Freiraum für Freidenker

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Kein Platz für nichts in München? Blödsinn, findet Benedict Esche. Der junge Architekt glaubt, dass es überall in der Stadt Resträume für Subkultur und zum Wohnen gibt – man muss nur erfindungsreich sein. Mit seinem frisch gegründeten Kreativen-Kollektiv will er das nun beweisen.  

Sieben Quadratmeter groß ist Annes (Name geändert) Zimmer an der Münchner Baumstraße in der Isarvorstadt. Früher war es eine Hausmeisterkammer, jetzt will sie es umnutzen. Künftig soll trotz der Enge Raum für verschiedene Zimmer sein: eine Wohnküche, ein Schlafzimmer, eins zum Arbeiten. Der Trick: verschiebbare Wände, ausklappbare Küche und Möbel. So soll Anne ihre kleine Wohnung in Sekunden umbauen können, lautet der Plan von Architekt Benedict Esche. Der 28-Jährige hat sie erst auf die Idee zum Umbau gebracht.

Seine Idee: Bars könnte man tagsüber als Büro nutzen, 
den Kiosk nachts zum Club machen.

Für Benedict ist das Erdgeschosszimmer in der Baumstraße eines von vielen Beispielen dafür, dass München gar nicht die Flächen ausgehen. Man müsse sie nur kreativer nutzen. Wenn er durch die Münchner Innenstadt läuft, sieht er überall Freiflächen: Zwischen zwei Blumenkübeln an der Brienner Straße wäre Platz für ein Minihaus in Bestlage, die Flächen vieler Bars könnte man tagsüber als Büro nutzen und den Kiosk an der Ecke nachts zum Club machen. Durch die geteilten Mieten soll München plötzlich auch wieder erschwinglich sein. Benedicts Ansatz ist also, die Stadt nicht tatsächlich günstiger oder größer zu machen, sondern sich kleine Schlupflöcher zu suchen, um sie besser auszunutzen.

„Nachverdichten“ ist zwar schon seit Jahren das Zauberwort in der Münchner Stadtpolitik – wenn es nach Benedict Esche geht, passiert aber noch nicht genug. Deshalb hat sein Architektenbüro „Kollektiv A“, in dem sie zu dritt arbeiten, eine weitere Gruppe ins Leben gerufen. Hierfür hat er sich junge Menschen aus verschiedenen Bereichen ins Boot geholt. Neben dem Architekten Jonas Altmann und der Architekturstudentin Vicky Papadimitriou sind auch die Kunsthistorikerin Lisa Deml, der Architekt Giacomo Nüsslein, Ulrike Geiger von „Bellevue di Monaco“ und Daniel Balfanz, der für die Bayernkaserne arbeitet, beteiligt.

Einen Namen hat das neue Kollektiv noch keinen, aber eine klare Mission: Den Restraum in München nutzbar machen – ob in Hinterhöfen, auf Dachböden oder mit dem Aufstocken von Häusern. Als erstes Projekt wollen sie in einem Schrebergarten ein Häuschen als vollwertige Wohnmöglichkeit für zwei Personen bauen, die Gespräche mit verschiedenen Kleingartenanlagen laufen.

Ideen wie die Minihäuser an öffentlichen Plätzen erinnern an die„Shabbyshabby Apartments“, skurrile temporäre Wohneinheiten des Raumlabors Berlin, die Kammerspiele-Intendant Matthias Lilienthal als eine der ersten Amtshandlungen vergangenen Spätsommer in der Stadt aufstellen ließ. Der Grundgedanke ist bei Benedict ähnlich: Wer in München leben möchte, muss improvisieren und kreativ werden. „Nur eben ohne Shabby“, sagt der Jung-Architekt und grinst. Das sei ja nicht unbedingt was für die Münchner. Nach dem wilden Brainstorming wird an ausgeklügelten Designlösungen gefeilt – es soll einem ja nur aus Platzgründen an nichts fehlen. Denn Benedict ist nicht nur Träumer.

Ihr Modell der „Arrival City“, bei dem sein Büro für Club-Besitzer und Financier Wolfgang Nöth „Flüchtlingsunterkünfte der Zukunft“ mit getrennten Zimmern, Sport- und Kulturangeboten entwirft, stößt bereits vor dem Bau auf Anklang in der Architekturszene: Die Stadt München nominierte sie für den Architektur-Förderpreis, bei der Biennale in Venedig, die am 28. Mai eröffnet wurde, bekamen sie einen Platz im deutschen Pavillon. Ihre Ideen passen in den Zeitgeist, das diesjährige nationale Motto unter Kurator Oliver Elser lautet „Making Heimat. Germany, Arrival Country“.

Ankommen muss auch Benedicts neues Kollektiv erst einmal. Bis vor kurzem saß er mit seinem Architekturbüro noch in Berlin, doch München, die Stadt seiner Studienzeit, ließ den gebürtigen Hamburger nicht los: „Jeder spricht hier über das Platzproblem, der Lösungsbedarf ist groß.“
Der offizielle Startschuss für das neue Projekt ist vergangenen Donnerstag mit der Eröffnung der Pop-Up-Ausstellung „Restraum“ gefallen. Dauer: zwei Wochen. Ort: Das „Open Houseofhrvst“ am Maximiliansplatz 12, ein temporärer Mix aus Laden und Café vom Maxvorstädter Klamottengeschäft „Houseofhrvst“ und dem Studententreff „Lost Weekend“.

Benedicts Restraum-Ausstellung ist nun sozusagen die Zwischennutzung der Zwischennutzung, das Pop-Up-Event im Pop-Up-Store. Damit praktiziert er genau das Modell, das sein Kollektiv bewerben will: Raum teilen und kreativ nutzen. Am Beispiel bildende Kunst will die Gruppe zeigen, dass eigentlich überall Platz wäre, auch für Subkultur. „In München gibt es bisher keine starke Kultur bei den Kreativen, ungenutzten Raum ausfindig zu machen“, sagt Adrian Sölch, einer der ausstellenden Künstler. Viele würden sich stark an bestehende Institutionen hängen, anstatt eigene Initiativen zu starten.

Für Benedict Esche geht es darum, Gedanken anzustoßen – unabhängig von Regelwerken

Neben Adrian Sölch zeigen fünf weitere Münchner Künstler ihre Werke in der Ausstellung, die der Münchner Bequemlichkeit entgegentreten will. Zwischen Klamotten und Schuhen hingen die Kunstschaffenden ihre Werke auf, erst drei Tage vor der Eröffnung konnten sie mit den Installationen beginnen und auch dann nur in den Abendstunden daran arbeiten. Raum teilen heißt eben auch Kompromisse schließen – und Resträume finden. Bei dieser Aufgabe sind auch die Besucher gefragt: Auf den zwei Stockwerken sind Holzklötze verteilt, aus denen jeder bauen darf, was und wo er will. Die Ausstellung soll spielerisch dazu anregen, selbst Freiflächen zu entdecken – ob diese nun letztlich realistisch nutzbar sind oder nicht.

Benedict ist klar, dass er mit seinen Ideen oft auch an rechtliche Grenzen stößt. Häuser aufstocken und Innenhöfe bebauen sei zwar möglich und werde auch schon gemacht, sagt Thorsten Vogel vom Planungsreferat. Aber Gehsteige oder öffentliche Plätze nutzen, das sei so einfach nicht. „Da spielen viele Schritte mit rein – die Zustimmung der Stadt als Eigentümer, die Bewilligung einer Sondernutzung oder einer Baugenehmigung und das tatsächliche Baurecht.“ Auch das Vermischen von gewerblich und privat genutzter Fläche ist nach aktueller Rechtslage schwierig: Gewerbegebiete dürften grundsätzlich nicht als Wohnraum genutzt werden. Letztlich müsse aber immer der Einzelfall geprüft werden. Doch für Benedict geht es eben zuerst einmal darum, Gedanken anzustoßen – unabhängig von Regelwerken.

 Für manche mögen seine Lösungen auch unbequem klingen: wohnen auf sieben Quadratmetern? Das Büro nachts zweitnutzen und immer alles wegräumen müssen? Benedict versteht die Zweifel, aber man könne durch das Zusammentreffen mit den verschiedenen Mitnutzern ja auch viel gewinnen. Und: „Wenn ich dir sagen würde, du könntest direkt am Marienplatz wohnen – dann würdest du doch auch nicht zögern, oder?“

Von: Elisabeth Kagermeier

Foto: Yunus Hutterer

Grenzgängerin

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Sophia Maier reist auf eigene Faust als Fotografin in Krisengebiete. Nach ihrem Einsatz in Nepal, kurz nach dem Erdbeben von 2015, ist ihr aktuelles Projekt nun Idomeni. Nur: Dort ist Hilfe so nötig, dass die Kamera immer öfter im Zelt bleiben muss – eine Spurensuche zwischen zwei Herausforderungen.

Es ist noch dunkel in Idomeni, wenn Sophia Maier aufsteht, in ihre Trekkingschuhe schlüpft und beginnt, Wasser zu den Zelten zu bringen. Sie läuft durch den Schlamm, der sich an manchen Stellen mit Fäkalien vermischt. Toiletten und Duschen gibt es kaum in dem wilden Flüchtlingscamp, in dem seit Monaten mehr als 10 000 Menschen darauf warten, dass sich die Balkanroute vielleicht doch noch öffnet. Sophia, Mitte 20, stellt die Getränkeflaschen bewusst vor Sonnenaufgang ab, wenn die Flüchtlinge noch schlafen – es gibt zu wenig von allem und sie befürchtet, tagsüber würden Verteilungskämpfe ausbrechen. „Jeder hat dort Angst, dass er nichts mehr bekommt“, sagt sie.

Eigentlich ist die junge Münchnerin mit einem ganz anderen Ziel an die griechisch-mazedonische Grenze gekommen: Neben dem Helfen wollte sie vor allem fotografieren – sowohl künstlerische Porträts der Flüchtlinge als auch, um von dort als Journalistin zu berichten. Ihre Updates in Text, Bild und Video wurden bislang über ihren Facebook-Kanal teilweise bis zu 800 Mal geteilt und tausendfach geliked sowie bei „Stern TV“ ausgestrahlt.

Für den Plan, an die griechische Grenze zu gehen – zuerst nach Lesbos, dann nach Idomeni – hat sie in München ihre Wohnung im Lehel gekündigt. Auch ihre Ausbildung als Volontärin bei der Huffington Post hat sie aufgegeben. „Ich wusste nur, ich muss da hin und was tun“, sagt sie und versucht, ihre Bauchentscheidung zu erklären. Nur für ein paar Tage wollte sie nach Idomeni reisen, dann zurück auf die griechische Insel. Doch der Ort, dieses inoffizielle Flüchtlingslager mit den inhumanen Zuständen, ließ sie nicht los. „Es zieht mich immer wieder dort hin“, sagt sie.

Aktivistin? Fotografin? Journalistin? Für Sophia ist das kein Widerspruch

Ihr Antrieb: Wut und Empörung. Gefühle, die es manchmal schwierig machen, die vielen Rollen zu trennen, in denen sie vor Ort ist und zwischen denen sie wechselt. Ist sie Aktivistin? Fotografin? Journalistin? Für Sophia ist das kein Widerspruch. Ehrenamtliche Hilfe und Fotografieren hängen für sie untrennbar zusammen, immerhin hat sie ihre Leidenschaften auch gleichzeitig entdeckt. 2011 lebte sie im ärmlichen südafrikanischen Township Soweto und begeisterte sich erstmals dafür, zur Kamera zu greifen. Mode und andere schöne Welten abzulichten, interessiert sie nicht. Auch zu Hause in Deutschland fotografiert sie kaum.

Sophias erste Reise in ein tatsächliches Krisengebiet ergab sich 2015 eher durch Zufall: Den Flug nach Nepal hatte sie schon gebucht, als kurz vor Abreise dort die Erde bebte. Stärken von bis zu 7,8 wurden in Nepal gemessen, unzählige Häuser zerstört und Menschen getötet. Während ihre Freunde dachten, nun würde Sophia zu Hause bleiben, war es für sie erst recht ein Ansporn. „Für mich war klar: Dann fahre ich eben nicht, um im Himalaja zu wandern, sondern um zu helfen.“ Sie übernahm die Leitung einer kleinen Hilfsorganisation, reiste quer durchs Land, verteilte Hilfsgüter und unterstützte die Nepalesen beim Wiederaufbau. Die vielen gezeichneten Gesichter, denen sie dabei begegnete, hielt sie mit der Kamera fest.

„Faces of Nepal“, scherzte ein nepalesischer Freund, der gemeinsam mit Sophia auf den Einsätzen unterwegs war, wenn er einen interessanten Menschen sah und ihn ihr zeigte. Später sollte das zum Titel ihrer Ausstellung werden, die Anfang des Jahres im Berliner „Mein Haus am See“ zu sehen war. Gleich zur Eröffnung kamen mehrere hundert Menschen, die Erlöse spendete Sophia für Nepal. Dabei musste erst eine Freundin Sophia von der Idee der Ausstellung überzeugen, nachdem diese die Fotos gesehen hatte. Bei Idomeni ist die junge Münchnerin mittlerweile schon viel selbstbewusster. Dass ihre Bilder auch diesmal ausgestellt werden und die Erlöse gespendet werden sollen, steht für sie fest.

Das Militär hat sie gezwungen, Bilder zu löschen

Doch die Arbeit mit der Kamera hat auch ihre Grenzen, manchmal muss die Ausrüstung in der Tasche bleiben. Ein Beispiel ist für die Münchnerin die Flussüberquerung in Idomeni, die Mitte März weltweit Schlagzeilen machte. Ominöse Flugblätter hatten die Nachricht von einer angeblichen Lücke im Grenzzaun verbreitet, viele Flüchtlinge brachen auf – und die Münchnerin mit ihnen. „Erst stand ich am Fluss und hatte mein Handy in der Hand“, erzählt sie. „20 Sekunden lang habe ich gefilmt, dann dachte ich: Was machst du hier eigentlich? Geh in diesen Fluss und hilf! Weil eigentlich ist es doch egal, ob ich Journalist, Aktivist oder Fotograf bin – zuallererst bin ich Mensch.“ Also hob Sophia Kinder zum anderen Ufer, durchquerte schließlich selbst den Fluss und begleitete die Flüchtlinge durch ein Waldstück über die Grenze, wo das mazedonische Militär sie bereits „mit dem Finger am Abzug“ erwartete. Sophia sagt, sie habe diesen Exodus mit Fotos dokumentiert – inklusive Aufnahmen der Grenzsoldaten. Doch das Militär habe sie letztlich gezwungen, die Bilder von ihnen zu löschen. „Wenn da so ein Typ mit der Knarre neben dir steht, dann machst du das natürlich auch“, sagt sie.

Während die Flüchtlinge vom mazedonischen Militär zurück nach Griechenland gebracht wurden, machte Sophia sich nachts zu Fuß auf den Rückweg zum Camp, allein durch Wald und Fluss. Am liebsten hätte sie die Flüchtlinge noch weiter begleitet, die Dokumentation von möglichen Menschenrechtsverletzungen sieht sie als ihre Aufgabe.

Trotzdem glaubt sie, mit ihren künstlerischen Porträtfotos, die Einzelschicksale aus der Masse herausgreifen, mehr erreichen zu können: Die Betrachter würden sich mehr Zeit nehmen und mehr fühlen als beim Scrollen durch den Facebook-Newsfeed.

Dass sich ihr Fotoprojekt mit Flüchtlingskindern befassen soll, war für Sophia schnell klar. Dass so viele Kinder in diesem Camp ohne Bildungsmöglichkeit festsitzen, sei für sie mit das Schlimmste an der ganzen Situation. „Children of Idomeni“ hat sie die Serie deswegen genannt.

Im Sommer beginnt für sie ein neuer Abschnitt – von Juli an wird sie in Teilzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei einem Bundestagsabgeordneten arbeiten. Auch die Ausstellung wird sie dann zeigen. Vor der konkreten Planung zieht es Sophia wieder zurück an die Grenze von Griechenland und Mazedonien. Helfen geht für sie am Ende eben doch vor.

Text: Elisabeth Kagermeier

Fotos: Sophia Maier

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Von: Elisabeth Kagermeier

Fotos: Sophia Maier

Ende gut, alles gut?

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Wenn das Bahnwärter Thiel nach diesem Abschlussfest schließt, werden seine Besucher weiterziehen. Vielleicht dorthin, wohin Daniel Hahn geht, vielleicht an andere Orte in München, vielleicht auch außerhalb der Stadt. Denn Subkultur braucht Platz – sonst wandert sie irgendwann ab. Ein letzter Besuch im beliebtesten Club der vergangenen Monate.

Das alte Wählscheiben-Telefon neben den Toiletten im
Bahnwärter Thiel klingelt schrill. Ein blondes Mädchen mit Turnbeutel
auf dem Rücken ist nur kurz verwundert, dann hebt sie
ab. Einige dieser Telefone befinden sich an anderen Orten auf dem
Clubgelände, weitere in der “Wilden Renate” und im “Sisyphos” in Berlin.
Im vergangenen halben Jahr wurden so unzählige sich bis dahin fremde Gäste
des Kulturhauses in lustige und oft auch betrunkene Gespräche voller
Situationskomik verwickelt. Doch wenn man an diesem Sonntag zum Hörer
greift, unterhält sich ein Großteil der Gesprächspartner
früher oder später über das, weswegen sie alle da sind: Sie sprechen über den letzten Tag
im Bahnwärter Thiel, über das große Abschiedsfest und wie schade das doch
alles ist.

Der temporäre Club, der mit Ausstellungen, Theateraufführungen,
Lesungen, Flohmärkten und seinen „Schienenbus-Konzerten“ viel mehr als
nur der neue gehypte Elektroschuppen war, muss weichen. Das
Viehhof-Gelände ist wieder für das jährliche Freiluftkino mit Biergarten
reserviert, langfristig soll das Münchner Volkstheater auf einer der
letzten Freiflächen Münchens eine neue Heimat finden.
Dass der Bahnwärter Thiel nur kurze Zeit bleiben darf, ist seinem
Gründer Daniel Hahn, 25,  von Beginn an klar gewesen. Auch wenn er das ganze
Abschiedswochenende über schon “ein ganz tolles Gefühl” hat und das
gemeinsame Feiern der Kreativszene, die er hier zusammengebracht hat,
genießt: Der Aufbruch ist allgegenwärtig. „Morgen früh um acht beginnt der Abbau“, sagt Daniel Hahn mit vor Schlaflosigkeit rot geränderten Augen. Dann muss er seine Zirkuszelte vom Wannda-Kulturfestival, den charakteristischen alten Bahnwaggon und den Rest seines Kuriositätenkabinetts wieder einpacken.
 

Mit dem Kulturhaus hat er sich zumindest für ein paar Monate einen Kindheitstraum erfüllt. Die dazu passende Verspieltheit zeigt sich auch beim ausverkauften „Bahnwärter-Closing-Open-Air“. Während im Club die Gäste ein letztes Mal in den Berggondeln
schaukeln und die Aussicht auf Kronleuchter neben Schiffschaukeln an der
Decke genießen, sitzen die Besucher außen gemütlich zwischen
Zirkuszelten, Grafitti-Künstlern und einem alten gelben Boot.
Bei dieser Detailverliebtheit und der Mühe, die sich das gesamte Team gemacht hat, könnte man fast meinen,
das Bahnwärter Thiel wäre gekommen, um zu bleiben. Das wünschen sich
sicher auch viele der Besucher des Open Airs, die sich auch ohne
Sonnenschein am Sonntag auf dem Gelände tummeln. Melancholie hängt in den ersten Stunden des Freiluftfests in der Luft. Die Menge feiert und lacht, aber immer wieder ertappen sich Besucher, wie sie den Blick wehmütig über das Gelände schweifen lassen. „Ohne das Bahnwärter Thiel fehlt in München was“, sagt ein junger Sprayer. Es gebe zu wenig, das eben so sei „wie in Berlin“, sagt etwa Stefan, 23.

Ein Angebot, wie man es sonst nur in Berlin findet? Das wollte Daniel Hahn eigentlich gar nicht schaffen. Aber „durch die Fläche hatten wir das Gefühl der unbegrenzten Möglichkeiten“. Das Gefühl will er sich zurückholen, an einem neuen Ort in München weitermachen. Die Stadt habe zwar jetzt gemerkt, dass in der jungen Szene ein Bedürfnis da ist, es fehle aber trotzdem noch an Freiflächen, die kreativ genutzt werden können. Immerhin für seinen roten Bahnwaggon hat er schon einen Platz: Auf einer Wiese in der Innenstadt wird er ihn als Café betreiben. Irgendwie geht es also weiter.

Wie bei Daniel selbst überwiegt am Ende auch bei allen Gästen der Optimismus und die Feierlust, die sie auch bisher oft ins Bahnwärter Thiel getrieben hat. Auf dem Stempel, der einem am Eingang auf das Handgelenk gedrückt wird, steht „Ende gut, alles gut“ – und vielleicht stimmt es ja doch, zumindest für heute. 

Text: Elisabeth Kagermeier

Foto: Alessandra Schellnegger

Nackte für die Karriere

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Mit gerade einmal 21 Jahren schreibt Lisa Reich bereits Drehbücher für das ARD-Vorabendprogramm. Ihr großer Traum ist es jedoch, irgendwann einmal die Kinosäle dieser Welt zu füllen, denn die junge Münchnerin ist bekennende Mainstream-Liebhaberin.

Ein Jogger rennt durch die Straßen von Wolfratshausen. Er ist splitternackt, zwei Polizisten mittleren Alters sind ihm keuchend auf den Fersen. Einer versucht eine Abkürzung über den Friedhof zu nehmen, um dem Sportler den Weg abzuschneiden, als er plötzlich vom Erdboden verschluckt wird. Gefallen ist er in ein offenes Grab – und natürlich direkt auf eine verschüttete Leiche. Denn als sein Kollege dem Gestürzten heraushelfen will, bemerken die beiden eine leblose Hand, die aus der Erde ragt.

Humorvoll wie immer beginnt auch der Auftakt dieses Falls für „Hubert & Staller“ aus der gleichnamigen Krimiserie, die aktuell durchschnittlich 2,5 Millionen Zuschauer im Vorabendprogramm der ARD verfolgen. In den Hauptrollen: Christian Tramitz und Helmfried von Lüttichau. Doch die Folge mit dem Titel „Wer anderen eine Grube gräbt“, die am 9. März ausgestrahlt wird, ist außergewöhnlich: Geschrieben hat sie Lisa Reich, eine 21-jährige Drehbuchautorin – unterstützt hat sie Daniel Rohm, mit 27 ebenfalls noch sehr jung.

Stolz stehen sie am Rand des Sets und beobachten, wie ihr Drehbuch zum Leben erwacht. Viele Autoren warten ihr Leben lang auf so einen Erfolg. „Das ist ein tolles Gefühl zu sehen, wie ein professionelles Fernsehteam das verfilmt, was man selbst geschrieben hat“, sagt Lisa. „Da muss man sich immer wieder dran erinnern: Das ist wirklich unser Drehbuch.“
 Nach vielen Szenen kommen die Darsteller zu den beiden herübergelaufen, fragen nach ihrer Meinung. Dass Lisa noch so jung ist, wundert hier keinen mehr. Das Skript hat ein Bewerbungsverfahren mit vielen Stufen hinter sich. Wer das meistert, bekommt sozusagen eine qualitativen Stempel aufgedrückt. „Ich war total froh, dass es egal war, wie alt ich bin und niemand pauschal gesagt hat: ‚Das nehmen wir nicht’“, erzählt sie. Angst, nicht ernst genommen zu werden, hatte sie trotzdem.

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Lisa ahnt zwar, dass es eine Besonderheit ist, ein Drehbuch für ein Millionenpublikum zu schreiben, noch bevor sie überhaupt studiert hat – doch sie bleibt bescheiden. Immer wieder betont die 21-Jährige, selbst noch in den Kinderschuhen zu stecken und in die Filmwelt erst noch „reinwachsen“ zu müssen.

Andere finden hier klarere Worte: „Dieser Erfolg ist in so jungen Jahren sehr ungewöhnlich“, urteilt Andres Gruber, hauptamtlicher Professor der Abteilung Kino- und Fernsehfilm an der Hochschule für Film und Fernsehen in München. Erfahrungsgemäß würden die meisten erst mit ihrer Abschlussarbeit an der HFF ihre ersten Erfolge feiern. Um so ein Drehbuch zu schreiben, brauche man schließlich vor allem Lebenserfahrung.

Seit Oktober 2015 studiert Lisa Reich unter anderem bei Gruber Regie. Beworben hat sie sich mit ihrem ersten eigenen Kurzfilm überhaupt: „Win Win“ – ein Kammerspiel über Machtspiele und Geldgier.
 Die ersten Ahnung, dass sie zum Film will, hatte Lisa vor vier Jahren in Venedig. Damals ging sie noch ins Gymnasium in Freising. Auf einer Studienfahrt sollte die Klasse zur Kamera greifen. Kulisse und Kostüm: eine kitschige Dachterrasse, venezianische Masken und Abendkleider, in denen eine Verfolgungsjagd durch die engen Gassen gedreht wurde. „Viel zu übertrieben, typisch erster Film“, sagt Lisa dazu heute und lacht. Trotzdem: Die Schülerin ist froh, ihr „eigenes Ding“ gefunden zu haben. Ihre große Schwester Anne schließt bald ihr Gesangsstudium am Mozarteum in Salzburg ab. Lisa wurde oft gefragt: Na, was ist mit dir? Singst du auch? Mit dem Filmen hatte sie nun ein Ziel, dass sie ebenso eisern verfolgen wollte wie ihre Schwester das Singen.

Schon parallel zur Oberstufe machte sie eine Ausbildung zur Kamerafrau und Cutterin an einer privaten Akademie in München und gründete ihre eigene kleine Produktionsfirma für Imagefilme und Kinowerbungen. Wenn sie sich an den freien Wochenenden Kameras auslieh, sollte es dann aber doch fiktiv und träumerisch statt gewerblich sein. „Man muss eben unterscheiden zwischen Auftragsarbeiten und dem, woran das Herz hängt“, sagt Lisa. Zum Beruf gehört für sie aber beides: „Nur vom Kino leben können ja die wenigsten.“
 Nach dem Abi fing sie bei der kleinen Produktionsfirma „Rovolution Film“ als Praktikantin an und arbeitete sich nach oben – bis sie hier auch die Chance zu
dem Drehbuch bekam, mit dem sie es nun ins Vorabendprogramm schafft. In Lisa schlummere viel kreatives Potenzial, sagt Daniel Rohm, Mitgründer der Firma und Co-Autor. „Da hab ich sie gefragt, ob sie mit mir ein Buch schreiben will.“

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Doch auch das Schreiben hat manchmal seine Grenzen: „Man versucht so viel Situationskomik wie möglich dort hineinzupacken, aber viele wirklich lustige Momente entstehen aus dem spontanen Humor am Set– das hätte man gar nicht schreiben können.“

In nächster Zeit heißt es aber erst mal weiter Textarbeit statt am Set abzuhängen. Der Erfolg mit „Huber & Staller“ hat ihr Selbstbewusstsein für kommende Projekte gegeben: Weitere Drehbücher sind in Planung, auch im Langfilmbereich. Für die junge Autorin ist das aber alles nur Mittel zum Zweck, Lisa will später als Regisseurin arbeiten. Und dann? „Ich bin bekennende Mainstream-Liebhaberin“, gibt Lisa zu. Christopher Nolan-Filme oder die „Tribute von Panem“ sind Werke, die ihr Herz höher schlagen lassen. „In der Branche wird man dafür oft belächelt, aber ich hoffe, dass ich auch irgendwann solche Kinofilme machen kann, in die die Leute in Massen rein rennen.“ 

Fotos: Jonas Egert (Portrait), ARD/TMG/Christian Hirschhäuser (Fotos aus dem Film)

Von: Elisabeth Kagermeier

Und jetzt ein geiles Leben

Philipp Klemz, Christian Raab, Jonas Hofer und Philipp Albinger sind „Heroes und Ganoven“ – junge Musikproduzenten,
die Songs für andere Künstler schreiben. Für die Band „Glasperlenspiel“ haben sie nun einen Top-Ten-Hit gelandet

Es ist Mitternacht. Der Landtag in München ist in Dunkelheit gehüllt. Eine Tram fährt vorbei, leise quietscht sie in der Kurve. Währenddessen singt Philipp Klemz auf dem Vorplatz des Gebäudes, begleitet an einem der „Play Me I’m Yours“-Klaviere, die im Herbst wieder einmal an verschiedenen Orten in München aufgestellt wurden: „Ich wünsch’ dir noch ’n geiles Leben / mit knallharten Champagnerfeten / Vergiss den Fame, all die Villen und die Sonnenbrillen …“ Man könnte diese Songzeile kennen. Aus dem Radio. „Geiles Leben“ von der Band Glasperlenspiel, ziemlich erfolgreich, lange in den Charts.

Philipp Klemz’ melancholische Interpretation hat aber sonst nur wenig mit der Party-Version aus den Top-Ten zu tun. Dabei ist Philipp, 25, gemeinsam mit einigen Freunden, eigentlich der Autor des Liedes. Er gehört zu den „Heroes und Ganoven“, einer jungen Songwriter- und Produzentengruppe aus München, bestehend aus Philipp, Christian Raab, 30, Jonas Hofer, 24, und Philipp Albinger, 20. „Geiles Leben“ ist ihr erster großer Erfolg. Veröffentlicht Ende August, hält sich der Ohrwurm nach wie vor in den Top 10 der Charts, auf Youtube wurde er mehr als 16 Millionen Mal aufgerufen. Eigentlich nur gedacht als Party-Track über jemanden, der das Maß der Dinge verliert, verselbstständigte sich das Lied als Hymne gegen Liebeskummer.
Entstanden ist der Hit während eines dreitägigen Kompositionstreffens in der Küche „am Laptop neben dem Klavier“ – das ist die Realität des heutigen Musikgeschäfts.

Während Chris und Philipp ruhig ihre Kaffees schlürfen, wirken sie weder wie Helden noch wie Ganoven. Den Namen für ihr Team finden sie trotzdem passend. „Nur Ganoven wäre zu eindeutig gewesen“, scherzt Chris. Helden sind für sie „nette Jungs“, die sie selbst meistens auch sind, aber „die verändern auch was und sind Teil von was Großem“. Geträumt wird also groß, vielleicht sogar vom „geilen Leben“, von dem sie schreiben.
Kennengelernt haben sich Chris und Philipp, die Urgesteine der „Ganoven“, vor neun Jahren. Ihr erstes Album floppte. 500 CDs ließen sie pressen, gerade einmal 110 Stück verkauften sich.
Musikalisch verstanden sich die beiden jungen Männer auf Anhieb – persönlich könnten sie nicht unterschiedlicher sein, finden sie selbst. „Wir sind wie Yin und Yang – er war der Straßenjunge und ich der künstlerische Waldorfschüler“, erklärt Philipp.

Etwas gemeinsam haben sie dabei trotzdem: Keiner von beiden hat Musik oder überhaupt etwas studiert, auch keine Ausbildung im Musikgeschäft gemacht. „Das Hits-Schreiben bringt man sich selber bei“, stellt Chris fest. Sein Leben verlief bisher in vielen Schlangenlinien – inklusive Schulwechseln und Internat.
In der neunten Klasse brach er die Realschule ab, er hatte „einfach keinen Bock“ mehr und wollte nur noch Musik machen. Mit Nebenjobs als Florist, Elektroinstallateur, Feinmechaniker und Tontechniker schlug er sich danach durch – alles ohne Ausbildung.
Durch einen Zufall kam er zu musikalischen Auftragsarbeiten in der Werbebranche, gründete eine kleine Firma, stellte vor sechs Jahren Philipp als Songwriter an. Gemeinsam merkten sie dann, dass die Werbung „nicht ihre Welt“ sei und sie ihr Glück mit Popsongs versuchen wollten. Und schon der erste Versuch vor vier Jahren war ein Treffer. Der Interpret: Philipp selbst. Sein Song „Wo bist du hin“ lief bei Bayern 3 und anderen Radiosendern deutschlandweit, sie kamen in Kontakt mit Verlegern, Managern, Plattenfirmen, die ihnen Angebote machten. Doch auf einmal war es Philipp eine Nummer zu groß. „Das war eine aufregende Zeit für mich – bis ich mich entschieden habe, dass das Rockige nicht meine Musikrichtung ist und dass alles zu schnell geht“, erzählt er. „Ich dachte, ich bin noch nicht bereit dafür. Wenn ich auf die Bühne gehe, muss es hundertprozentig stimmen. Weil ich glaube, man hat nur eine Chance – und die muss man nutzen.“ Deswegen beschloss er, dass das noch nicht seine eine Chance war – die wurde einfach auf später verschoben.

Es war nicht das erste Mal, dass er Chancen ausschlägt und sich gern den eigenen, schweren Weg bahnt. Nach der Schule studierte er an der Münchner Musikhochschule klassischen Gesang. Nach kurzer Zeit brach er ab und sang stattdessen lieber wieder nur privat, neben der Ausbildung als Veranstaltungskaufmann – bis er bei Chris angestellt wurde.

Mittlerweile ist das Team aufgeteilt, die meisten sind nach Berlin gezogen, nur Philipp kann sich von seiner Heimatstadt nicht trennen. Er fährt weiterhin wochenweise in die Hauptstadt, kommt aber immer zu seinem „Ruhepol“, wie er München nennt, zurück. Der aufgezwungene Bruch der „Ganoven“ mit München kam gleichzeitig mit dem großen Durchbruch mit „Geiles Leben“ – ein Titel, zu dem sie ein zwiespältiges Verhältnis haben: „Der Text ist nicht hochphilosophisch, aber er verkauft sich gut und spricht eine breite Masse an“, erklärt Philipp. Als der Song in den Charts nach oben klettert, freuen sie sich dann aber doch wie kleine Kinder. Philipp gibt sogar zu: „Wenn ich ehrlich bin, schaue ich alle zwei Minuten nach, wie viel Klicks der Song hat und ob er in den Charts eine Nummer höher ist.“

Volle Distanz sieht anders aus; der erste große Hit ist eben etwas Besonderes. Er öffnet den „Heroes und Ganoven“ nun weitere Türen, auch in den USA – Interpreten dürfen aber noch nicht verraten werden. Bisher haben sie unter anderem schon Songs mit Cassandra Steen, Christina Stürmer, Psaiko Dino und den Söhnen Mannheims produziert. Auch für Schlagersänger wie Bernhard Brink sind sie sich nicht zu schade.
Eigentlich ist es in der Szene verpönt, alle Musikrichtungen zu bedienen, aber das stört die „Ganoven“ nicht. Jeder der vier hat sich auf einen Bereich spezialisiert. Philipp Albinger, der Jüngste, hat ein Faible für elektronische Musik. Jonas ist der Indie-Rocker der Gruppe, spielt selbst Gitarre und schreibe viele englischsprachige Songs. Philipp Klemz und Chris decken kommerziellen Pop ab.

Und selbst mal im Rampenlicht stehen? Für Chris hat die Autorenlaufbahn ihre Reize: „Du hast deine Ruhe, schreibst deine Sachen und kannst alles machen“, erklärt er. Als Künstler würde man mehr einem Trend oder Image unterliegen. Man sei schnell gebrandmarkt. „Ich werde aber zum Beispiel nicht ewig der Typ sein, der ‚Geiles Leben‘ geschrieben hat.“
Trotzdem reizt eine eigene Musikerkarriere doch. Besonders Philipp Klemz hat seinen Solo-Erfolg noch nicht ganz abgeschrieben. Er hat es nicht bereut, seine Chance nicht genutzt zu haben, hat die Zeit gebraucht, um die Fühler ins Musikbusiness auszustrecken. „Aber gerade in den vergangenen Wochen bin ich wieder ins Nachdenken gekommen – ich hab wieder Lust!“ Vielleicht singt Philipp also bald wieder seine eigenen Lieder mit Klavierbegleitung – nur diesmal nicht vor dem Landtag, sondern auf einer Bühne. Nach dem „geilen Leben“ mit dicken Villen und Sonnenbrillen greifen, wäre also vielleicht doch ganz schön.

Elisabeth Kargermeier
Foto: Conny Mirbach

Bilder in den Kopf malen

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München – Carmen Wegge, 26, ist Rampensau und Schreiberling, seit zehn Jahren macht sie Poetry Slam. Entdeckt hat sie ihre Leidenschaft in der Slam-Kaderschmiede der Münchner Schauburg, die vor kurzem ebenfalls zehn Jahre alt wurde. In München organisiert sie den „Bless-The-Mic“-Slam in der Glockenbachwerkstatt und die Slam-Workshops in der Schauburg, die als größte Nachwuchsförderung von Poetry Slammern deutschlandweit gilt. Wenn sie nicht gerade auf der Bühne steht, studiert Carmen Jura.

SZ: Trockene Gesetzesbücher wälzen und auf der Bühne das Publikum mitreißen – wie passt das zusammen?
Carmen Wegge: Jura war vor allem so ein gutes Studium für mich, weil es keine Anwesenheitspflicht oder Anforderung an den Schnitt vor dem Staatsexamen gibt. Deswegen konnte ich viel Slam machen. Ich hatte bestimmt zweieinhalb Jahre lang 20 Auftritte im Monat. Dafür war das Jurastudium ganz gut.

Was ist der Reiz beim Poetry Slam?
Poetry Slam ist für mich gelebte Poesie. Es ist eine Erzählkultur. Man kommt auf die Bühne und erzählt den Menschen eine Geschichte, bringt ihnen Poesie zu Gehör. Das finde ich unglaublich schön. Die Menschen schlagen kein Buch auf, sondern kommen, sehen und hören den Poeten und merken dabei vielleicht viel eher, was er da-mit meint. Und Slammen ist natürlich auch Alltagspoesie. Poetry Slam ist in seinen Texten sehr schnelllebig, quasi am Puls der Zeit.

Zehn Jahre Poetry Slam – wie haben sich deine Texte verändert?
Mein erster Text als Jugendliche ging über einen Jungen, der denkt, er ist in einem Computerspiel gefangen und muss seine Eltern töten. Ja, da war ich noch sehr morbide. Damals habe ich mich viel mit jugendlichen Problemen beschäftigt: von Germany’s Next Topmodel verarschen bis zur jugendlich nachdenklichen Sinnsuche im Leben. Inzwischen schreibe ich sehr viel politisch. Über Frauenrechte, Diskriminierung, Sicherheit und Datenschutz. Wenn Poetry Slam eine Bühne bietet, dann muss man sich auch trauen, kritische Dinge anzusprechen. Man erreicht so viele Menschen damit, da lohnt es sich auch, auf der Bühne politisch zu werden.

Wer politisch wird, will ja auch immer etwas bewegen.
Es gibt viele, die sagen: Wenn ich mit meinen Texten nur bei einem was bewege, dann habe ich schon viel getan. Ich denke: Die meisten, die zu Slams kommen, haben schon ihre politische Meinung. Ich glaube, es geht eher darum, dass ich es mal gesagt haben will. Es ist wichtig, dass jemand auf der Bühne steht und sagt: Es läuft was falsch. Dieses und jenes muss sich ändern, lass uns das gemeinsam angehen.

Vor allem in der Förderung der U 20-Generation leistet ja die Schauburg einen wichtigen Teil. Wenn du zu den Anfängen zurückblickst: Was hat sich geändert?
Eigentlich ist alles wie früher! Es sind nur neue junge Menschen, die auf derselben Bühne stehen. Es gibt immer noch drei Workshops: Storytelling für die Prosa-Geschichtenerzähler, Lyrik- und Performancepoesie sowie Rap. Es ist auch immer noch ein spannender Mix durch diese drei verschiedenen Bereiche.

Unterscheiden sich die Teilnehmer?
Die Storyteller sind schon immer die Ruhigeren. Und dann gab es Creme Fresh, Keno und Fatoni im Rap-Workshop, den damals noch Nina Sonnenberg alias Fiva geleitet hat – die Rapper waren schon damals die Coolen. Es sind viele Talente aus der Schauburg hervorgegangen – zum Beispiel David Friedrich oder Moritz Kienemann, der jetzt am Volkstheater ist, oder die U 20-Meister Johannes Berger und Fee. Es ist schon eine kleine Kaderschmiede des deutschen Poetry Slams.

Was kann man als junger Poetry Slammer für sich selbst mitnehmen?
Ein Slam ist einfach eine Wundertüte. Man weiß nie, was an dem Abend passiert. Man weiß nie, welche Texte gelesen werden. Es ist eine ganz eigene Dynamik, auch unter den Zuschauern. Man muss auch gar nicht immer selbst auftreten. Aber einfach Teil einer Künstlerszene zu sein und kreative Künstlerluft zu schnuppern – das würde ich jedem empfehlen.

Worauf kommt es an auf der Bühne?
Ganz klar: Auf eine gute Stimme. Man muss den Menschen ins Gesicht schauen. Und man muss sich wohl fühlen. Wenn ich auf der Bühne bin, fühle ich mich, als würde ich da hingehören. Da ist die Welt in Ordnung.

Was kann man fürs Poetry Slammen lernen? Und was muss man tatsächlich einfach mitbringen?
Man braucht schon ein Grundtalent, aber eigentlich nur in dem Sinne, dass man sich etwas traut. Viele denken, sie können nicht schreiben, zum Beispiel weil sie in der Schule nie gut in Deutsch waren. Bei Workshops an Schulen fällt aber auf: Oft sind die mit der Fünf in Deutsch diejenigen, die bessere Texte schreiben als die mit der Eins in Deutsch.

Kann man das lernen?
Lernen kann man vor allem Poesie-Performance, also wie präsentiere ich mich auf einer Bühne? Das ist beim Slam ganz wichtig, weil ein Text kann noch so gut sein – wenn du ihn schlecht vorträgst, schweifen die Leute nach drei Sätzen ab und merken erst gar nicht, wie gut du bist. Auch bildhafte Sprache ist mit Schreibübungen lernbar. Das Wichtigste ist ja, dass man dem Publikum Bilder in den Kopf malt.

Interview: Elisabeth Kargermeier
Foto: Sonja Marzoner

Frische Apps aus der Region

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Junge Münchner programmieren Smartphone-Applikationen für Chinesischbegeisterte, Allergiker, Reiselustige, Liebessuchende oder Rollstuhlfahrer – ein Überblick

Das Handy, der tägliche Begleiter. Dank einer Unmenge an Apps kann jede U-Bahnfahrt lehrreich, jeder Einkauf stressfrei sein und sogar die Partnersuche spielerisch ablaufen. Münchner Studenten beteiligen sich am anhaltenden App-Trend und bereichern den Markt und das Internet mit ihren Ideen.

Dating-App Mazel: Die Idee hinter mazel ist schnell erklärt: Die kostenlose Dating-App ist das „Anti-Tinder“, sagt Steffi Feldmann, 26. Gemeinsam mit drei langjährigen Freunden aus Mühldorf hat sie eine virtuelle Plattform gegründet, auf der man anfangs nicht einmal ein Foto seines potenziellen Partners sieht. Stattdessen soll das Interesse über das Verhalten geweckt werden – im Spiel. Insgesamt vier Spiele gilt es mit dem Partner zu lösen. Das soll so lange dauern wie eine U-Bahnfahrt. Informationen über den anderen muss man sich häppchenweise erarbeiten: Nach Quizduell und Wortspiel gibt es zur Belohnung ein paar Infos über den Partner – etwa den Beruf oder das genaue Alter. Und beim Memory lässt sich seine Augenfarbe aufdecken.

Profilbilder tauscht man erst am Ende aus. Für das Team ist es das vierte Start-up. Erst einmal hoffen sie auf weibliche User. „Wir wollten ein Dating-Produkt machen, das nicht nur Kerle anspricht“, sagt Steffi. Bei mazel tritt man nicht mit vielen, sondern anfangs immer nur mit einem Partner in Kontakt. „Beim Kennenlernen soll man sich auf diesen Menschen konzentrieren“, findet Steffi. Ob das klappt? Wer weiß. Der Name mazel kommt von „mazel tov“, auf Jüdisch „viel Glück“, einem Ausspruch, der oft auf Hochzeiten fällt (www.mazelapp.com).  

Elsbeth Föger


Falgy, für Allergiker:
Den Einkauf für Allergiker erleichtern, dieses Ziel hatte sich die Ingenieurswissenschaft-Studentin Marina Rotmüller,26, mit fünf Kommilitonen gesetzt, als sie im Rahmen eines Unikurses eine Geschäftsidee entwickeln sollten. Heraus kam Falgy, kurz für Food Allergy Support, eine App, die den Einkauf für Allergiker vereinfachen soll. Die Idee ist denkbar simpel: Man scannt den Barcode des Produkts und die App zeigt direkt an, ob man das Produkt mit seinen Allergien verträgt.

An Falgy sind schon
einige Allergiker-Verbände
interessiert

Die Daten holt sich Falgy dabei aus der Datenbank der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA. Zudem liefert die App schon daheim Vorschläge, welche Lebensmittel man mit diversen Allergien essen kann. So entfällt die mühsame Suche im Supermarkt. Falgy ist noch nicht auf dem Markt, ein funktionierender Prototyp soll bald bereit sein. Das größte Hindernis ist noch die Finanzierung. Denn die Nutzung der Datenbank setzt eine Gebühr voraus. Die Studenten sind aber bereits in Verhandlungen mit verschiedenen Supermärkten. Auch diverse Allergikerverbände zeigen sich interessiert. Und für die Übergangszeit wollen sie die App notfalls über Kickstarter finanzieren – oder aus der eigenen Tasche.

Philipp Kreiter

Let’s Yalla, die Spontanreise-App: Vier junge Münchner bieten mit ihrer App Flüge an, die am Abend vorher ab 20 Uhr freigeschaltet werden. Am nächsten Vormittag geht es los. Hin- und Rückflug in Europa: unter den üblichen Preisen, abhängig von Tag und Ziel. Gegründet wurde Let’s Yalla im Mai, gerade läuft die erste Testrunde. Registrieren können sich Reiselustige auf www.letsyalla.de. Im Oktober soll die App, deren Vorbild aus Israel kommt, auch in Deutschland starten. Zunächst mit Abflügen in Hamburg und Berlin, dann rasch auch von München aus. Schließlich wollen Ori Hagai, Ingo Ehrle, Christian Heydecker und Katharina Seehuber auch selbst einmal ganz spontan aus der Wahlheimat losreisen können.  

Friederike Krüger

Zizzle, zum Chinesisch lernen: Fünf junge Männer Mitte Zwanzig haben ein Startup gegründet, das mit einer App das Chinesischlernen erleichtern soll. Nur einer davon ist selbst Chinese, der 23-jährige Kevin Li. Der Jurastudent findet das aber gar nicht seltsam: „Als Muttersprachler kann man gar nicht so genau beurteilen, welche Probleme man als Ausländer damit hat, die chinesischen Zeichen zu lernen“, erklärt er. Oft könnten Chinesen sich nicht vorstellen, dass die Methoden, die sie in der Schule verwendet haben, für Ausländer nicht effektiv seien.
Begeistert von der chinesischen Sprache und Kultur sind die vier weiteren deutschen Gründer Hannes Frömel, Tim Oelrich, Hagen Reiling und Projektleiter Lukas Lohove aber auf jeden Fall.
Im Mittelpunkt von Zizzle stehen die Schriftzeichen, die beim Lernen die größte Herausforderung darstellen. Jedes Zeichen steht für eine bestimmte Silbe, insgesamt gibt es mehrere tausend. „Man muss sich, wenn man ein chinesisches Schriftzeichen lernen will, die Form, die Bedeutung, die Aussprache und den Ton des Zeichens merken“, erklärt Kevin. „Das fällt den meisten sehr schwer!“ Die neue App versucht mit Bildergeschichten diese verschiedenen Elemente dauerhaft für den Lernenden zu verknüpfen. In zwei Wochen soll die Betaversion von Zizzle als kostenlose App mit Abonnement-Option verfügbar sein, erste Videotutorials gibt es bereits jetzt auf der Webseite. (http://www.zizzle-app.com/)

Elisabeth Kagermeier

Hoomn, eine Art WhatsApp-Gruppe für die ganze Stadt: „hoomn“ nennen die vier Gründer um Manuel Schulze, 27, ihr Startup. Die App soll es einfach machen, Menschen im gleichen Ort eine Frage zu stellen. „Die spannendsten lokalen Tipps kommen oft von Leuten, die man einfach auf der Straße anspricht anstatt von irgendwelchen Reisetipps-Webseiten“, glaubt Manuel, VWL-Student. Auf die öffentlichen Fragen antwortet man normalerweise mit einer privaten Nachricht wie auf WhatsApp – eine Kommentarfunktion gibt es aber auch. Die Themen reichen von Job- und Verkaufsangeboten über „Wer geht mit aufs Oktoberfest?“ bis zu Restaurant-, Sport- und Reisetipps. Für all diese Themen gibt es zwar bereits Plattformen; seine Stärke sieht das Startup aber darin, dass es sich auf die unmittelbare Umgebung konzentriert.

„Mit der App kann der Rollstuhl
mit Kopfbewegungen und
Sprachsteuerung bedient werden.“

Außerdem werden keine personenbezogenen Daten erhoben. „Hoomn funktioniert vollständig anonym“, sagt Manuel. Das bedeutet aber auch mehr Probleme mit sogenannten „Trollen“, die fragwürdige Inhalte einstellen – die Hemmschwelle ist im Mantel der Anonymität gering. Diese Nutzer können für die App gesperrt werden. Seit dem Start im Juli haben etwa 30 000 Menschen die App für Android oder iOS kostenlos heruntergeladen. Angefangen hat hoomn in München und Köln, mittlerweile haben sich auch in Berlin, Stuttgart, Aachen und Frankfurt Communitys gebildet. (http://www.hoomn.com/)  

Elisabeth Kagermeier

Glasschair für die Google-Brille: Die Studenten Dominik Schniertshauer, 25, Shady Botros, 25, und Claudiu Leverenz, 24, haben eine App für die Google Glass entwickelt, die körperlich eingeschränkten Menschen das Lenken von elektrischen Rollstühlen erleichtern soll. Die Steuerung soll hauptsächlich durch Kopfbewegungen funktionieren. In Garching sitzt Shady in dem Testmodell. Ein kurzes Nicken mit dem Kopf und der Stuhl fährt los. Shady neigt seinen Kopf nach rechts und der elektrische Rollstuhl fährt nach rechts. „Manche Rollstuhlfahrer können ihre Hände nicht bewegen. Mit unserer App kann der Rollstuhl mit Kopfbewegungen und Sprachsteuerung bedient werden“, sagt Shady. Dabei werden die Steuerkommandos per Bluetooth an einen Adapter übertragen, der an das Steuerport des Rollstuhls angeschlossen werden kann. Angefangen hat „Glasschair“ als Uniprojekt. Doch das Potenzial und die gewonnene Unabhängigkeit für Rollstuhlfahrer, die das Projekt besitzen, sollen nicht mit dem Semester enden. Mittlerweile haben die drei jungen Männer für ihre App ein eigenes Start-Up gegründet. Außerdem arbeiten sie an einer Alternative zu der horrend teuren Google Glass. Die App soll auch an andere Smart Glasses angepasst werden und mit allen gängigen Elektro-Rollstühlen kompatibel sein. Am 29. Und 30. September vertreten Shady und Dominik ihre App auf der „Weareable Technologies & Digital Health“ Messe in Bonn (www.glasschair.de).  

Stefanie Witterauf

Illustration: Daniela Rudolf

Zu Fuß ins Glück

Sandro Langholz, 27, ist seit einem Jahr unterwegs, um eine neue Form des Lebens zu finden. Genügsam. Sozial. Umweltbewusst. Mit dem Begriff Konsumkritik tut er sich trotzdem schwer.

Sandro Langholz, 27, ist auf der Suche. Auf der Suche nach einer neuen Lebensform und einem neuen Lebensort. Seine Kriterien? Nachhaltig und glücklich will er leben, „Sustain Happylity“ erreichen, wie es Sandro nennt.

Um dieses Glück zu finden, ist der gebürtige Freisinger vor etwas mehr als einem Jahr zu einer Reise durch Bayern und Österreich zu Selbstversorgerprojekten und Ökodörfern aufgebrochen: zu Fuß, nur mit einem kleinen Handwagen – gefüllt mit einem Wurfzelt, Schlafsack, Isomatte, ein paar Klamotten, seiner Kameraausrüstung zur Dokumentation der Reise und einem Strohhut. Vor seinem Abmarsch im Juni 2014 hat er vor seiner ehemaligen WG in Pasing ein erstes Video aufgenommen. „Ich fange gerade an zu realisieren, dass das jetzt alles ist, was ich in der nächsten Zeit haben werde, mit dem ich auskommen muss – aber so richtig klar werden wird mir das erst auf dem Weg“, sagte er damals in dem Film. Er ist barfuß, trägt Shorts und ein Karohemd zu verstrubbelten blonden Haaren und einer viereckigen Brille mit schmalem Gestell.

Heute, etwas mehr als ein Jahr später, erinnert er sich: „Als ich losgezogen bin, war es ein so wahnsinnig tolles Gefühl von Freiheit“, sagt er. Doch nicht nur seine Habseligkeiten ließ Sandro zurück – auch sämtliche Pflichten waren passé. Erst kurz zuvor hatte er sein Studium des Managements sozialer Innovationen an der Hochschule beendet und die Abschlussarbeit – einen Film über ein Selbstversorgerdorf in Südösterreich – abgegeben. Dieser Film hatte ihn auf die Idee der Reise gebracht. Fünf Monate hatte er dort gelebt und sich bei diesem ersten Kontakt für das Selbstversorgerleben begeistert. „In dieser Zeit habe ich gemerkt, dass ich nicht weiter in der Stadt leben will.“

Auch hat er sich während seines Studiums viele Gedanken über die ökologischen Folgen seines Lebens gemacht und ist für sich auf eine einfache Formel gestoßen, um möglichst wenig Schaden zu hinterlassen: Genügsamkeit und Bewusstsein für die Umwelt. „Wenn man selbst etwas anpflanzt, Samen in den Boden steckt und dann wächst es und du kümmerst dich darum – und schließlich kannst du etwas ernten. Da spürt man die Verbindung zur Natur, die ich zumindest nicht merke, wenn ich im Supermarkt etwas kaufe, das in Plastik verpackt ist“, sagt er. So machte er sich auf die Suche nach einer passenden Gemeinschaft von Gleichgesinnten.

Vor Reisebeginn informierte er sich zwar über ökologische Gemeinschaftsprojekte und erstellte eine grobe Route, einen genauen Zeitplan gab es aber nicht. 

Die geringen Reisekosten deckte er mit Erspartem und dem Arbeiten für Kost und Logis. Auf dem Weg ernährte er sich tagsüber von kalten Mahlzeiten – den mitgebrachten Campingkocher brauchte er gar nicht. Abends schlug er sein Zelt auf, schlief in den kalten Nächten mit Mütze und Jacke. Aber auch vor Ort zog er auf den Grundstücken der Familien und Gemeinschaften manchmal das Zelt vor, um seinen privaten Bereich zu haben. Acht Stopps bei Selbstversorger-Gemeinschaften legte er während eines Jahres ein und blieb von einem Tag bis hin zu acht Monaten. Seine Entscheidungen fällte er spontan, je nachdem, wie sehr ihn die Gemeinschaft oder die Methoden der Selbstversorgung interessierten. Sandros Reise ist ganz klar keine Kopfsache – die Entscheidungen fallen alle nach Bauchgefühl.
 Als es im Zelt doch zu kalt wurde, kam er im Winter dauerhaft bei einer Kommune unter, deren Mitglieder zwischen Ende 20 und 60 Jahren alt sind – und blieb sogar über die eisige Zeit hinaus in der alten Holzmühle 120 Kilometer nordwestlich von Wien. Die insgesamt acht Monate bei den „Zwetschgen“, wie sich die österreichische Selbstversorgergruppe nennt, waren neben der guten Gemeinschaft auch der Liebesgeschichte mit einer der Bewohnerinnen geschuldet, verrät er.

Beim plötzlichen engen Leben mit Fremden zeigten sich schnell die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede in den Vorstellungen. „Aber ich konnte ja leicht weiterziehen, wenn ich das Gefühl hatte, dass es nicht so ganz zu meinem Entwurf passte“, erklärt Sandro.

Auch wenn er auf seiner Reise bisher noch nicht den Ort zum Bleiben gefunden hat, war ihm doch nach jedem Aufenthalt klarer, wonach er sucht – und wonach eben nicht. So weiß er jetzt, dass ihm das Zusammenleben unter einem Dach zu nah ist. Mittlerweile könnte er sich das Leben in einem Ökodorf in nachbarlichen Verhältnissen gut vorstellen. Arbeiten würde er gerne als Filmemacher und als erstes Projekt einen Dokumentarfilm über seine Reise erstellen. Er ist sich aber auch als Handwerker oder Altenpfleger nicht zu schade – „was auch immer in der jeweiligen Gemeinschaft gebraucht wird“, sagt er und lächelt zuversichtlich.

Über solche privaten Überlegungen schreibt er auch in seinem Blog „SustainHAPPYlity“. Mit der Internetpräsenz möchte er andere für ein konsumarmes Leben begeistern, indem er es ihnen auf sehr persönliche Weise, fast tagebuchartig, in Texten und Videos vorstellt. Mit dem Begriff Konsumkritik tut er sich trotzdem schwer: „Ich sehe zwar viele Probleme in der Herkunft und Verteilung unserer Lebensmittel, will aber niemanden persönlich verurteilen“, erklärt er. „Das, was ich tun kann, ist herauszufinden, was für mich gut ist, und zu versuchen, andere zum Nachdenken zu bringen.“

Und was ist nach mehr als einem Jahr vom Freiheitsgefühl zu Beginn der Reise übrig geblieben? Materiell vermisst Sandro bis heute nichts, er hat sogar noch Dinge aus seinem spärlichen Gepäck verschenkt. Nur seine Freunde und Familie fehlen ihm. „Das hatte ich nicht so stark erwartet“, gibt er zu. Doch von der Weiterreise kann ihn das nicht abhalten. Er ist immer noch zu Fuß unterwegs, immer noch auf der Suche – vielleicht bald in Italien oder Südfrankreich. Ein zeitliches Limit hat Sandro sich selbst nicht gesetzt: „Ich bin einfach so lange unterwegs, bis ich einen schönen Ort für mich finde.“

Elisabeth Kagermeier


Foto: Sandro Langholz

Von Freitag bis Freitag München: Unterwegs mit Elisabeth

Die Meteorologen
warnen vor einer Hitzewelle – Elisabeth freut’s. Ein 35 Grad heißes und damit das
hochsommerlichste Wochenende steht bevor! Für die nächste Woche verrät euch Elisabeth, wo ihr gleichzeitig die Sonne
genießen und meist kostenlos feiern könnt, zum Beispiel beim Türkenstraßen Open Air,  beim Sonntagsgefühl in der Villa Flora und natürlich steht auch das Stadt-Land-Rock-Festival auf ihrem Plan! 

Als großer Filmfan wollte ich eigentlich dieses Wochenende
nochmals im Kino verbringen – bei diesem wolkenlosen Himmel schaffe aber selbst
ich das nicht. Ein guter Kompromiss ist der letzte Abend vom kostenlosen Open
Air des Filmfests am Gasteig, „Swinging Munich“. Eine Woche dreht sich hier alles um fliegende Röcke, Tanzschritte und die
passenden Rhythmen. Am Freitag, 3.
Juli gibt es „Swing Kids“ von Thoma Carter zu sehen, Filmbeginn ist gegen 22
Uhr.

Davor ist noch genug Zeit, mir für 10 Euro ein Bändchen für
das begehrte Uni-Sommerfest im Hauptgebäude der LMU zu sichern und schon mal die Bühnen und die Kunstausstellungen
bei einem ersten Getränk zu erkunden. Nach dem Film radle ich schnell zur Uni
zurück, um ja nicht die Impro-Theatershow von der Bühnenpolka um 0:30 zu
verpassen. Danach schwing ich bis zum Ende noch selbst das Tanzbein.

Samstags mache
ich mich nach dem Ausschlafen gleich wieder auf nach draußen: Um 14 Uhr fängt
das Türkenstraßen Open Air an! Für einen Tag herrscht hier Ausnahmezustand: Die Straßen werden gesperrt,
ausnahmsweise darf sich kein Anwohner beschweren und bis Mitternacht draußen
gefeiert werden. An den Plattentellern stehen zum Beispiel die DJ’s aus dem
Crux und dem Lucky Who, dazu gibt es Essen und Trinken für meinen späten Brunch
in den umliegenden Cafés und Restaurants. Wenn es mir zwischendurch zu warm
wird, laufe ich einfach schnell in den Englischen Garten vor und kühle meine
Füße im Eisbach.

Am Sonntag habe ich die Qual der Wahl zwischen zwei Festivals im
Freien. In der Villa Flora kann man zum dritten Mal das Sonntagsgefühl spüren. Bei elektronischer Musik mit den bekannten Sonntagsgefühl-DJ’s und
ein paar Drinks im neu gestalteten Garten der Villa lasse ich das Wochenende mit
Freunden ausklingen. Vor 14 Uhr gibt es freien Eintritt für alle, die bis
Samstag auf Facebook zugesagt haben, danach kostet es 5 Euro. Alternativ lädt
auch der Munich Breakfast Club zum ersten Mal zum Open Air Brunch & House
Music
. Eigentlich sollte dieses Event schon am 4. Juni stattfinden, damals hatte
aber kurzfristig die Location abgesagt. Umso mehr freue ich, dass es nun
nachgeholt wird! Die Location ist nach wie vor geheim – es soll aber eine
Terrasse im Zentrum von München sein. Ab 12 gibt es ein Brunchbuffet mit
Live-Cooking-Stationen, ab 15 Uhr wird die Musik lauter und alle dürfen
mitfeiern. Für den Brunch muss man vorab reservieren.
Wer von den Feierlichkeiten vom
Wochenende noch Kopfweh und nach dem Brunch mehr Lust auf Ruhiges als auf
Elektromusik hat, geht am besten in den Hinterhof der Glockenbachwerkstatt. Ab
12 Uhr kann man bei freiem Eintritt über die Japandult schlendern. Unter dem Motto „Bavaria meets Japan“ sind hier ein
Kunsthandwerkmarkt und Kreativ-Workshops zum Mitmachen geboten.

Montags brauche
ich etwas Erholung vom feierlastigen und hitzigen Wochenende. Deswegen mache
ich am Nachmittag nach getaner Arbeit eine kleine Radltour zu einem der vielen
Badeseen im Umland – aus dem Münchner Norden ist für mich der Hollerner See eines
meiner Lieblingsziele. Hier ist das Wasser türkis und die kostenlose Badeanlage ist neu gestaltet
mit Liegewiesen, Strand und einem imposanten Turm der Wasserwacht. Nur von den
Geräten des Kieswerks sollte man sich fernhalten (auch wenn von dort ins Wasser
springen verlockend ist), sonst kommt die Wasserwacht in ihrem Boot schneller
angeschippert als man „Wasserbombe“ sagen kann. Auf dem Rückweg  lasse ich den Abend im Biergarten am Schloss
Schleißheim ausklingen und beobachte die Segelflieger, die vom Flugplatz
Schleißheim abheben. Falls ich für den Rückweg mit dem Radl keine Kraft mehr
hab, steige ich in Oberschleißheim gemütlich in die S-Bahn.

Das Filmfest ist zwar seit dem Wochenende vorbei – die „Warholmania“,
die dort mit einer Hommage an Andy Warhol und seine Filme eingeläutet wurde,
aber noch lange nicht. Die Kooperation zwischen dem Museum Brandhorst und dem
Filmfest München geht noch bis zum Ausstellungsende am 18. Oktober 2015.
Deshalb gehe ich aus erster
Nostalgie nach dem Filmfestende am Dienstag
um 18:30 ins Museum Brandhorst. Der Kunsthistoriker und Kurator Douglas Crimp
hält dort einen Vortrag zum Thema „FACE VALUE“.
Im Mittelpunkt stehen Warhols Stummfilme „Haircut“, „Blow Job“ und „Maria
Banana“.

Am Mittwoch mache
ich einen Ausflug nach Nürnberg zur Eröffnung der Jahresausstellung 2015 der
Akademie der Bildenden Künste
. Meine Begleitung ist ein Freund, der auf die Akademie in München geht, und
sich zwei Wochen vor der Münchner Jahresausstellung mal die Arbeiten der
Konkurrenz in Nürnberg ansehen will. Die Ausstellung öffnet um 19 Uhr. Wer mittwochs
arbeiten muss und die Werkschau trotzdem nicht verpassen will: Das große
Sommerfest zur Finissage beginnt um dieselbe Zeit am darauffolgenden Samstag.
Sollte der Ausflug doch nicht klappen, gehe ich am Mittwoch
um 19:30 ins Lost Weekend in München. Dort liest Barbara Murica aus ihrem Buch
„Gut leben“ mit anschließender Diskussion. Thema ist, ob und wie eine solidarische Gesellschaft jenseits des (Wirtschafts-)Wachstums
möglich ist.

Das Stadt-Land-Rock-Festival beginnt!, heißt es am Donnerstag.
Deswegen mache ich mich auf in den Olympiapark zum Tollwood. Bis Sonntag treten
hier in der Tanzbar junge Münchner Bands auf, die man entweder kennt und mag
oder kennenlernen sollte. Der Eintritt ist frei. Am Donnerstag gibt’s eine
bunte Mischung aus Indie, Klassikpop und Hip-Hop auf die Ohren. Jede Stunde eine
andere Band und eine andere Musikrichtung. Den Anfang machen Miriam Green &
Katja Khodos
, danach übernehmen Katrin Sofie F. und der Däne die Bühne. Taiga
Trece
rappt ab 21 Uhr und den Abschluss macht die Band Mighty Steel Leg
Experience
.

Am Freitag, den 10. Juli,
schaue ich zur Einstimmung auf den Abend nochmals auf dem
Stadt-Land-Rock-Festival vorbei. Dort spielen heute die Cassettes, The Living, die Band Birdwatchers
und zum Abschluss der Singer-Songwriter Matthew Austin, der irgendwie ein
bisschen wie Bob Dylan klingt. Danach geht’s auf eine Geburtstagsfeier: Das
Muffatwerk wird 22! Alle Areas von Biergarten über Ampere bis Muffathalle sind geöffnet, der
Eintritt ist frei. Zu hören gibt es unter anderem Jungle-Boogie-Rock’n’Roll von
Famous Naked Gipsy Circus und Folkrock von den Racing Glaciers aus Liverpool. Neben
sechs Bands treten auch vier verschiedene DJ’s auf den In- und Outdoor-Bühnen
auf.

Elisabeth Kagermeier

Das geheime Dinner

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Antonia Simm, 25, und Laura Veronesi, 27, laden regelmäßig zum „Futterneid“. Was serviert wird, erfährt man erst am Abend. Auch wo es das Überraschungsmenü gibt, wird den 25 Gästen erst kurz vorher mitgeteilt. Das erinnert an die Reihe “Hauskonzerte”, nur geht es hier nicht um Mucke, sondern Mangiare.

Von Elisabeth Kagermeier

Gläserklirren und Tellerklappern? Hier im Wald? Zwischen den Bäumen schimmert das Licht einer kleinen Waldhütte hindurch. In der gemütlichen Stube in der Nähe von Schäftlarn tanzen Schatten im Kerzenlicht über das helle Holz der Einrichtung, die große Tafel wirkt wie für das Treffen einer besonders großen Familie gedeckt. Abgesehen von den Geräuschen, die 25 Leute eben machen, wenn sie zusammen an einem Tisch sitzen, ist es vollkommen ruhig. „Das ist immer der schönste Moment“, erzählt Antonia Simm, 25, und lächelt. „Wenn man das Essen serviert, sind alle erst mal still und genießen. Dann wissen wir: Wir haben es geschafft.“ 

Abgesehen von diesem Moment sind die Abende der beiden Hobbyköchinnen Antonia Simm und Laura Veronesi, 27, alles andere als eine ruhige Angelegenheit. Das Duo nennt sich „Futterneid“. Ihre
Dinner-Abende erinnern ein wenig an die mittlerweile sehr bekannte Reihe Münchner „Hauskonzerte“. Das heißt: wechselnde, oft ungewöhnliche und geheim gehaltene Orte sowie eine Handvoll Menschen, die über soziale Medien von der Veranstaltung Wind bekommen und sich per E-Mail
anmelden: Nur die ersten 25 Leute können kommen. Der entscheidende Unterschied: Bei Futterneid steht Essen statt Livemusik auf dem Programm.

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Fotos: Ann-Sophie Wanninger

Mit dem negativen Gefühl, anderen das Essen nicht zu gönnen, sollen die Dinner trotz des Namens „Futterneid“ übrigens nichts zu tun haben. „Das Schlimmste sind kleine Portionen, von denen man nicht satt wird“, sagt Laura. „Bei uns gibt es Nachschlag, bis alles leergekratzt ist!“ Im Mittelpunkt steht aber nicht Völlerei, sondern gemeinsames Erleben – das „Essen mit fremden Freunden“, wie es Laura beschreibt. Die Gäste kennen sich in der Regel zwar nicht, aber im Laufe des Abends kommt jeder mit jedem ins Gespräch. „Neben dem Ziel, den Leuten einen schönen Abend zu bereiten, wollen wir auch ein natürliches Netzwerk generieren“, erklärt Antonia.

Ihr Antrieb ist die Liebe zum Kochen.

Umsonst bekochen Laura und Antonia ihre etwa 25 Gäste trotz der freundschaftlichen Atmosphäre allerdings nicht. 50 Euro muss man für Menü und Getränke ungefähr aufbringen. „Wir werden davon nicht reich, aber das wollen wir auch nicht erreichen“, erklärt Laura, die „Futterneid“ wie Antonia nur neben ihrem Beruf in der Freizeit organisiert. Ihr Antrieb ist die Liebe zum Kochen.

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Wenn man die beiden jungen Frauen nach dem Ursprung dieser Passion und der Idee von „Futterneid“ fragt, ist die Antwort für sie klar: „Zuerst kam die Liebe zum Essen“. Beide antworten gleichzeitig, als sie den gleichen Wortlaut bemerken, lachen sie. Die Liebe zum Kochen sei mit der Zeit entstanden, erklären sie weiter, Italien hat bei der Entdeckung dieser Liebe eine große Rolle gespielt. Laura Veronesi ist südlich der Alpen geboren und zwischen München und Großmutters Küche in der Toskana aufgewachsen. Antonia Simm, die eigentlich aus Uffing am Staffelsee kommt, hat als Kind und im Studium sechs Jahre lang in Italien gelebt und ist im Herzen
Römerin geblieben, wie sie selbst sagt.

“In Italien hat Essen einen ganz anderen Stellenwert. Da wird das einfach zelebriert, frisches Gemüse und tolle Zutaten zu haben.“ Seitdem liebt sie den Kochprozess vom Einkaufen bis zum Gericht im Ofen, wenn sich langsam der Duft in der Küche verbreitet.

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Kennengelernt haben sich Antonia und Laura in der Schulzeit am Bertolt-Brecht-Gymnasium in Pasing, vertieft hat sich die Freundschaft während des Studiums in München. Das Band zwischen den jungen Frauen war von Beginn an das Kochen, am liebsten entwarfen sie Menüs für Freunde. Vor dreieinhalb Jahren gründeten sie ihren eigenen Catering-Kochservice. Eine kulinarische Ausbildung haben beide bis heute nicht, sie wollten ihre Leidenschaft nie zum tages-unf abendfüllenden Beruf machen.

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„Was uns am meisten Spaß macht am Kochen, war immer die Freiheit zu machen, was uns gefällt“, begründet Laura. Deswegen gaben sie nach drei Jahren auch das Catering wieder auf. „Wir wollten dabei sein, wenn die Gäste essen und glücklich dabei sind“, erklärt Antonia. „Wir wollten das ganze Paket mitgeben, nicht nur das Essen“, sagt Laura. Die Idee zu den „Futterneid“-Events war geboren, ihren besonderen Charakter der wechselnden Locations erhielten die Dinner aber allein aus der Not heraus. „Wir hatten uns eigentlich einen Ort für unsere Veranstaltungen erträumt: eine eigene offene Küche“, erzählt Antonia.

Ein Dinner im Kunstatelier, ein Abendessen in der Schuhwerkstatt

Obwohl dieser Wunsch noch nicht in Erfüllung ging, wollten sie mit ihrer Idee nicht warten: Warum also nicht wechselnde, besondere Orte für die Dinner wählen, passend zum Trend von Wohnzimmerkonzerten und -kabarett? „Die Leute sind so gesättigt von dem Angebot, das man an jeder Ecke kriegt“, glaubt Antonia. Schon vier „Futterneid“-Veranstaltungen wie im Waldhaus in Schäftlarn haben Laura und Antonia seitdem organisiert. Ein Dinner fand im Kunstatelier zwischen Bildern und Farben statt, ihr allererstes in einer Schuhwerkstatt im Glockenbachviertel – zwischen jeder Menge Pumps und Stiefeln, aber ohne Küche am Ort. Da werden schnell die Camping-Kochplatten zum wichtigsten Accessoire des Abends.

 Bei ihren Events probieren Antonia und Laura immer mehr. Und privat? Da besinnen sich die beiden dann doch am liebsten auf das Einfache und Klassische: Ihre Lieblingsspeisen zu Hause sind Nudeln oder Spiegelei. Ganz schlicht, ganz ohne Musik, Pumps oder Waldatmosphäre.