Ortskenntnis? Mangelhaft!

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In der weiten Welt zuhause, aber bei sich daheim irgendwie fremd: Viele Orte sind einfach zu nah, um dort gewesen zu sein. Nach vielen Reisen fasst Leonie jedenfalls den Vorsatz, ihre Heimatumgebung genauer zu erkunden. Es bleibt erst mal bei dem Vorsatz.

Es gibt Orte, die sind einfach zu nah, um dort gewesen zu sein. Leonie zum Beispiel kennt alle möglichen Käffer in Katalonien – also so ziemlich jedes Fleckchen Erde rund um den Ort, in dem ihre spanische Gastfamilie lebt. Aber Städte in Bayern? Da gibt es jede Menge schwarzer Flecken auf der Landkarte in ihrem Kopf. Als Leonie von ihrem Austausch ins Münchner Umland zurückkehrt, beschließt sie deshalb, endlich nachzuholen, was sie in ihrer Heimat bisher nicht geschafft hatte: die Umgebung kennenlernen.
Gut drei Jahre später: Leonie kommt gerade aus London, kurz zuvor war sie in Wien. Dort kennt sie übrigens jede Straßenecke. Und ihr Plan, endlich mal all die bayrischen Städte in Tagesausflugsentfernung zu erkunden? Tja, das ist so eine Sache. Er scheitert schon an der nächsten großen Stadt. Gerade hat Leonie einen Monat Praktikum im Münchner Stadtteil Haidhausen gemacht. Haidhausen hat ja viele hübsche Ecken. Gesehen hat sie davon jedoch nicht viel. Nur den Weg von der S-Bahn zu ihrem Arbeitsplatz und irgendwann – vor Jahren einmal – war sie dort auf dem Weihnachtsmarkt. Als wir uns an ihrem letzten Tag zum Kaffee treffen, setze ich deshalb kurzfristig eine Stadtteilführung an. So kann das schließlich nicht weitergehen.
Zwischen von Efeu überwucherten Häuschen, Straßencafés und Boutiquen erneuert Leonie einmal mehr ihren Vorsatz: Jetzt steht endlich mal die Heimatumgebung auf dem Ausflugsprogramm. Dass Leos Reisekasse nach einer Woche London ziemlich leer ist, macht diesen Entschluss umso glaubwürdiger. Denn: Geldmangel erhöht die Ortskenntnis. Vielleicht könnte ich Leonie jetzt keine Stadtteilführungen anbieten, wenn ich die Mittel hätte, meine Wochenenden in Barcelona und Rom zu verbringen.

Auf dem Heimweg sonne ich mich noch ein bisschen im Glanze meiner eigenen Ortskenntnis – durch irgendwas müssen ja auch diejenigen Menschen Bestätigung finden, die ferne Orte hauptsächlich von Facebook-Updates ihrer Freunde kennen! Je näher ich meiner Wohnung komme, desto mehr verflüchtigt sich jedoch mein Hochgefühl. Schuld daran: das Müller’sche Volksbad und das Deutsche Museum. Ich wohne seit mehr als zwei Jahren direkt daneben. Natürlich war ich nie dort.

Von Susanne Krause