Ein letztes Mal Sex. Und Sonntagsbraten

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Beste Freundin. Mitbewohner. Auf jeden Fall Komplize. So fühlten wir uns seit fünf Jahren. 256 Kolumnen haben Lisi Wasmer und Susanne Krause seit Juni 2010 auf der Junge-Leute-Seite geschrieben. Über junge Menschen bei der Paarungssuche. Und über das Zuhause, was immer das auch sein mag. Nun ist es vorbei. Mit Sex. Und mit Sonntagsbraten.  

Heimat.
Sex. Im Wechsel. Kürzer lassen sich die beiden Kolumnen der Jungen Leute Seite,
„Beziehungsweise“ und „Bei Krause zu Hause“, wohl nicht beschreiben. Nun erschien der letzte Text: Nach fünf Jahren voller komischer, absurder und
nachdenklicher Geschichten aus dem Leben und Liebesleben ihrer Freunde und
Bekannten, legen Lisi Wasmer und Susanne Krause den Stift nieder. Ein Abschied.

Kolumnen
binden Leser. Sie sind Aushängeschilder. Konstanten, auf die man sich verlassen
kann. Ein Grund, die Seite aufzuschlagen, auch wenn einen die restliche
Themenauswahl nicht sofort anspricht. Das Spannende: Selbst wenn das Erzählte
oft absurd klingt, im Kern sind die Kolumnen wahr. So oder so ähnlich hat es sich
tatsächlich zugetragen. Marcels Name zum Beispiel, den mag Susanne in ihrem
„Bei Krause zu Hause“ Text verändert haben, sein Balkon allerdings war
tatsächlich eines Tages die Hauswand hinabgestürzt.

Angefangen
hat die Kolumnen Reihe im Juni 2010 – mit einem „Beziehungsweise“-Text von Lisi
und einem Tampon, das auf der Wasseroberfläche eines Toilettenbeckens trieb.
Als ekelhaft kann man das bezeichnen. Oder als Stilmittel. Lisi bedient sich
gerne der Effekthascherei, wählt Ausdrücke und Worte meist so geschickt, dass
sie sich gerade noch in der Zeitung drucken lassen. Und es funktioniert: Was im
ersten Moment obszön oder abstoßend klingt, macht letztendlich doch neugierig –
Sex sells eben. Ganz nebenbei erzählt die Autorin von kleinen und großen
Wahrheiten über Männer, über Frauen, über das Lieben und Geliebt-werden. Spätestens
am Ende, wenn aus dem Tampon zum Beispiel ein Sinnbild für das Verlangen nach
einer festen und ehrlichen Beziehung geworden ist, ganz ohne Make-up und ohne
sich zu verstellen, nach der letzten Zeile also, weicht Abscheu dem Gefühl
von guter Unterhaltung. Lisis Texte sind zum herzhaft Lachen.

„Bei
Krause zu Hause“ im Gegensatz ist anders: Kein Sex, zumindest eher selten und
weniger explizit. Und anstelle eines prustenden Auflachens bleibt am Ende
dieses Lächeln, das sich einstellt, wenn man sich in einer Situation selbst
wiedererkennt. Susanne Krause schreibt Wohlfühl-Texte, die auf genüssliche und
humorvolle Art die Tücken und Überraschungen des Alltags beschreiben, wenn man
einmal das Hotel Mama hinter sich gelassen hat. Es geht um das Leben bei Krause zu Hause. In der Tat gewährt Susanne ihren Lesern Einblicke in ihre
persönlichen vier Wände: In die Burschenschaft, in der sie gelebt hat. In ihre
Küche, in der  sie nur die Stellen und Oberflächen putzt, die ins Auge
eines mittelgroßen Betrachters fallen. In ihr Wohnzimmer, von wo aus sie über
ihre Sehnsucht nach einem eigenen Balkon schreibt – ein Balkon in einem guten baulichen
Zustand, versteht sich, nicht wie Marcels Balkon. Susanne erzählt von Dingen,
mit denen sich jeder immer irgendwie identifizieren kann.

Ebenso
wie ihre Texte für die Leser auf die Seite gehören – nicht umsonst kommen jedes
Jahr viele Zuschauer zu ihren Sex und Sonntagsbraten Lesungen im Farbenladen -,
wird es auch schwer, sich die beiden aus der Redaktion der Junge-Leute-Seite wegzudenken.
Angesichts ihrer eigenen Themenwahl verwundert es nicht, dass sie auch im
echten Leben oft unterschiedlich sind: Man kann Susanne durchaus als verkannte
Rebellin bezeichnen, die mit ihren blonden Locken und manchmal zurückhaltenden
Art zwar unschuldig wirkt, sich aber mit quietschbunten Strumpfhosen
aufbegehrt, wenn die Geschäftswelt einen Stiftrock von ihr verlangt. Lisis Potenzial
zur Rebellion dagegen ist offensichtlicher. Nicht nur ist sie braunhaarig, was
sie vor der Engels-Assoziation bewahrt, auch ihr Blick hat immer etwas freches
und herausforderndes. Wenn ihr die Idee für eine Geschichte gefällt, setzt sie
sich ein, und schreckt auch nicht vor Diskussionen zurück. Sie ist
selbstbewusst, kämpferisch und doch immer mit einem guten Rat zur Seite.

Dass
die beiden eines Tagen nicht mehr als Kolumnistinnen für die Junge-Leute-Seite
schreiben würden, das war eigentlich auch 2010 schon klar. Über die Jahre sind
Autorinnen und Texte gleichermaßen erwachsener geworden. Statt um den
chaotischen Studentenalltag ging es bei „Bei Krause zu Hause“ immer mehr um
Identität und die Frage, wo man hingehört. Und seit einiger Zeit gibt es auch
immer wieder „Beziehungsweise“-Kolumnen, in denen Worte wie Sex, Rammler und
Artverwandtes keinen Platz mehr finden. Stattdessen waren Liebe, Partnerschaft
und selbst Kinderkriegen Thema. Lisi Wasmer und Susanne Krause sind älter
geworden, keine Studentinnen mehr. Es ist also durchaus gerechtfertigt, wenn
auch schade, dass sie aufhören. Im neuen, im echten Leben jetzt werden sie sich
wohl vielen neuen Dingen widmen, Sex und Sonntagsbraten allerdings werden
vermutlich auch weiter eine Rolle spielen.

Dorothée Merkl

Foto: Lorraine Hellwig

Neuland

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Dhan Schroeter möchte für die Opfer der Erdbebenkatastrophe in Nepal viele Spenden sammeln. Die nächste Aktion findet an diesem Samstag, dem 9. Mai, auf dem Pasinger Flohmarkt statt.

Seit der Erdbebenkatastrophe sind der Münchner Dhan Schroeter, 25, und die Studenten vom „Nepalese FC Bayern“ im Dauereinsatz: Viele ihrer Angehörigen sind von der Erdbebenkatastrophe betroffen. Am 9. Mai werden sie auf dem Pasinger Flohmarkt Waren und Essen aus ihrem Geburtsland Nepal verkaufen. Der Flohmarkt ist nur eine der vielen Aktionen, die sie in den vergangenen Tagen zusammen mit der Hilfsorganisation Carisimo e.V., für die Dhan als Übersetzer arbeitet, umgesetzt haben. Alles mit dem Ziel, möglichst viele Spenden für die Opfer zu sammeln. 
Mehr Infos im Internet unter: 
www.carisimo.de

Dorothée Merkl

Foto: 

Anuradha Schroeter

Versöhnung mit der Vergangenheit

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Dhan Krishna wuchs als Waisenkind in Nepal auf, heute lebt er als Dhan Schroeter mit seiner Adoptivfamilie in München. Er arbeitet als Erzieher und Dolmetscher – und unterstützt Hilfsprojekte in seiner ursprünglichen Heimat. Das Datum, an dem sein zweites Leben begann, hat er sich auf den Arm tätowieren lassen.

Dhan Schroeter steht an einer Ecke des Marienplatzes, ein wenig abseits vom Gedränge. Er trägt ein blaues Hemd, darüber ein Sakko. An seinem Handgelenk zeigt eine auffällige Uhr von Giorgio Armani wenige Minuten vor drei. Die Kleidung und sein Bart lassen ihn älter wirken als 22 Jahre. Er lege Wert auf Mode, wird er später sagen. Gerade kommt er von einem Termin im Amtsgericht. Er arbeitet als Dolmetscher, Nepali-Deutsch, damit verdient er sein Geld. Und das nicht schlecht, wie es scheint. Was man nicht erwartet: In Nepal, seinem Geburtsland, zählte er als Kind zu den Ärmsten der Armen. Damals hieß er noch Dhan Krishna.

„Die Gegend, in der ich geboren wurde“, erzählt er, „ist eine der unterentwickeltsten der Welt.“ Als er drei war, starb sein Vater, ein Jahr später seine Mutter. Dhans Onkel nahm ihn gegen den Willen der Tante auf. Jeden Tag half er dort mit, hütete beispielsweise Kühe – mit gerade fünf Jahren. Strom und fließendes Wasser gab es nicht. Geduldet, viel mehr war der Junge seinen Erzählungen zufolge in der Familie nicht. Seine eifersüchtigen Cousins zerschnitten ihm die Kleidung, im Dorf und zu Hause, musste er mit dem Vorwurf umgehen, ein tokua zu sein: schuld am Tod seiner Eltern. „So ist das im Hinduismus“, sagt er und meint damit den Aberglauben, dass junge Waisen wie er verantwortlich für Todesfälle seien.

Mit acht Jahren kam er in ein Waisenhaus in Kathmandu. Bis zu dreißig Kinder schliefen in einem Saal, zwei in einem Bett. Wo andere Kinder am liebsten wieder verschwunden wären, fühlte Dhan sich „wie im Himmel“. Er durfte in die Schule, lernte lesen und schreiben. Fleißig sein, sich anpassen, das hatte er schon im Dorf seiner Tante gelernt. Und damit kam er nun in Kathmandu auch sehr gut durch. Bald wurde er in ein Stipendiatenprogramm aufgenommen, kam auf eine renommierte Privatschule und lernte dort sogar Englisch.

2003 fängt sein zweites Leben an. Genauer: sein Leben in Deutschland seit dem 10.09.2003. Er krempelt den Ärmel des Hemdes hoch und ansatzweise erkennt man das Datum als Tätowierung. Schon vorher hatte eine Münchnerin, Roswitha Schroeter, ein nepalesisches Mädchen aus seinem Heim adoptiert. Drei Monate musste die Deutsche dort warten, bis sie es mit sich nehmen durfte. In diesen drei Monaten lernte sie auch Dhan kennen, auf Englisch erklärte er ihr das Leben im Heim. Wenn sie nicht da war, passte er auf das Mädchen auf, bis es nach Deutschland kam. Dhan blieb in Kathmandu – dann wurde auch er nachgeholt.

Heute ist dieses Mädchen für ihn seine Schwester, Roswitha Schroeter seine Mutter. Er fühlt sich als Deutscher, Nepal ist inzwischen nur mehr die zweite Heimat. Dennoch fährt er jedes Jahr dorthin. Seine Mutter hat eine Hilfsorganisation gegründet, er übernimmt die Übersetzungsarbeiten dafür. Er ist dabei, wenn neue Waisenhäuser eröffnet werden, beschäftigt sich mit den Kindern, zeigt ihnen Tricks, gibt weiter, was er selbst gelernt hat – Spiele zum Beispiel, die er im Heim oft gespielt hat. „Das tut mir gut und den Kindern auch.“

Kinder, sie sind ein besonderes Thema für Dhan Schroeter. Er wirkt zwar sehr ernst, wenn er von seiner Kindheit erzählt. Aber sobald er über sein Verhältnis zu Kindern spricht, blüht er auf. Dann lächelt er. Diese Freude begleitet ihn auch in seinem Beruf, denn neben der Arbeit als Dolmetscher macht er gerade eine Ausbildung zum Erzieher.

Zu Beginn in Deutschland hatte er schnell erste Erfolge, lernte die Sprache rasch, kam von der Hauptschule auf das Gymnasium, bekam das Stipendium „Talent in Bayern“. Doch die Schule ließ er nach der Mittleren Reife hinter sich, wollte lieber etwas Soziales machen. Sein erstes Praktikum machte er in einem Waisenhaus – das war sein Wunsch.

Auch hier gilt wie in Kathmandu: Er will den Kindern etwas geben. Viele seien verwöhnt von den vielen Spielzeugen, der Dauerbeschäftigung – an Kreativität seien die nepalesischen Kinder oft reicher. Er weiß aus eigener Erfahrung, „in Situationen, in denen man nichts hat, macht man oft das meiste daraus.“

Dhan Schroeter verbindet viele Gegensätze in sich. Die ärmliche Herkunft und die protzige Uhr an seinem Arm. Der Job als Dolmetscher – aber gleichzeitig ist er Erzieher in der Ausbildung. „Ich bin schon irgendwie anders als viele meiner Freunde. Ich kenne beide Kulturen und beide Mentalitäten und habe manche andere Interessen.“ In seiner Heimat hat man ihm gesagt, dass er sehr ruhig geworden sei, als seine Mutter starb. Und in gewisser Weise ist er das immer noch: „Ich bin jemand, der sehr viel nachdenkt“, sagt er.
Vielleicht mit ein Grund, warum er älter wirkt als 22 – wobei er vielleicht sogar jünger ist, denn sicher ist er sich bei seinem Alter nicht. Zunächst galt ein Zeitraum von fünf Tagen im Jahr 1990 als möglich, zuletzt erfuhr er von seinem Bruder, dass er vermutlich erst 1991 geboren wurde.

Seinen ersten Auftrag als Dolmetscher hatte er vor drei Jahren in einem Rosenheimer Gerichtssaal. Der Richter meinte, er solle das doch beruflich machen – und so kam es auch. Zuerst war er bei diversen Dolmetscherbüros beschäftigt, inzwischen ist er selbständig. Insgesamt gebe es nur zwei weitere Nepali-Dolmetscher in Deutschland, beide im Norden. Das kommt ihm zugute. Er grinst fast wie ein kleiner Junge: „Meine Kunden warten darauf, bis ich einen Termin frei habe, nicht andersherum.“ Das sei schon toll. Um sich sprachlich fit zu halten, liest er nepalesische Literatur. Je nach Auftrag – ob nun im Amtsgericht, im Zollamt, bei Staatsbesuchen oder Hilfsprojekten – hat er die passenden Begriffe parat. Die Arbeit mache ihm total Spaß, erzählt er, aber die Tätigkeit als Erzieher brauche er zum Glücklichsein. So sieht er auch seine Zukunft: halb Dolmetscher, halb Erzieher. Eine Familie mit zwei Kindern, ein eigenes und eines adoptiert, wünscht er sich.

Die jährlichen Reisen nach Nepal unternimmt er nicht nur wegen der Projekte, sondern auch, weil er nach Informationen sucht, über sich und seine Familie. Vor acht Jahren fand er heraus, dass er einen Bruder hat. Vor wenigen Wochen lernte er ihn kennen. Seine Tante sei inzwischen voller Neid, bei seinem Lebenswandel hätte sie lieber einen ihrer Söhne ins Waisenhaus geschickt, soll sie gesagt haben. Dhan scheint stolz auf das zu sein, was er erreicht hat, aber nicht schadenfroh. Es scheint, als habe er sich mit seiner Vergangenheit versöhnt. „Meine Vergangenheit gehört zu mir. Und ich bin nur froh und dankbar, dass alles so gut abgelaufen ist.“

Doro Merkl

Oscar Wilde und Windeln wechseln

Benefiz-Theater
für eine bessere Welt. Doch mit Spendensammeln begnügt sich Felicitas
Boeselager nicht: Sie selbst fährt seit Jahren in den Libanon um Behinderten zu
helfen und ihnen Urlaub zu ermöglichen.

Karim Inconnu. Karim
Unbekannt, so lautet der Name eines libanesischen Behinderten, mit dem
Felicitas Boeselager, 23, vieles verbindet: die Angst vor dem ersten Treffen, die
langsame Annäherung – und seither vor allem Freundschaft, besondere
Freundschaft. Denn Karim kann nicht sprechen, nicht gehen, und wie sein Name
ist auch seine Vergangenheit: unbekannt. Seit vier Jahren nun fährt die
Studentin jeden Sommer zusammen mit anderen in den Libanon, um Menschen wie
Karim zu treffen, sie zu pflegen und ihnen ein paar Tage Urlaub zu ermöglichen.
Und um diese Betreuung im Libanon überhaupt finanzieren zu können, leitet sie
jetzt schon im zweiten Jahr ein Benefiz-Theaterprojekt: Libanon on Stage.

Mit 19 erfuhr Felicitas
von dem Libanon-Projekt der Malteser. Ein junger Student war 1997 im Nahen
Osten unterwegs, sah die Zustände, die in den Behindertenheimen herrschten, und
beschloss, ein Jahr später mit Freunden und einem Arzt zurückzukehren und
Urlaub zu machen – mit den Behinderten, für die Behinderten. Von früh bis spät,
nach deren Wünschen. Noch heute finden diese Sommer-Camps in demselben Haus
statt, mitten in den Bergen des Libanons, auf dem Gelände eines alten Klosters.
Inzwischen werden die Freiwilligen zusätzlich von Priestern unterstützt. Auch
einige Mütter kommen mit, kochen und versorgen die jungen Menschen.

Die Behinderten kommen
aus insgesamt vier katholischen Heimen im Land. Die Zeit der Schwestern dort
ist knapp, das Geld noch mehr. „Im Libanon gilt ein behindertes Kind oft noch
als Strafe Gottes“, erklärt Felicitas. Die Familien derer, die in diesen Heimen
leben, haben entweder zu wenig Geld, um sich ein privates Heim zu leisten, oder
zu viel Scham. „Unser Ziel ist auch, die Behinderten so in das Bewusstsein der
Libanesen zu rücken, dass sie sich irgendwann selbst um sie kümmern.“ Aus
diesem Grund nehmen nicht nur Jugendliche aus Deutschland und dem Rest von
Europa an dem Projekt teil, sondern auch libanesische Volontäre.

Als die 23-Jährige an
dem kleinen Café in Schwabing ankommt, sind ihre Haare noch nass. Sie habe die
Zeit vergessen, sagt sie, lacht, setzt sich und bestellt einen Cappuccino. Das
Handy liegt griffbereit auf dem Tisch, sie erwarte noch wichtige Anrufe, jetzt
in der heißen Phase für Libanon on Stage müsse jeden Tag etwas geregelt werden.
Dann erzählt sie. Von ihren „Jungs“, die eigentlich keine Jungs sind, sondern
Männer und Frauen in jedem Alter. Sie erzählt, wie viel Angst sie hatte, als
sie das erste Mal vor dem Kloster stand und der Bus mit den Behinderten
einfuhr. Darunter auch Karim, ihr erster Schützling, über den sie so viel
Schlechtes gehört hatte. Er schlage um sich, sei nicht zugänglich. „Ich dachte,
damit komme ich nie zurecht.“ Inzwischen seien sie Freunde.

Sie erzählt auch, wie
sie schon nach ihrem ersten Besuch im Libanon beschloss, mehr zu tun. Wie so
viele aus dem Projekt nahm sie an Libanon on Stage teil. Im ersten Jahr stand
sie dann noch in Mönchskutte auf der Bühne, danach wurde sie gefragt, ob sie
nicht die Leitung übernehmen wolle. Sie wollte.

Seit 2005 gibt es das
Benefiz-Theater nun schon. Jedes Frühjahr studieren junge Menschen freiwillig
innerhalb einer Woche ein Theaterstück ein, bauen das Bühnenbild, nähen die
Kostüme – alles wird selbst gemacht. An diesem Montag starten die sieben
Probetage voll mit Text lernen, schneidern, organisieren und natürlich auch ein
bisschen feiern zwischendurch. Dann geht es auf Tour: Frankfurt, Köln, Hamburg,
Berlin – und am 5. und 6. Mai machen sie auch im Münchner Kolpinghaus Halt.

Der einzige Profi ist
der Regisseur, der Rest Amateure. „Wir sind nicht besonders professionell“,
sagt sie und lacht, „aber wir sind gut im Improvisieren.“ Auch sie selbst kommt
immer wieder an ihre Grenzen, wenn ihre rhetorischen Fähigkeiten spontan bei
der Begrüßungsrede versagen oder es bis kurz vor der Probenwoche noch kein
Stück gibt – wie dieses Jahr. Mittlerweile haben sie sich für „Ernst sein ist
alles“ von Oscar Wilde entschieden.

Manchmal, sagt sie, wird
ihr der Stress zu viel, dann hilft ihr die Erinnerung an Libanon, sich neu zu
motivieren. Auch dort sei es oft hart. „Man kann sich Schöneres im Leben
vorstellen, als einen 25-Jährigen zu wickeln“, gibt sie zu. Aber wenn sie sich
um ihren Schützling kümmert, wenn sie merkt, wie er sich freut, falle der ganze
andere Stress von ihr ab.

Überhaupt: Ernst bleiben
will sie nicht. „Für diesen Job braucht man schon Humor“, erklärt sie mit einem
wissenden Grinsen. Und Improvisationstalent, wenn bei der Aufführung plötzlich
ein Kartenabreißer fehlt. Aber ernst soll die Inszenierung sowieso nicht
werden. „Wir wollen, dass die Leute nach dem Abend spenden, damit wir das
Libanon-Projekt davon finanzieren können“, gibt sie zu, „dafür dürfen sie nicht
traurig rausgehen.“

Besonders findet sie das
nicht, was sie macht. „Du bist nie allein“, sagt sie, „egal ob beim Theater
oder im Libanon: Immer kann ich auf die Erfahrung der anderen zurückgreifen.“
Und dann meint sie, was das überhaupt sein solle: besonders. „Ich bin keine
Heldin“, sagt sie mit Nachdruck und diesmal doch ein wenig ernst, „denn im
Grunde kann das jeder.“

Foto:
Catherina Hess

Raus aus dem geschützten Raum

ChristinaNefzger ist Vorsitzende eines Jugendzentrums für junge Lesben und Schwule in München – ihre Aufgabe: Vorurteile abbauen. Dafür geht sie auch in Schulklassen.

Auf den ersten Blick wirkt es wie eine eigene Welt. Eine Welt, in der ein Schwulenwitz nach dem anderen fällt und jeder lacht. Eine Welt, die man über einen dunklen Hinterhof und einen regenbogenfarbenen Gang betritt. Keine Welt der Hetero-, sondern eine Welt der Homo-, Trans- und Bisexuellen. „Diversity“ nennt sich in München das LesBiSchwule Jugendzentrum. Hier sind sie unter sich. Auf den zweiten Blick aber erfährt man, dass die jungen Münchner, die hier an der Bar stehen, aufräumen wollen – mit Vorurteilen gegen Schwule und Lesben. Mit Vorurteilen gegen sie selbst. Sie wollen nicht in einer eigenen Welt leben.

Christina Nefzger gehört in diese Welt. Sie ist 20, natürlich, sportlich und hübsch. Keine Kampflesbe – ein häufig verwendeter Ausdruck. Darauf, dass sie sich in Frauen und nicht in Männer verliebt, deutet nur der kleine Anhänger um ihren Hals. Da sind sie wieder: die Regenbogenfarben. Sie erzählt vom Jugendzentrum, in dem sie Vorsitzende ist, und vondiversity@school, dem Projekt, bei dem sie sich zusammen mit ein paar anderen aus dem „Juze“, wie sie es nennt, vor Jugendgruppen und Klassen stellt, dorthin, wo es junge Lesben und Schwule ihrer Meinung nach im Alltag oft am schwersten haben. Die anderen, das sind mal mehr, mal weniger. Sechs, sieben Leute bilden den festen Kern. Alle sehr nett und vor allem offen.

„Das muss man auch sein“, meint Christina, „die Kids müssen ja Vertrauen zu uns fassen.“ Vertrauen fassen wozu? Wie funktioniert diversity@schoolüberhaupt? Als die junge Frau anfängt zu erklären, merkt man, dass ihr diese Arbeit viel Spaß macht. Ab der siebten Klasse veranstalten sie Workshops. Egal welche Schulform. Wichtig: Lehrer müssen draußen bleiben. „Wir wollen erst rausfinden, was ihre Einstellungen und Meinungen zu Schwulen und Lesben sind.“ Und dann dürfen die Schüler Fragen stellen. Auf Zetteln. Anonym. Es geht um das Coming Out, was die Eltern darüber denken, und die Frage, wie eigentlich lesbischer Sex funktioniert. Schüler formulieren diese Frage derber: „Heißt das, du lässt dich in den Arsch ficken?“ – auch auf solche Fragen folgen Antworten. „Eigentlich sind wir ganz froh, wenn die Jugendlichen nicht so ganz korrekt sind“, und während Christine spricht, bleiben ihre Hände nie ruhig, „dann sehen wir wirklich den Erfolg. Am Ende finden uns alle cool!“ Sie lacht, verlegen. Hannes, einer der anderen, fügt hinzu: „Manche Gymnasialklassen dagegen nerven – die sind oft so pseudo-politisch korrekt!“

Aber es gibt auch Grenzen, Fragen, auf die man nicht antwortet – „ob wir Referenten miteinander schlafen zum Beispiel“. Oder Argumente, über die sich nicht mehr argumentieren lässt. „Bei Religion ist das so“, wirft Antonia ein. Letztens habe sie so etwas erlebt, der weitere Referent war krank, ganz allein habe sie vor der Klasse gestanden, vor ihr die Schüler, zwei von ihnen extrem homophob. „Irgendwann kamen sie mit dem Koran an.“ An Antonias Augen erkennt man, dass es sie getroffen hat. „Gegen das Argument, das dies laut Religion verboten ist, kommt nicht mal mehr Menschlichkeit an. Und so koran- oder bibelfest bin ich eben nicht.“ Genau für solche Situationen treffen sich die Leute von diversity@school immer wieder, egal ob gleich nach dem Workshop oder später im Jugendzentrum, darüber zu reden ist ihnen wichtig.

„Meistens nehmen wir das Ganze aber eigentlich ziemlich locker“, sagt Christina, grinst und erinnert die Gruppe an ein paar Jungs aus einem Jugendzentrum. Nach ihrer Beschreibung waren sie wohl welche von der ganz harten Sorte, und alles andere als „voll schwul, ey“. Als der Workshop dann vorbei war, wollten sie „mal vorbeischauen“. Und auch wenn die Kerle durch und durch hetero waren, habe ihnen der Abend dann doch gefallen, „im Jugendzentrum bei den Homos“, wie sie es genannt haben. Sind die alten Vorurteile erst einmal verflogen, verflüchtigt sich auch das Gefühl, dass das LesBiSchwulen Jugendzentrums nicht offen ist für andere. „Auch Heteros sind bei uns immer herzlich willkommen“, sagt Christina, die regelmäßig ihre Mitbewohnerin – nicht lesbisch – zum Bar-Abend mitnimmt.

Und trotzdem bleibt das Gefühl, dass das nicht ganz zusammenpasst: das eigene Jugendzentrum mehr oder weniger nur für Homosexuelle und gleichzeitig der Anspruch, dass die Vorurteile gegen sie verschwinden sollen. Kann man sich denn isolieren und integrieren zugleich? „Die Frage ist uns nicht unbekannt“, entgegnet Christina, „und wir stellen sie uns auch selbst.“ Bei der Antwort darauf sind sich im Grunde alle einig, Toni spricht es aus: „Es ist wie ein Schutzraum, man stellt fest, dass man nicht allein ist – und so gewinnen wir alle Selbstbewusstsein.“ Selbstbewusstsein, das sie nach außen ausstrahlen und ohne das sie wohl nicht so sicher vor Schülern auftreten könnten, wie sie es jetzt tun. Als dann die letzte Frage im Raum steht, sitzt Christina mit angewinkelten Beinen auf der Bank. Sie überlegt. Kann es denn eine Welt ohne Vorurteile gegen Homosexuelle geben? „Ja“, antwortet sie dann, „irgendwann sicher.“

Foto: Robert Haas

Einmal Weltbild verändern, bitte

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Ahmad war früher Mitglied der Muslimbruderschaft – heute führt er Gruppen durch das Jüdische Museum in München. Der Student brauchte einen Nebenjob – „und außerdem wollte ich mit dem Klischee brechen, dass alle Araber antisemitisch sein sollen“.

Ein Blick in den Nahen
Osten, auf den scheinbar unlösbaren Konflikt zwischen Arabern und Israelis,
zwischen Islam und Judentum, lässt die Geschichte, die Ahmad Abdalla erzählt,
unglaublich klingen: Ein junger Moslem aus Ägypten, der als Besucherbetreuer im
Jüdischen Museum arbeitet. Doch das ist nicht irgendeine idealistische Fiktion,
sondern Alltag des 25-Jährigen.

Vor mehr als zwei Jahren
kommt Ahmad nach Deutschland. Er will die Sprache lernen, Film studieren,
landet dann doch irgendwie bei Orientalistik und Geschichte. In seinem
Hebräisch-Kurs empfiehlt ihm einer das Jüdische Museum, ein guter Ort für einen
Nebenjob. „Es hat mich sehr interessiert“, sagt Ahmad, „und außerdem wollte ich
mit dem Klischee brechen, dass alle Araber antisemitisch sein sollen.“

Es folgt ein nicht ganz
einfacher Marathon aus Interviews und Gesprächen. Und als Ahmad schon am Ziel
ist, zwei Wochen nach seiner Einstellung, kommt ein Anruf. Er dürfe erst einmal
nicht mehr arbeiten, denn sein Pass müsse von der Polizei überprüft werden. Eine
neue Regelung, hieß es. „Doch irgendwie war ich sauer.“ Heute, wenn er Gruppen
durch das Museum führt und auf seine eigene, wissenschaftliche und zugleich
sympathische Weise von der jüdischen Geschichte erzählt, hat er diesen Vorfall
längst vergessen. Ihn begeistert die Begegnung mit den vielen verschiedenen
Menschen, auch wenn ihn die Arbeit selbst, immer wieder dasselbe zu erzählen,
manchmal langweilt.

Viele Besucher – auch
die aus Israel – erkennen ihn nicht als Araber. „Sie denken, ich sei Israeli“,
sagt er und deutet auf seine schwarzen Locken und die dunkle Haut, „Ich sehe so
aus.“ Erfahren die Menschen dann doch von seiner Herkunft, sind die meisten
verwundert, positiv verwundert. Eine junge Islamwissenschaftsstudentin meinte
mal zu ihm, er habe ihr Weltbild verändert: „Kannst Du Dir vorstellen, wie sehr
mich das gefreut hat?“, sagt er – in diesem Moment ist ein Strahlen in seinem
Gesicht zu entdecken.

Natürlich weiß der
Student, weshalb er, der muslimische Besucherbetreuer, die Leute so verwundert.
Er kennt den Konflikt. Er kennt die Vorurteile seiner eigenen Landsleute – und
versteht sie auch, vor allem nach den Kriegen und den anhaltenden Angriffen auf
Palästinenser. „Doch nicht alle Juden sind Israelis, nicht alle Israelis Juden
und vor allem sind nicht alle Israelis gleich.“ Vielen Menschen in der
arabischen Welt fehle dieses Verständnis, diese Differenzierung, sagt er. „Ich
bin da anders – wohl offener.“ Man dürfe nicht verallgemeinern, das ist ihm
wichtig.

Aber er versteht auch
die jüdische Seite mit ihren Traumata und Ängsten. Wie so viele wünscht er sich
ein Ende des Konflikts: eine Zwei-Staaten-Lösung für Palästinenser und
Israelis. Einen multikulturellen Staat Israel, nicht nur für Juden, sondern für
alle. Eine Aufgabe der Mythen, auf beiden Seiten. Eine Politik mit weniger
Fehlern, auch das auf beiden Seiten. „Aber bald wird und kann das nicht
geschehen“, dazu seien die beiden Parteien zu radikalisiert. „Früher ging es um
Politik, heute um Religion“, sagt er.

In Sachen Religion hat er
sich ein ganz eigenes Bild gemacht: Er selbst brauche das nicht, „denn Religion
schafft oft Grenzen, und wenn Gott so groß ist, warum sollte es dann Grenzen
geben“? So denkt er heute. Früher war das nicht so, da war er noch gläubig und
ging oft zum Beten in die Moschee. Dort traf er auch auf die Muslimbrüder,
wurde mit 17 sogar selbst einer von ihnen. „Wie jeder in dem Alter suchte ich
nach einer Bedeutung in meinem Leben, wollte verstehen und aktiv sein.“
Eineinhalb Jahre schaute er sich die Organisation von innen an und machte eine
Erfahrung, die er nicht missen möchte. Allerdings merkte er auch schnell, dass
er dort nicht hineinpasst. „Ich war immer anders“, erklärt Ahmad heute, „denn
ich bin ins Kino gegangen, habe Musik gehört und auch Weltliteratur und nicht
nur religiöses Zeug gelesen.”

Der erste Israeli, den
er kennenlernt, ist sein Hebräischlehrer, heute ein Freund von ihm und damals
eine neue und interessante Bekanntschaft. Inzwischen sind unter seinen besten
Freunden sowohl Juden als auch Christen. „Wenn wir abends zusammen sitzen, dann
spielt unsere Religion überhaupt keine Rolle“, erzählt er. „Und das ist schön“,
fügt er hinzu.

Zu Beginn des Semesters
bekommt er nun während seines Geschichtsstudiums die Möglichkeit, das Land, das
er aus so vielen Perspektiven betrachtet, mit eigenen Augen zu sehen und zu
erfahren. Diesen Samstag ist der Flieger nach Tel Aviv abgehoben. Mit ihm,
obwohl es lange nicht danach ausgesehen hat. Die Bearbeitung seines
Visum-Antrags habe sich in die Länge gezogen, sagt er. Beantragt hat er es im
März, normalerweise, sagt er, müsse man zwei, drei Wochen darauf warten. Er
bekam es erst wenige Tage vor dem Abflug. Dorothee Merkl

Foto: Conny Mirbach