Unter der Woche arbeitet Morteza Nikqadam aus Afghanistan als Schneider beim Münchner Volkstheater. Am Wochenende ist er Filmemacher – für das Filmfestival „Kino Asyl“. Seine Sitcom heißt „Kulturschock“
Von Katharina Horban
Lederhose, Trachtenstrümpfe, grauer Filzhut mit einer dunkelgrünen Kordel. „Schön siehst du aus, nachher gehen wir noch was trinken“, sagt Morteza Nikqadam, 28. „Aber der Pulli muss weg.“ Das dunkle Gestell seiner Brille gibt seinem Gesicht einen ernsthaften Ausdruck, fängt er an zu reden, bemerkt man sehr schnell seine Lebensfreude. Erst recht, wenn es um Mode geht. Das ist seine Welt. Er umrundet sein Gegenüber, dann hält er inne: Mbacke Ndiaye trägt unter der Trachtenweste noch seinen graumelierten Pullover. Der stört, er ist Morteza Nikqadam für die Dreharbeiten nicht bayerisch genug. Schließlich geht es in der zweiten Folge der Sitcom um einen Besuch auf der Wiesn. Schnell finden die beiden jungen Männer eine Lösung, einer der Nachzügler soll ein Hemd mitbringen.
Während der Woche ist Morteza Nikqadam aus Afghanistan Schneider beim Münchner Volkstheater. Am Wochenende ist er Filmemacher – für das Filmfestival „Kino Asyl“. Veranstaltet wird es vom Medienzentrum des JFF und Refugio jedes Jahr in München. Nach der Eröffnung am Sonntag läuft es bis zum 6. Dezember. Es zeigt Filme aus der Heimat von jungen Menschen, die nach Deutschland geflohen sind.
Dieses Jahr wählen die knapp 30 Mitwirkenden nicht mehr nur Filme aus ihren Heimatländern aus, sondern produzieren auch eine eigene Sitcom: Sie nennt sich „Kulturschock“ – und spricht in mehreren Folgen kuriose Situationen an, in denen sich Neuankömmlinge in der Stadt wiederfinden. So auch in der zweiten Folge: Mehrere Freunde treffen sich vor einem Besuch auf der Wiesn in der Wohnung von einem aus der Clique, der gerade noch beim Frühstück ist, als sie reinkommen. Jedoch haben die meisten den Dresscode anders aufgefasst als gedacht. Sie tragen statt Dirndl und Lederhose Tracht aus ihren Heimatländern oder erscheinen sogar in Badehose.
Nach dem Festival sollen zusätzliche Folgen gedreht werden. Genug Stoff dafür gibt es allemal. Jeder aus der Gruppe kann von seinem persönlichen Kulturschock erzählen: der öffentliche Personennahverkehr in der Stadt, Behördendeutsch – oder auch Hundefutter im Supermarkt. Darüber sagt Linus Einsiedler, Co-Organisator des Festivals vom Medienzentrum des JFF: „Bei unseren Besprechungen haben einige das Thema Hundefutter angesprochen, sie haben es nicht verstanden. Essen die Deutschen Hund? Nein. Aber warum kauft man für Hunde Futter? Das schien auch keine richtige Antwort zu sein.“
Viele der Mitwirkenden sind bereits seit einigen Jahren in Deutschland. Sie sprechen Deutsch, haben sich in München ein neues Leben aufgebaut. Was Heimat eigentlich bedeutet, das verschwimmt immer mehr. Bei den allerersten Sitzungen besprachen sie alles auf Englisch, heute können alle Deutsch. Nur hin und wieder merkt man noch, dass Deutsch für Morteza Nikqadam eine Fremdsprache ist – so etwa beim bairischen „Griaß di!“. Doch für ihn ist das nicht die ganze Wahrheit, er sagt: „Die deutsche Sprache ist eine Folterung.“ Mit seinen Worten genau das zu sagen, was er will, sei auch heute noch manchmal schwierig für ihn.
Einigermaßen einfach hingegen ist die Rolle, die er mittlerweile in der Gruppe hat: „Koordinieren, leiten. Das kann ich.“ Er macht eine kurze Pause und dann betont er, dass sie alles zusammen machen würden. Feste Positionen in der Gruppe gebe es nicht, so steht Morteza Nikqadam beim Dreh auch vor der Kamera. Was er gelernt hat: Seine Meinung durch das Medium Film sagen. Es brauche nicht immer Worte, um sich auszudrücken. So hat er im vergangenen Jahr den Trailer für „Kino Asyl“ gedreht. Morteza Nikqadam sagt über seine Heimat: „Ich will meine Kultur zeigen. Wenn jemand das Wort Afghanistan hört, denkt er an Terroristen. Dass alles so extrem ist. Das ist richtig, aber nur ein Teil. Es gibt viele verschiedene Facetten.“
In Oberammergau lernt er
Christian Stückl kennen – und
beginnt eine Lehre am Volkstheater
Aufgewachsen in Iran und in Afghanistan, hat Morteza Nikqadam dort bereits als Schneider gearbeitet und „viel mit Kostümen und Klamotten zu tun gehabt“. In seiner Heimat hat er Hegel, Marx und Nietzsche gelesen – um Wahrheit zu finden, wie er es nennt. Denn dort könne man keine kritischen Fragen stellen. Einige Gedanken aus diesen Texten habe er mitgenommen. 2012 ist er aus Masar-e Scharif geflohen – vor Terrorismus, Taliban und Kriminalität.
Im Juni 2014 kam er nach knapp zwei Jahren auf der Flucht in Deutschland an. Die ersten drei Monate verbrachte er in der Bayernkaserne, dann geht es in eine Flüchtlingsunterkunft in Bad Kohlgrub bei Oberammergau. 2015 war er beim Kultur- und Theatersommer des Passionstheaters in Oberammergau dabei. Giuseppe Verdis Oper „Nabucco“ steht auf dem Spielplan, innerhalb von zwei Monaten müssen die Mitarbeiter Kostüme für rund 700 Statisten fertigen – Morteza Nikqadam mittendrin. Und Christian Stückl bietet ihm als Intendant des Münchner Volkstheaters eine Ausbildung zum Herrenmaßschneider an bei ihm im Haus. Anfang 2019 schließt er die Ausbildung ab und wird übernommen.
Abgeschlossen sind die Dreharbeiten für die zweite Folge der Sitcom noch nicht. Während Linus Einsiedler, ebenfalls Darsteller in dieser Sitcom-Folge, für die Kamera sein bayerisches Frühstück zu Ende bringt, wartet ein junger Mann in Badehose und Adiletten auf seinen Einsatz. Seine Rolle in der Sitcom: Er denkt, dass die Freunde zusammen auf eine Wiese gehen – den Tag also an einem Badesee verbringen. Den Unterschied zwischen Wiesn und Wiese hat er nicht verstanden.
Letzter Probedurchlauf, da stoppt der Kameramann: „Vamos a la playa“ anzustimmen, biete sich in der Szene zwar an, könnte aber zu rechtlichen Problemen führen. Unverständnis bei dem Darsteller und Morteza Nikqadam, der die Szene koordiniert: „Echt? Das ist wohl Deutschland.“ Schließlich einigen sie sich auf „Vamos a la Wiesn“.