Hanna lacht, als ich sage, München sei gar nicht so groß. Sie wohnt noch immer in dem Kaff, aus dem ich vor gut zwei Jahren weggezogen bin. Ich erinnere mich dunkel, wie riesig München mir damals vorkam.
Hanna hat das noch vor sich. Deswegen fragt sie mich aus: Wie viel Geld ich zum Leben brauche? Wie man an ein Zimmer kommt? Und ob ihre Freunde Recht damit haben, dass man in Wohnheimen regelmäßig nach Alkohol durchsucht wird? Jetzt lache ich. Eines Tages wird sie sich wünschen, dass irgendjemand ihren Zimmernachbarn den Alkohol wegnimmt.
Nicht ganz so begeistert von Hannas Plänen ist Hannas Mutter. Hannas Mutter sagt, in München gebe es zu viel Gschwerl. „Gschwerl“ ist bairisch und bedeutet in diesem Fall „Leute, denen meine Tochter nicht im Dunkeln begegnen soll“. Denn im Gegensatz zu unserem Heimatdorf trifft man in München auch nach dem Sandmännchen noch Menschen auf der Straße an. Das ist anfangs beängstigend. Deswegen übt Hanna schon mal, bevor sie umzieht. Sie steht spätabends am Stachus und wartet auf einen Freund. Ein paar Kerle schielen in ihre Richtung. Ein junger Türke läuft auf sie zu: Groß ist er und breit, gekleidet wie ein Ghetto-Rapper aus einem Musikvideo. Einer von jenen, denen Töchter nicht im Dunklen begegnen sollen. Hanna betet, dass er vorbei geht – und wird erhört. Nur hat sie im nächsten Moment eine Gruppe junger Männer am Hals. Zwar sehen die Jungs weniger aus wie Gschwerl, sind dafür aber umso aufdringlicher.
Hanna friert, ihr Freund ist immer noch nicht da und die Typen scheinen auch nach zehn Minuten keine Ruhe geben zu wollen, bis sie mit ihnen essen geht. Um das Dilemma perfekt zu machen, kommt auch noch der Türke im Ghetto-Gewand zurück – und diesmal wirklich auf sie zu. Hanna macht sich auf alles gefasst. Nur nicht auf das, was jetzt kommt.
„Ey ihr da, lasst sofort meine kleine Sister in Ruhe“, fährt der Türke die Typen an. Ehe Hanna richtig versteht, was gerade passiert ist, haben sich die Jungs verkrümelt – und sie steht ihrem neuen türkischen Bruder gegenüber. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Aber Hanna muss auch nichts sagen, ihr Retter zwinkert ihr zu und schlurft dann wortlos davon. Sie starrt ihm hinterher. Jetzt wohnt sie noch nicht mal in München und hat hier schon Familie. Susanne Krause
Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.
Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.