Veränderter Blick

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Paulina Glocker und Leo Simon sind den Flüchtlingen entgegengereist. Ihre Fotos und Tagebucheinträge haben sie für eine Ausstellung aufbereitet.

Von Theresa Parstorfer

Den Geruch, den wird Paulina Glocker nie wieder vergessen. Den Geruch in einem Flüchtlingscamp irgendwo an der serbisch-mazedonischen Grenze. Den Geruch, den Tausende von Flüchtlingen jeden Tag ertragen müssen, während sie neben Müllbergen in einer Warteschlange stehen. Sie warten, um irgendwann, nach Stunden, nach Tagen, die schriftliche Erlaubnis ausgestellt zu bekommen, von der mazedonischen Grenze im Osten des Landes an die Grenze im Westen transportiert werden zu dürfen.

Paulina Glocker und Leo Simon, 23, haben diesen Sommer einen etwas anderen „Urlaub“ unternommen: Sie sind den Flüchtlingen entgegengereist, die derzeit Richtung Europa, Richtung Deutschland strömen. Was sie dort, in Griechenland, Kroatien, Serbien und Mazedonien gesehen und erlebt haben, lässt die beiden Studenten nicht mehr los. Die Fotos, die Leo aufgenommen hat und die Tagebuchtexte, die Paulina geschrieben hat, haben sie für die Ausstellung „München – eine Weltstadt zwischen Herz und Hetze“ aufbereitet. Sie wird am Dienstag, 3. November, um 19 Uhr im Provisorium in der Lindwurmstraße eröffnet und ist sechs Tage lang zu sehen. Die Veranstaltung findet in Kooperation mit der Petra-Kelly-Stiftung statt.

„Diesen Geruch sollte jeder auch nur für eine Stunde aushalten müssen, der heute davon redet, Zäune zu bauen und Abschiebe-Verfahren zu beschleunigen“, sagt Paulina. Sie hat dunkle, große Augen. Ihr schwarzes Haar, von dem manche Strähnen von bunten Stoffbändern umwickelt sind, ist auf einer Seite kurz rasiert. Sie ist 21 Jahre alt und studiert Politik an der Hochschule.
Wenn sie über die „Flüchtlingskrise“ redet, über den Hauptbahnhof in diesem Sommer und über das, was so mancher Pegida-Anhänger von sich gibt, gestikuliert sie. Ihre Hände unterstreichen, dass Paulina nicht nichts tun kann, angesichts einer humanitären Krise, wie sie sich in den vergangenen Monaten in ganz Europa zugespitzt hat. 

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„Es macht schon wütend
zu sehen, wie gut
wir es hier haben.“

Deshalb war sie in diesem Sommer auch eine der Ersten, die zum Hauptbahnhof fuhr, als die ersten Züge voll mit geflohenen Menschen ankamen. „Da war alles noch sehr unorganisiert. Wir waren nur so eine Gruppe von Leuten, noch gar keine Logistik dahinter“, sagt Paulina. Erstaunt habe es sie, wie schnell dann aber eine Struktur in die Koordination der Hilfsbereitschaft gekommen sei. Am Hauptbahnhof lernte sie auch Leo kennen. Schon an diesem ersten Tag hatte er sein Kamera-Equipment dabei. Und als Paulina ihn fragte, für welche Zeitung er denn arbeitete, „da hat er mir gleich seine Karte gegeben“, sagt sie und lacht. Über den Sommer habe man sich dann besser kennengelernt und dann irgendwann, als Paulina beschlossen hatte, Richtung Süden zu reisen, kam Leo einfach mit.

Auch er fand die Idee gut. Auch er wollte in diesem Sommer nicht irgendwo am Strand liegen, während anderswo Menschen ertranken, und da Paulina gerne jemanden dabei gehabt hätte, der ihre Reise dokumentierte, packte Leo auch hier wieder seine Kamera ein. Das Fotografieren hat er von seinem Vater, der professioneller Fotograf ist, gelernt.
Leos Fotografien sind voller Bewegung. An den Rändern verschwimmen die Farben, doch die Menschen sind scharf umrissen. Die Farben wirken gedeckt, beinahe düster, und beschönigen nichts. Da schlafen zwei junge Männer vor einem Zelt und neben dem Müll. Ein kleiner Junge, kaum fünf Jahre alt, schiebt eine Schubkarre – voll mit Müll.

Nach diesen Erfahrungen kommt Leo und Paulina das Alltagsleben hier in Deutschland auf einmal anders vor. „Es macht schon wütend zu sehen, wie gut wir es hier haben und wie wenig wir es doch zu schätzen wissen“, sagt Paulina. Aber schnell rutsche man dann auch wieder in seinen alten Trott. Paulina hat sich vor wenigen Tagen aus ihrer Wohnung ausgeschlossen. Sie lächelt und hebt die Schultern. „Klar, da habe ich mich auch aufgeregt. Aber wenn man dann daran denkt, wie einfach sich Dinge hier normalerweise regeln lassen, dann sind das alles keine wirklichen Probleme mehr.“

„Wir wollten auf keinen Fall,
dass das so eine Art
Flüchtlingstourismus wird.“

Ziel der Reise war es, zu sehen wie es ist, an „Europas Grenzen“, dort wo die Flüchtlinge ankommen. „Aber wir wollten auf keinen Fall, dass das so eine Art Flüchtlingstourismus wird“, sagt Leo. Auch seine Haare und seine Augen sind dunkel, auch er studiert Politik und auch er engagiert sich politisch. Aber er ist sehr viel ruhiger als Paulina. Während der jungen Frau manchmal die Tränen in die Augen steigen, wenn sie von all den Menschen berichtet, die eigentlich keine Chance mehr haben, blickt Leo nachdenklich in seinen schwarzen Tee. „Deshalb war es auch ganz gut, dass wir am Ende mit dem Auto gefahren sind und nicht, wie irgendwann mal geplant, mit dem Zug“, fügt er hinzu. Es sei nicht darum gegangen, nachzuempfinden, was es heißt, ein Flüchtling zu sein. „Das kann man nicht. Niemand von uns kann sich vorstellen, wie es sich anfühlt, fliehen zu müssen, weil man in seinem Heimatland einfach nicht mehr leben kann, aus welchen Gründen auch immer“, darin sind sich die beiden einig. Ihnen ginge es mehr darum, auf diese paradoxen Ungleichheiten hinzuweisen. „Eigentlich sind die Menschen doch alle gleich, aber dann gibt es doch so viele Unterschiede“, sagt Paulina. „Ich meine, wir hatten Glück, dass wir hier in Deutschland geboren wurden. Warum hatte das ein Medizinstudent aus Afghanistan nicht, obwohl er vielleicht ähnliche Vorstellungen und Ansichten, eine ähnliche Ausbildung und Lebensplanung hatte?“

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Geschichten von solchen Einzelschicksalen können die beiden viele erzählen, doch das Anliegen in ihrer Ausstellung ist eigentlich ein etwas anderes: Auf Leos Lieblingsbild sieht man nur die Füße einer Familie, die sich unter eine Plastikplane vor dem Regen schützt. „Das sagt irgendwie total viel: Man sieht keine Gesichter. Das sind ganz viele Einzelschicksale, aber gleichzeitig auch in einer Allgemeinheit, denn dieses generelle Schicksal wird von so vielen geteilt“, sagt er.

Zwölf Tage waren die beiden unterwegs. Sieben Länder haben sie in dieser Zeit gesehen und Tausende von Menschen ohne Heimat. Wenn sie in einem neuen Camp ankamen, packten sie mit an. „Nicht helfen ging da nicht“, sagt Paulina und Leo fügt hinzu: „Was uns selbst immer wieder erschreckt hat, ist, wie schnell die Situation sich ändern kann.“ Während es an einem Tag völlig ruhig war, konnten am nächsten Tag auf einmal 2000 neue Flüchtlinge ankommen und das Lager völlig überschwemmen und überfordern.
Dass die Menschen einfach so lange in diese Lager gesteckt werden, das ist für Leo vielleicht das Schlimmste. Flüchtlinge sind für Politiker nur Nummern, Zahlen. Kostenfaktoren, und keine Einzelschicksale. „We are only numbers“, habe einer der Flüchtlinge einmal zu ihnen gesagt. Aber Leo ist auch sehr pragmatisch. „Auch wenn es platt klingt, muss man doch sagen: Demokratie wirkt. Diese Menschen werden kommen und niemand wird sie aufhalten können. Wir müssen nur sehen, wie wir damit umgehen.“

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Fotos: Leonhard Simon

Neuland

Sie singen für Flüchtlinge: Der Romanistik Chor München gibt am 12. April ein Konzert in der Bayernkaserne.

Wenig verbindet so sehr wie Musik. Das wissen auch die Mitglieder des Romanistik Chor München (Foto: privat): Die Studenten geben am Sonntag, 12. April, erstmals ein Konzert in der Bayernkaserne für die dort untergebrachten Flüchtlinge. Der Chor, der 2013 gegründet wurde, zählt derzeit dreißig Mitglieder und singt vorwiegend Lieder in romanischen Sprachen wie Französisch oder Spanisch. Eine Sprachbarriere für die Flüchtlinge? In gewisser Weise schon, sagt Franziska Spohr, 23, die Organisatorin des Konzerts, aber: „Die Message geht über die Musik.“  Carolina Heberling

Wer den Chor live erleben will, hat dazu am Sonntag, 19.April, aber 19 Uhr die Gelegenheit – dort singen die Romanisten im Haus der K.S.St.V. Alemannia, Kaulbachstraße 20.

Neuland

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Mit dem Radl durch die Welt: Zwei junge Studenten legen 12.000 Kilometer Strecke zurück, um damit Geld für Flüchtlinge zu sammeln. “Cycling for Syria” heißt das Projekt der beiden Radler.

Quer durch Europa wollen sie reisen, von der Küste Gibraltars bis in den hohen Norden Finnlands. Sven Wang, 19, und Niklas Gerhards, 21, haben sich vorgenommen, 12. 000 Kilometer auf dem Fahrradsattel zurückzulegen. „Cycling for Syria“ heißt das Projekt. Mit der Benefiz-Radtour sammeln die beiden auf www.betterplace.org Spenden für den Verein „Ärzte der Welt“ – schließlich haben syrische Flüchtlinge medizinische Versorgung dringend nötig. Ein Thema, das die beiden auch persönlich berührt: Niklas studiert in Berlin Medizin, Sven hat bereits Freundschaften in Flüchtlingsheimen geknüpft (Foto:privat). Für Sven, Mathematik-Student in München, sind längere Touren nichts Neues. Nach dem Abitur ist er zwei Monate mit einem Esel auf Wanderschaft gegangen. Auf dem Weg nach Genua kam er sogar zufällig in die italienische Presse.„Es ist vor allem eine mentale Herausforderung“, sagt er. „Körperlich sind wir fit.“
Kennengelernt haben sich die beiden Studenten bei einer Veranstaltung einer Stiftung. Bei der gemeinsamen Radtour wollen sie nun nicht nur an ihre eigenen Grenzen gehen, sondern auch Europas Grenzregionen abfahren. Am Sonntag Für die anstehende Tour haben sich beide schon entsprechend ausgerüstet. Spezielle Reiseräder stehen bereit: „Die gelten als unkaputtbar“, versichert Sven. Radtaschen und ein Solarsystem für die Stromversorgung werden von Firmen gesponsert. Zweimal die Woche wollen Sven und Niklas ihre Sponsoren per Facebook mit Bildern und Videos der Reise auf dem Laufenden halten.  Elsbeth Föger

MigraMed: Gemeinsam zum Arzt

Medizinische Diagnosen sind nicht immer leicht zu verstehen, besonders wenn man die Sprache des Arztes nicht spricht. Die Studenteninitiative MigraMed begleitet Flüchtlinge zum Arzt und erklärt ihnen, was der genau gesagt hat.

Komplizierte Diagnosen und lateinische Fachtermini – wer zum Arzt geht und kein Deutsch kann, versteht nicht immer, was ihm über seine Gesundheit erzählt wird. An diesem Punkt setzt die Initiative MigraMed (Foto: Matthias Deininger) an: Münchner Medizinstudenten begleiten Flüchtlinge zum Arzt und erklären nach dem Besuch mithilfe von Dolmetschern, was der Arzt gesagt hat, welche Medikamente der Patient nehmen muss und wie nun weiter behandelt wird.
Seit 2013 finden diese Besuche statt – inzwischen hat MigraMed 50 bis 60 freiwillige Helfer. „Es gibt Menschen, die so nah bei uns leben und trotzdem nicht die gleiche Versorgung bekommen“, sagt Medizinstudentin Linda Avena, 26. Um das zu ändern, bieten die Studenten in Kooperation mit der Caritas wöchentlich eine medizinische Sprechstunde für Asylbewerber an. Seit einiger Zeit veranstaltet MigraMed auch Schulungen für Flüchtlinge: Zusammen mit einem Dolmetscher werden Themen wie Frauenhygiene oder HIV besprochen. Carolina Heberling

Refugee Law Clinic: Jura mal anders

Behördengänge? Können kompliziert sein, besonders für Flüchtlinge. Die Initiative “Refugee Law Clinic” will Asylsuchende dabei unterstützen.

Jahrzehntelang war es verboten. Doch mittlerweile dürfen Studenten auch in Deutschland juristische Beratung leisten. Das krempelt nicht nur das Jurastudium um, sondern kommt zugleich auch Bedürftigen zu Gute. Ursprünglich sind die „Law Clinics“ eine Erfindung aus den USA. Mittlerweile gibt es sie auch in München. Das Prinzip ist einfach: Angehende Juristen und ehrenamtliche Helfer unterstützen Asylbewerber bei Behördengängen. Außerdem bieten sie kostenlose Deutsch- und Fremdsprachenkurse an. Wer mitmachen will, sollte viel Spaß an der Vereinsarbeit mitbringen. Das Ziel: Durch eine Kombination aus theoretischer und praktischer Ausbildung sollen die Studenten schon während ihrer Ausbildung mit dem künftigen Berufsalltag konfrontiert werden. Dieses Konzept scheint aufzugehen, auch für Franziska Faßbinder und Lisa Schmidt (Foto: Sandra Singh), beide Mitte 20: „Als wir die Beratung das erste Mal angeboten haben, saßen schon eine halbe Stunde vorher sieben Hilfesuchende vor dem Beratungszimmer“, sagt Franziska. Sarah Brenner

Talente spenden: Gemeinsam Gutes tun

Sie organisieren Kleiderspenden und geben Deutschkurse: Deutschlandstipendiaten haben die Initiative “Talente spenden” gegründet, um Flüchtlingen zu helfen.

Das Projekt „Talente spenden“ besteht aus einer Gruppe von Deutschlandstipendiaten der TU München, die sich seit vergangenem Jahr gemeinsam sozial engagiert. „Da wir als Studenten gut mit unserem Geld haushalten müssen, haben wir uns überlegt, unsere Talente an andere Menschen weiterzugeben“, sagt Johanna Ziegltrum, 24 (foto: privat). Außerdem organisiert die Gruppe regelmäßig Bücher- und Kleiderspendenaktionen in Flüchtlingsheimen.
Ihr neuestes Projekt: wöchentliche Deutsch- und Fremdsprachenkurse für minderjährige Flüchtlinge. „Wir wollen der Gesellschaft, die einen Teil unseres
Stipendiums trägt, gerne etwas zurückgeben und benachteiligten Bevölkerungsgruppen helfen“, sagt Johanna. Besonders wichtig sei ihr dabei, selbst aktiv zu werden und in persönlichen Kontakt mit den Hilfesuchenden zu treten. Bei den Aktionen machen Studenten aus allen möglichen Fakultäten und Studienrichtungen mit. Somit kann das Projekt aus einem riesigen Pool an Talenten schöpfen.

Social Ride: Fahrräder aufmotzen

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Mit Fahrrädern Flüchtlingen helfen: Die Initiative “Social Ride” bildet junge Asylsuchende zu Fahrradreparateuren aus.

Die Idee: alte Fahrräder aufmotzen. „Social Ride“ heißt das Projekt, das Münchner Studenten ins Leben gerufen haben, um die Situation von jugendlichen Flüchtlingen zu verbessern. In einem sechs- bis neunmonatigen Praktikum wird den Jugendlichen beigebracht, wie sie alte Räder wieder fit machen. Die werden anschließend verkauft. Ein Teil des Erlöses geht an die Flüchtlinge, der Rest wird verwendet, um die Materialkosten zu decken. Die Ausbildung zum Radreparateur übernimmt die Fahrradwerkstatt R 18; die Studenten, die sich über die Studenteninitiative enactus kennengelernt haben, sind für den Vertrieb der Räder verantwortlich (Foto: enact Munich e.V). Sie wollen sich durch das Projekt mit der Lebenssituation von Flüchtlingen auseinandersetzen: „Wir haben mit diesen Menschen sonst nichts zu tun“, sagt Keno Dreßel, 21, „und wollten die kennenlernen.“ Derzeit, erklärt Keno, der Medieninformatik studiert, sei man noch in der Planungsphase – die ersten Flüchtlinge sollen ab April 2015 ausgebildet werden.

Schusswechsel mit Superman

Wenn Superman hilft: Die Initiative “Wolkenschlösser” will jungen Flüchtlingen Deutsch beibringen – gelernt wird die Sprache aber nicht im Klassenzimmer, sondern in einem Comicworkshop.

Krieg im Irak: Die Panzer rollen, schießen auf
Häuser und ihre Bewohner. Eine Mutter zerrt ihr Kind hinter sich her,
verwundete Menschen winden sich am Boden. Es ist nur eine Skizze, die in einem
der Workshops von Amélie Planck, 27, Sebastian Huber, 28, und Bryan Banker, 37,
(Foto: Matthias Starte)
entsteht. Junge Flüchtlinge und Einwanderer malen und beschreiben hier ihre
eigenen Comics. Die Themen geben die drei zwar nicht vor, doch häufig
verarbeiten die Teilnehmer ihre ganz persönlichen Erfahrungen, die Bilder
erzählen von Gewalt, Verfolgung und Terror. Mit den Comics wollen Amélie, Bryan
und Sebastian die Flüchtlinge zum kreativen Schreiben und Zeichnen animieren.
Dadurch sollen sie spielerisch Deutsch lernen und sich besser in ihrer neuen
Heimat zurechtfinden.

Im Mittelpunkt des Projekts stehen Geschichten – die
sogenannten Wolkenschlösser. Ob fiktiv oder wahr, das bleibt jedem selbst
überlassen. „Zusammen wollen wir Wolkenschlösser bauen, sie verformen, wieder
abreißen, anders aufbauen, begutachten, manchmal auch zusammen darin wohnen“,
beschreiben die „Wolkenbauer“ ihr Konzept träumerisch. Genau darauf baut das
Projekt: bewusst unrealistische, optimistische und naive Ziele zu formulieren.

„Wir können keine Trauma-Arbeit leisten“, sagt
Sebastian, der Gründer von Wolkenschlösser. „Aber mit den Geschichten können
wir den Jugendlichen eine Orientierung geben. Sie sollen ihre Erfahrungen
umwandeln in etwas, auf das sie stolz sind.“

Amélie, Bryan und Sebastian bringen bereits
Erfahrungen in der Flüchtlingsarbeit mit, jeder auf seine eigene Weise: In dem
Projekt fließen dadurch ein praktischer, ein pädagogischer und ein
literarischer Ansatz zusammen. Während Bryan Flüchtlingen in den USA Englisch
beigebracht und sie in rechtlichen Fragen beraten hat, begleitet Amélie
minderjährige Flüchtlinge, die ohne Familie nach Deutschland kommen. Außerdem
macht sie ihren Master in Pädagogik. Sebastian hat in Literaturwissenschaft
promoviert, die Sprache und das Erzählen sind seine Leidenschaft. Seit vergangenem
Jahr unterrichtet er Englisch an der Schlau-Schule, einer Einrichtung für
minderjährige Flüchtlinge in München.

Im Comic-Workshop sollen sich die 15 Teilnehmer als
Superhelden mit außergewöhnlichen Fähigkeiten malen. Oft holt die Flüchtlinge
ihre Vergangenheit ein. „Der eine konnte fliegen, um seine Familie nach
Deutschland zu holen“, erzählt Sebastian. „Ein anderer wollte besonders stark
sein und im Krieg helfen.“ In der Zeichnung einer jungen Irakerin hat die
Superheldin die Fähigkeit, die Panzer zu verzaubern und kampfunfähig zu machen.
Am Ende ihres Comics hält die Retterin einen Mann und eine Frau an der Hand,
sie lächeln. Am Rand die Notiz: „Und jetzt sind alle Leute glücklich und lachen
auch“.

Ein professioneller Comic-Autor hilft den
Flüchtlingen beim Schreiben der Texte: John Figueroa. Er hat sich in einem
Artikel mit der Frage beschäftigt, ob die Kultfigur Superman, wenn es nach den
Maßstäben mancher Hardliner ginge, aus den USA abgeschoben werden müsste.
Superman, geboren auf dem Planeten Krypton und dann in einer Rakete zur Erde
geschossen, habe gar kein Aufenthaltsrecht in den Vereinigten Staaten, so
Figueroas ironische These. Der US-Amerikaner lebt in München. Völlig legal, wie
er in seinem Text betont. Von Deutschland aus schreibt Figueroa für einen der
größten Comicverlage der Welt, Marvel Comics in New York.

„Das Erste,
mit dem Flüchtlinge in Deutschland konfrontiert werden, sind Gesetzestexte,
Beamtendeutsch, Formulare und Behördengänge“, sagt Sebastian. „In den kreativen
Workshops sollen sie einen anderen Zugang zur deutschen Sprache und Kultur
bekommen.“ Den Flüchtlingen die schöne Seite der Sprache vermitteln, das ist
das Ziel des Projekts. Wolkenschlösser schwimmt damit gegen den Strom: Die drei
Gründer begreifen die Flüchtlinge nicht als ökonomischen Faktor, vielmehr steht
bei ihnen ihr kreatives Potenzial im Mittelpunkt. „Erzählen statt Zahlen“, so
drückt es Sebastian aus. An den meisten Sprachkursen kritisiert er, dass die
Teilnehmer passiv im Unterricht säßen und Vokabeln auswendig lernen müssten,
ohne einen emotionalen Bezug zu ihnen aufzubauen.

Aparna Bhar, Deutschlehrerin an der Schlau-Schule,
ist angetan von der Idee der Wolkenschlösser. In ihren Sprachunterricht könne
sie das Konzept trotzdem selten übertragen: „Wir haben inhaltliche Vorgaben und
müssen bestimmte Situationen der alltäglichen Kommunikation abdecken“, erklärt
Bhar. Das sind zum Beispiel Gespräche bei Behörden, beim Arzt oder mit den
Nachbarn. „Weil die Schüler einen unterschiedlichen Bildungshintergrund haben,
reicht die Zeit schon dafür kaum aus. Und die meisten wollen so schnell wie
möglich Deutsch lernen.“

Fragt man Sebastian, was ihn bei seinem Projekt
antreibt, überlegt er lange. Er, der den Flüchtlingen eine Stimme geben möchte,
sucht in diesem Moment nach den richtigen Worten. „Ich wollte helfen und habe
überlegt, was ich zu bieten habe“, erklärt der junge Mann schließlich. Er
kneift die Augen hinter der schwarzen Hornbrille zusammen. Am Ende sei das die
Liebe zur Literatur, zur Sprache und zum Erzählen gewesen. Diese Liebe möchte
er teilen. Mit Efstratia zum Beispiel, einer Migrantin aus Griechenland. Ihr
habe der Comic-Workshop sehr gut gefallen, sagt sie. „Man kann die nicht so
schöne Realität verlassen und sich in eine andere Welt hineinversetzen, wo man
besondere Kräfte und Geheimnisse hat. Ich liebe diese Welt der Imagination.“

Für die Comic-Workshops müssen die Teilnehmer noch
relativ wenige Sprachkenntnisse mitbringen. Sebastians Pläne gehen aber weiter:
Im Laufe des Jahres will er seinen Schützlingen beibringen, Kochrezepte,
Gedichte, Sagen und Märchen zu schreiben. „Die Jugendlichen sollen gemeinsam
etwas schaffen, um so ihr Selbstbewusstsein zu stärken“, sagt Sebastian. Ein
Buch zum Beispiel, in dem er am Ende alle Texte und Bilder sammelt. Ein
hochgestecktes Ziel? Vielleicht. Aber manchmal werden Träume wahr. 

Jenny Stern

Auf Bewährung

Die Refugee Law Clinic bietet Rechtsberatung für Flüchtlinge an. Franziska Faßbinder, 25, und Lisa Schmidt, 24, engagieren sich dort – um Flüchtlingen zu helfen und neue Motivation für ihr Jurastudium zu schöpfen.

Man möchte nicht spekulieren, was sich Flüchtlinge, die nach Monaten, Jahren der Flucht in Deutschland ankommen, am meisten wünschen. Ein Wunsch, den die angehenden Juristinnen Franziska Faßbinder, 25, und Lisa Schmidt, 24, (Foto: Sandra Singh) immer wieder hören, klingt so: endlich zu Hause anrufen, den Eltern sagen, dass man wohlbehalten angekommen ist, und hören, ob es der Familie in der Heimat gut geht. Es ist ein Wunsch, der oft nicht folgenlos bleibt. Vielmehr ist es einer der Gründe, warum Flüchtlinge in Deutschland Rechtsberatung brauchen, erklärt Franziska Faßbinder. „Man muss sich das so vorstellen: Man hat einen ganz jungen Asylbewerber – vielleicht 19 Jahre alt. Und er möchte nichts lieber, als sofort mit seiner Familie telefonieren. Also geht er in das nächste Geschäft und lässt sich einen extrem blöden Handyvertrag aufschwatzen. Und dann ruft er zu Hause an, zum Beispiel im Senegal, und telefoniert eine Dreiviertelstunde mit seiner Mama. So bekommt man dann eine Rechnung von, sagen wir, 1300 Euro.“

Immer wieder bleiben solche Rechnungen offen. Mahnungen, die sicher nicht bezahlt werden können, erreichen die Flüchtlinge. Was viele nicht wissen: „Eine zu hohe offene Forderung kann Auswirkungen auf den Asylantrag haben. Das heißt, das, was für Telefongesellschaften wenig Geld ist, bedeutet für einen Menschen seine Existenz“, sagt Franziska. Beratungen für solche Fragen gibt es einige, im August dieses Jahres ist noch eine weitere hinzugekommen: die Refugee Law Clinic mit Studenten wie Franziska und Lisa, die in dem Rahmen helfen wollen, in dem sie es können.

Law Clinic nennt sich das Konzept, in dem angehende Juristen ehrenamtlich beraten und so selbst erste praktische Erfahrungen sammeln können. In München bekommen die Studenten dabei Unterstützung von ihrem Beirat. Das sind Experten auf dem Fachgebiet, die vorab Vorträge zu ihren jeweiligen Schwerpunkten halten und den Studenten bei heiklen Fragen zur Seite stehen, ihnen auch sagen, wo sie helfen können und in welchen Fragen sie es lieber lassen sollten.

Iris Ludwig ist eine von ihnen. Von dem Konzept der Law Clinic ist sie begeistert, auch weil damit ein Thema mehr Aufmerksamkeit erhält, das sonst von der Uni häufig vernachlässigt würde. Mit fatalen Konsequenzen: „Man muss wirklich sagen, dass es zu wenig gute beziehungsweise engagierte Anwälte auf diesem Gebiet gibt“, sagt Iris Ludwig. „In meiner Kanzlei müssen wir jeden Tag Leute wegschicken, die wir aus Kapazitätsgründen nicht als Mandanten aufnehmen können. Ich finde die Law Clinic so wichtig, weil ich hoffe, dass sich dadurch bereits an der Uni Studenten mit dem Thema beschäftigen und dann später zu engagierten Anwälten werden, die dann wiederum zur Entspannung beitragen.“ Ein Ersatz für voll ausgebildete Anwälte könnten die Studenten natürlich noch nicht sein, aber eine Art Anfangsberatung für die leichten Fälle: „Es ist natürlich total wichtig, dass die Studenten auch wissen, wo ihre Grenzen sind, sich nicht selbst überschätzen. Aber bis zu diesem Punkt ist ihre Arbeit wirklich eine Bereicherung in einem System, das überlastet ist.“

So profitieren beide Seiten, erklärt Franziska. Flüchtlinge wie Studenten: „Es ist bei uns Juristen schon so, dass irgendwann im Studium die Motivation flöten geht. Es ist ein riesiger Berg an Aufgaben, den man abzuarbeiten hat – gerade vor dem Examen. Es ist alles sehr verkopft, theoretisch. Und manchmal verliert man darüber den Blick dafür, was man im echten Leben damit anfangen kann.“ Was im echten Leben damit anfangen zu können – aus diesem Grund haben die beiden ihr Jura-Studium einmal aufgenommen. Hört man ihnen aber eine Weile zu, ist das Studium nicht die Zeit, in der sie in ihrem Wunsch bestärkt werden. Das merkt man auch der Struktur der Law Clinic an: Es ist kein alter Freundeskreis, der hier eine gemeinsame Idee umsetzt. Auch dass sie mittlerweile befreundet sind, steht nicht im Vordergrund. Sie alle scheinen hier etwas zu suchen, was sie im Studium nicht finden können.

Und sie tun es professionell: Die Law Clinic setzt sich aus verschiedenen Ressorts zusammen, sie ist hierarchisch strukturiert. Viele Studenten stehen kurz vor dem Examen, wären eigentlich besser in der Bibliothek aufgehoben, sollten sich auf theoretische Aufgabenstellungen vorbereiten, nicht auf einen Beratungstermin. Doch gerade dafür, so scheint es zu sein, brauchen sie Motivation aus der Praxis. Lisa Schmidt kennt das Gefühl: „Irgendwann stellt man sich schon die Frage, wofür man das eigentlich alles macht. Man studiert die ganze Zeit vor sich hin, jahrelang, und weiß noch nicht einmal, ob man am Ende das Examen schafft. Und dann ist das eine tolle Bestätigung, eine Möglichkeit, um zu sehen, warum man das macht, um zu sehen, was dabei rauskommen kann.“

Wie diese Hilfe aussieht? Woche für Woche fahren drei Jura-Studenten nach Dachau und beraten die Flüchtlinge in ihren Fragen. Zu dritt blättern sie dann in Skripten und Gesetzesbüchern, sagen ganz offen, wenn sie sich einmal unsicher sind, und genau so, wenn sie die Gesetzeslage kennen, ohne sie zu Hause noch einmal nachsehen zu müssen. Am vergangenen Mittwoch warten die drei Studenten vergeblich im Dachauer Caritas-Gebäude – mit Büchern und Laptop ausgestattet, bereit zum Beraten und Protokollieren. An diesem Tag kommt niemand, vielleicht ist das Wetter zu schlecht, vielleicht haben die Studenten die Fälle, die sie bearbeiten können, schon abgearbeitet. In den ersten Wochen war das anders, erklärt Franziska: „Als wir das erste Mal die Beratung angeboten haben, saßen schon eine halbe Stunde vorher sieben Hilfesuchende vor dem Beratungszimmer. Alle waren überpünktlich. Der Letzte hat geduldig drei Stunden lang gewartet, bis er endlich dran kam.“

Mit der Beratung begonnen haben die Studenten im August dieses Jahres, doch die Geschichte der Münchner Law Clinic begann früher. Noch zu Schulzeiten machte Franziska ein Praktikum beim Münchner Flüchtlingsrat. Während eines Auslandsaufenthalts besuchte sie eine Veranstaltung zum Asylrecht, schrieb eine Arbeit darüber. Man kann sagen: Das Thema ließ sie nicht los. Für ihr Hauptstudium kehrte sie zurück in ihre Heimat München. Sie nahm Kontakt mit anderen Beratungsstellen auf, fragte nach, ob hier noch Bedarf bestünde – natürlich bestand Bedarf. Sie tauschte sich mit Studenten anderer Law Clinics aus und merkte schnell, dass eine Menge Arbeit auf sie zukommen würde: „Ich wusste, dass ich ein Semester, wenn nicht ein Jahr länger studieren würde, wenn ich das Projekt wirklich angehe. Und so war es jetzt auch.“

Auch Lisa war nicht unvertraut mit dem Thema. Während eines Praktikums beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge spürte sie zum ersten Mal, wie schwer es ihr fallen kann, allein zuzuhören, wenn Geschichten der Flüchtlinge besprochen werden. Das Gefühl ist ihr geblieben: „Es ist manchmal schwierig, sich persönlich davon zu distanzieren. Gerade, wenn man sich die Geschichte anhört und dann den Menschen da stehen sieht und ihm eigentlich sofort helfen will, ihn eigentlich nicht mehr dahin zurückgehen lassen will“, erzählt sie.

Keine der beiden Studentinnen weiß heute, ob sie auf das Asylrecht später ihren Schwerpunkt legen möchte. Was sie wissen, ist, dass die Beratung ihnen einen neuen Blick auf ihr Studium gegeben hat. Einen lohnenden, für den sie gerne ein Semester länger an der Uni brauchen. Marie Schoeß