Es ist wahrscheinlich schwer zu verstehen, dass man hier auch einen Alltag hat.

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In der Bachelorarbeit sollen keine Kriegsbilder reinszeniert werden, die das Israel-Bild vieler Deutscher geprägt haben – warum?
Ich sehe mich nicht als Kriegsfotograf oder dergleichen. Ich wollte eine Arbeit machen, die komplexer ist als die täglichen Nachrichten. Da ich noch nie in Israel war, wollte nicht schon mit einer fertigen Idee für meine Bachelorarbeit hier ankommen. Mir ist wichtig, das Land wirklich kennenzulernen und mir das Thema dann hier vor Ort zu suchen, ohne schon mit einer vorgefertigten Meinung aus den Medien an das Projekt heranzugehen. Dazu lerne ich gerade Hebräisch, unterhalte mich mit vielen verschiedenen Leuten und dabei merke ich eben, wie viele Themen und Geschichten es hier gibt, von denen man in Deutschland gar nichts mitbekommt – ich glaube, das ist es, wonach ich eher gesucht habe.

Bei dieser Suche sind unter anderem Fotos von der Organisation „The Parents Circle" entstanden. Worum geht es dieser Gruppe?
„The Parents Circle“ wurde 1995 gegründet und besteht aus circa 600 Familien sowohl jüdischer als auch arabischer Herkunft, die durch den Konflikt zwischen Israel und Palästina ein Familienmitglied verloren haben. Während des aktuellen Krieges haben sich die Mitglieder mehr als 50 Tage jeden Abend zu einer Demo in Tel Aviv getroffen, zu der sie Gesprächspartner eingeladen haben, um im Dialog einen anderen Weg der Konfliktlösung aufzuzeigen. Es ist leider so, dass der Gazakrieg von vielen israelischen und palästinensischen Bürgern unterstützt wurde und man vorsichtig sein musste, wie man sich dazu äußert.

Dennoch versuchen die Mitglieder des „Parents Circle“ durch verschiedene Aktionen den Dialog zu fördern.
Ja, ein wichtiger Teil ihrer Arbeit besteht zum Beispiel darin, in Schulen zu gehen, sowohl auf israelischer, als auch auf palästinensischer Seite und dort Aufklärung zu leisten. Konkret heißt das: Sie gehen mit einem Israeli und einem Palästinenser zusammen in die Schulen, diskutieren dort mit den Schülern, hören ihnen zu – Zuhören ist für sie eine Grundvoraussetzung, denn man muss wissen, wie der andere tickt und was ihn bewegt, wenn man etwas verändern will.

Wie reagieren die Schüler darauf?
Die Diskussionen sind meist ziemlich hitzig, denn für manche der Schüler ist das wirklich die erste Konfrontation mit der „Gegenseite“, aber sie haben die Klasse immer im Griff. Diese Menschen haben erlebt, wie es ist, ein Familienmitglied zu verlieren – denen hört man ganz anders zu.

Im September gab es ein Gespräch der Mitglieder des „Parents Circle“, das besonders emotional war.
Ja, das war ein sehr spezielles Treffen, weil sich die beiden Seiten das erste Mal nach dem Krieg wieder begegnet sind. Dementsprechend waren sehr viele Emotionen da und bei dieser Begegnung ging es auch darum, Luft rauszulassen und gegenseitig wieder Verständnis aufzubauen. Dieser Prozess ist einfach mit sehr viel Arbeit verbunden und muss immer wieder im Gespräch erneuert werden.

In einer so komplizierten Auseinandersetzung wie der zwischen Israel und Palästina ist es schwer, eine neutrale Position einzunehmen – wie geht man in seiner fotojournalistischen Arbeit damit um, dass man nicht neutral sein kann in dieser Situation?
Es gibt sehr viel einseitigen Journalismus über den Konflikt, aber das Thema ist einfach sehr komplex. Es ist eine Utopie zu glauben, dass es leichter wird, das zu verstehen oder eine klarere Meinung zu dem Thema zu haben, wenn man selbst in Israel ist. Deswegen fand ich „The Parents Circle“ so interessant, weil dort beide Seiten gleich stark vertreten sind. Wenn ich eine Position gegenüber diesem Konflikt habe, dann die, dass auf beiden Seiten sehr viel Schlechtes passiert ist und es nichts hilft, sich all diese Dinge immer wieder vorzuwerfen. Man muss jetzt nach einer konkreten, möglichst gerechten Lösung suchen und die Gewalt- und Hassspirale beenden. Interview: Carolina Heberling

Mehr über Stefans Reise erfahrt ihr unter http://www.stefanloeber.de/ und https://www.facebook.com/StefanLoeberPhotography.

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Einmal Weltbild verändern, bitte

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Ahmad war früher Mitglied der Muslimbruderschaft – heute führt er Gruppen durch das Jüdische Museum in München. Der Student brauchte einen Nebenjob – „und außerdem wollte ich mit dem Klischee brechen, dass alle Araber antisemitisch sein sollen“.

Ein Blick in den Nahen
Osten, auf den scheinbar unlösbaren Konflikt zwischen Arabern und Israelis,
zwischen Islam und Judentum, lässt die Geschichte, die Ahmad Abdalla erzählt,
unglaublich klingen: Ein junger Moslem aus Ägypten, der als Besucherbetreuer im
Jüdischen Museum arbeitet. Doch das ist nicht irgendeine idealistische Fiktion,
sondern Alltag des 25-Jährigen.

Vor mehr als zwei Jahren
kommt Ahmad nach Deutschland. Er will die Sprache lernen, Film studieren,
landet dann doch irgendwie bei Orientalistik und Geschichte. In seinem
Hebräisch-Kurs empfiehlt ihm einer das Jüdische Museum, ein guter Ort für einen
Nebenjob. „Es hat mich sehr interessiert“, sagt Ahmad, „und außerdem wollte ich
mit dem Klischee brechen, dass alle Araber antisemitisch sein sollen.“

Es folgt ein nicht ganz
einfacher Marathon aus Interviews und Gesprächen. Und als Ahmad schon am Ziel
ist, zwei Wochen nach seiner Einstellung, kommt ein Anruf. Er dürfe erst einmal
nicht mehr arbeiten, denn sein Pass müsse von der Polizei überprüft werden. Eine
neue Regelung, hieß es. „Doch irgendwie war ich sauer.“ Heute, wenn er Gruppen
durch das Museum führt und auf seine eigene, wissenschaftliche und zugleich
sympathische Weise von der jüdischen Geschichte erzählt, hat er diesen Vorfall
längst vergessen. Ihn begeistert die Begegnung mit den vielen verschiedenen
Menschen, auch wenn ihn die Arbeit selbst, immer wieder dasselbe zu erzählen,
manchmal langweilt.

Viele Besucher – auch
die aus Israel – erkennen ihn nicht als Araber. „Sie denken, ich sei Israeli“,
sagt er und deutet auf seine schwarzen Locken und die dunkle Haut, „Ich sehe so
aus.“ Erfahren die Menschen dann doch von seiner Herkunft, sind die meisten
verwundert, positiv verwundert. Eine junge Islamwissenschaftsstudentin meinte
mal zu ihm, er habe ihr Weltbild verändert: „Kannst Du Dir vorstellen, wie sehr
mich das gefreut hat?“, sagt er – in diesem Moment ist ein Strahlen in seinem
Gesicht zu entdecken.

Natürlich weiß der
Student, weshalb er, der muslimische Besucherbetreuer, die Leute so verwundert.
Er kennt den Konflikt. Er kennt die Vorurteile seiner eigenen Landsleute – und
versteht sie auch, vor allem nach den Kriegen und den anhaltenden Angriffen auf
Palästinenser. „Doch nicht alle Juden sind Israelis, nicht alle Israelis Juden
und vor allem sind nicht alle Israelis gleich.“ Vielen Menschen in der
arabischen Welt fehle dieses Verständnis, diese Differenzierung, sagt er. „Ich
bin da anders – wohl offener.“ Man dürfe nicht verallgemeinern, das ist ihm
wichtig.

Aber er versteht auch
die jüdische Seite mit ihren Traumata und Ängsten. Wie so viele wünscht er sich
ein Ende des Konflikts: eine Zwei-Staaten-Lösung für Palästinenser und
Israelis. Einen multikulturellen Staat Israel, nicht nur für Juden, sondern für
alle. Eine Aufgabe der Mythen, auf beiden Seiten. Eine Politik mit weniger
Fehlern, auch das auf beiden Seiten. „Aber bald wird und kann das nicht
geschehen“, dazu seien die beiden Parteien zu radikalisiert. „Früher ging es um
Politik, heute um Religion“, sagt er.

In Sachen Religion hat er
sich ein ganz eigenes Bild gemacht: Er selbst brauche das nicht, „denn Religion
schafft oft Grenzen, und wenn Gott so groß ist, warum sollte es dann Grenzen
geben“? So denkt er heute. Früher war das nicht so, da war er noch gläubig und
ging oft zum Beten in die Moschee. Dort traf er auch auf die Muslimbrüder,
wurde mit 17 sogar selbst einer von ihnen. „Wie jeder in dem Alter suchte ich
nach einer Bedeutung in meinem Leben, wollte verstehen und aktiv sein.“
Eineinhalb Jahre schaute er sich die Organisation von innen an und machte eine
Erfahrung, die er nicht missen möchte. Allerdings merkte er auch schnell, dass
er dort nicht hineinpasst. „Ich war immer anders“, erklärt Ahmad heute, „denn
ich bin ins Kino gegangen, habe Musik gehört und auch Weltliteratur und nicht
nur religiöses Zeug gelesen.”

Der erste Israeli, den
er kennenlernt, ist sein Hebräischlehrer, heute ein Freund von ihm und damals
eine neue und interessante Bekanntschaft. Inzwischen sind unter seinen besten
Freunden sowohl Juden als auch Christen. „Wenn wir abends zusammen sitzen, dann
spielt unsere Religion überhaupt keine Rolle“, erzählt er. „Und das ist schön“,
fügt er hinzu.

Zu Beginn des Semesters
bekommt er nun während seines Geschichtsstudiums die Möglichkeit, das Land, das
er aus so vielen Perspektiven betrachtet, mit eigenen Augen zu sehen und zu
erfahren. Diesen Samstag ist der Flieger nach Tel Aviv abgehoben. Mit ihm,
obwohl es lange nicht danach ausgesehen hat. Die Bearbeitung seines
Visum-Antrags habe sich in die Länge gezogen, sagt er. Beantragt hat er es im
März, normalerweise, sagt er, müsse man zwei, drei Wochen darauf warten. Er
bekam es erst wenige Tage vor dem Abflug. Dorothee Merkl

Foto: Conny Mirbach