Linker Fuß vor, Deckung, rechter Haken: David Borsche, 19, ist Box-Coach.
Zu ihm kommen junge Frauen mit Flucht- oder Migrationshintergrund
Von Wolfgang Westermeier
David Borsche, 19, hat nicht lange Zeit. Er verschwindet für einen Moment im Umkleideraum und kommt mit einer Banane und ein paar Reiswaffeln auf dem Arm zurück. Sein Abendessen vor dem Sparring, das in einer knappen Stunde startet. Seit acht Uhr morgens ist er unterwegs. Zuerst war er beim MTV München, wo er vergangene Woche sein duales Studium begonnen hat. Jetzt ist er hier, im „Mariposa Boxing Club“ im ersten Stock eines Bürogebäudes im Gewerbegebiet von Obersendling. David stößt die Tür zu einem kleinen Büro auf und macht es sich ohne zu zögern auf dem Boden bequem. Durch die Scheiben dringt der Sound des Boxstudios: Lachen, Stöhnen und der Bass eines Gettoblasters.
Gerade eben stand David selbst noch auf der Matte, allerdings als Trainer. Das Besondere ist die Gruppe, die er trainiert. Er leitet das „Integrationsboxen“, ein Projekt, das sich explizit an junge Frauen mit sozialer Benachteiligung richtet. Über den Zeitraum von zehn Wochen bringt er ihnen bei, wie man die Hände bandagiert, Boxhandschuhe anzieht, die Füße richtig platziert und einen Schlag landet. Zweimal die Woche findet das Training statt, an diesem Tag war das vierte Treffen. Die bisher teilnehmenden Frauen sind, bis auf eine Ausnahme, alle zwischen 16 und 25 Jahren alt, die meisten haben einen Flucht- oder Migrationshintergrund.
Wie kommt man dazu, als 19-Jähriger eine Gruppe Frauen im Boxen zu unterrichten, noch dazu eine so außergewöhnliche? Die Antwort hat viel mit dem Club zu tun, in dem David trainiert. Es ist gar nicht so lange her, da war er selbst noch Anfänger. Sein erstes richtiges Training hatte er vor zwei Jahren. „Das werde ich auch nicht so schnell vergessen. Auf dem Nachhauseweg musste ich aus dem Auto aussteigen und mich übergeben“, sagt David und lacht. Sein Trainer damals: Tim Yilmaz. Der 39-jährige boxt bereits seit mehr als 15 Jahren und betreibt zusammen mit Kai Melder den Mariposa Boxing Club. Schon davor wurde unter seiner Aufsicht trainiert, damals noch im privaten Boxkeller „Gym Yilmaz“ im Westen der Stadt.
Trotz der anstrengenden ersten Stunde muss der Boxsport David sofort begeistert haben. Er beginnt, regelmäßig zu trainieren. Nach dem Abitur macht er lieber ein Praktikum bei Yilmaz, als direkt mit einem Studium anzufangen. In dieser Zeit geht er auch seine erste Trainerlizenz an und engagiert sich ehrenamtlich für ein Sportprojekt für junge Geflüchtete. So kam ihm der Einfall für das Integrationsboxen. „Mir ist dort aufgefallen, dass viele wahnsinnig Lust auf so etwas haben und es anscheinend unzureichend angeboten wird“, sagt David. Bei Yilmaz stößt er mit der Idee auf offene Ohren. Der hatte in der Vergangenheit bereits ein ähnliches Projekt ins Leben gerufen.
Beim ersten Training werden
aus den geplanten
eineinhalb Stunden fast drei
„Ich meinte zu ihm, wenn er da Lust drauf hat, dann soll er das machen“, sagt Yilmaz. Einen Vorschlag hat er jedoch: David soll das Training für Frauen anbieten. Der Einfall speist sich aus der Erfahrung, die Yilmaz mit seinem Projekt gemacht hat. Damals hat er eine Gruppe trainiert, die aus minderjährigen männlichen Geflüchteten bestand. Was den Jungs so gut getan hat, würde bei den Mädchen hoffentlich den gleichen Effekt haben, so der Gedanke.
Knapp zehn Monate, eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne und mehrere Gespräche mit verschiedenen Pädagoginnen später, werden im Mariposa Boxing Club das erste Mal die Handschuhe verteilt. „Vor der ersten Stunde hatte ich ein bisschen Angst, dass niemand kommt“, sagt David. Die Sorge war unbegründet: Obwohl die Reaktionen in der extra gegründeten WhatsApp-Gruppe anfänglich zurückhaltend waren, sind zum Training elf junge Frauen erschienen. Aus den geplanten eineinhalb Stunden werden fast drei.
Ist das Training eine besondere Herausforderung, zum Beispiel, weil es Sprachbarrieren gibt? „Ehrlich gesagt ist es auch in meinen anderen Anfängertrainings so, dass ich die Sachen zehnmal erkläre. Und da verstehen alle ganz gut Deutsch“, sagt David. Anfangs stehen alle vor den gleichen Schwierigkeiten: Man passt einmal nicht auf und schon ist wieder der rechte, und nicht der linke Fuß vorne. Andere Probleme sind schnell behoben. „Wir haben nach dem zweiten oder dritten Mal erwähnt, dass es super wäre, wenn alle pünktlich kommen würden.“ Zur nächsten Einheit kamen gleich drei der Frauen eine halbe Stunde zu früh. „Ich freue mich, dass sie alles so begeistert aufnehmen“, sagt David.
Die Gruppe hat sich bisher immer leicht verändert. Von den elf Frauen aus der ersten Trainingseinheit ist knapp die Hälfte jedes Mal wieder da gewesen. Andere können nur an einem der Wochentage kommen, hin und wieder bringt eine Teilnehmerin eine Freundin mit. „Wie in jedem Anfängertraining“, sagt David. Trotzdem war er anfangs vorsichtiger als sonst. Die meisten Fragen, die ihm vorher durch den Kopf gingen, verschwanden aber bereits im Laufe der ersten Trainingseinheit. „Das hat mich wahnsinnig gefreut“, sagt David. „Zu sehen, dass die Ängste, die ich hatte, vollkommen unbegründet waren.“
Beim Training wird David von Deborah Henschel unterstützt. Sie trainiert selbst seit Anfang des Jahres im Mariposa Boxing Club, kann einspringen, wenn jemand zusätzliche Hilfestellung benötigt und ist eine Ansprechpartnerin für die jungen Frauen. Auch sie äußert sich begeistert über den bisherigen Verlauf des Projekts. „Kochabende und Frauenfrühstück sind tolle Angebote. Ich finde es super, dass sie so niedrigschwellig sind“, sagt Deborah. „Aber das Schöne an diesem Projekt ist, dass wir noch ein anderes Bild zeigen können. Frauen in Deutschland frühstücken nicht nur, sie boxen auch.“
„Frauen in Deutschland
frühstücken
nicht nur, sie boxen auch.“
Manche Teilnehmerinnen scheinen gar nicht genug bekommen zu können. Sie erzählen im Training davon, wie sie zu Hause das Bandagieren geübt haben und würden am liebsten noch öfter kommen. Im jüngsten Training kam bereits die Frage auf, was eigentlich nach den zehn Wochen passiert. Man möchte versuchen, möglichst viele in den normalen Trainingsbetrieb einzugliedern, zum Beispiel über Patenschaften. Für den Moment ist David jedenfalls sehr zufrieden, wie die Dinge laufen. „Wenn es bis zum Ende so weitergeht, wäre das super. Das ist eigentlich der einzige Gedanke, den ich habe.“
Foto: Jonathan Mauloubier