Von Louis Seibert
Vincent Schneuing, 22, und Joshua Goodman, 26, haben einen Wohnwagen in eine begehbare Kamera umgebaut. Damit machen sie Bilder von Orten, die stark vom Wandel betroffen sind.
Gut sechs Quadratmeter misst das vielleicht kleinste Fotolabor Münchens. Wenn es sich überhaupt in der Stadt befindet. Es steht auf Rädern. Eingebaut in einen alten Wohnwagen. Beim Betreten fallen zuerst die zwei säuberlich gereinigten Tische mit großen Plastikwannen und eine rot leuchtende Lampe auf. Große Kübel mit Chemikalien stehen daneben. Der kleine Kühlschrank ist prall gefüllt mit Lösungsmittel und Fotopapier. Gekocht wurde hier schon lange nicht mehr. Die Fenster des Wagens sind lichtdicht abgedunkelt. An drei Wänden wurde jeweils ein Loch installiert, weinkorkengroß. Das kleinste Fotolabor Münchens ist zugleich eine begehbare Kamera.
Von außen gesehen glaubt man kaum, dass dieser Wohnwagen von Vincent Schneuing, 22, und Joshua Goodman, 26, zu einem „Raum für visuelles Experimentieren“, wie sie es gerne nennen, transformiert wurde. „Das ist ja das Faszinierende an der ganzen Sache. Aus fast allem kannst du eine Kamera bauen“, sagt Vincent. Seit vergangenem Sommer erforschen Joshua und er die Phänomene Licht und Raum. Sie nennen ihr Projekt Contrastpunkt.
Dafür reisen sie mit ihrem Fotolabor mehrere Monate lang durch Deutschland, Polen und die Slowakei. Mit dem Wohnwagen fotografierten sie Orte, die stark vom Wandel betroffen sind. „Für uns war das ganz wichtig, diese Veränderungen zu dokumentieren“, sagt Vincent. So waren sie zum Beispiel in einem ehemaligen Braunkohlerevier, dem ein halbes Dorf zum Opfer gefallen ist. Sie beobachten aber auch Kulturprojekte wie das Kreativquartier, die sich ständig verändern und auf eine unsichere Zukunft blicken müssen. Zusätzlich leiten Vincent und Joshua Workshops. Oder sie stellen ihr Fotolabor in den öffentlichen Raum. Sie gehen auf fremde Menschen zu. „Licht ist etwas scheinbar so Banales. Wir möchten die Menschen an diesem Phänomen teilhaben lassen. Einen Impuls geben, sich Zeit zu nehmen und sich davon überraschen zu lassen“, erzählen sie.
Möchte man die Faszination der jungen Münchner für ihr Metier nachvollziehen, so steigt man mit ihnen in die Zeitmaschine. So haben sie eine ihrer selbstgebauten Konstruktionen genannt. Eine kleine abgedunkelte Kammer, die von außen ein bisschen so ausschaut wie ein Ufo. Durch ein winziges Loch dringt Licht hinein. An der Wand, auf der Kleidung und am Körper spiegelt sich plötzlich die Außenwelt wieder, kopfüber und spiegelverkehrt. „Wir können das Licht nicht berühren. Und doch sind wir immer davon umgeben“, sagt Joshua. Seine Stimme wird ganz dünn vor Begeisterung. Unter dem Vollbart zeichnet sich ein ruhiges Lächeln ab. Die Zeitmaschine stand bereits in Fußgängerzonen, auf Festivals und in Skatehallen. „Die Leute gehen darin teilweise richtig auf, wenn sie entdecken, wie vielseitig Licht sein kann“, fügt er noch hinzu.
Entstanden ist die Idee für das Projekt bei einem Fachkurs in Joshuas Kunsthochschule, für den er aus einer Blechdose eine Kamera bauen sollte. „Später kam dann die Idee auf, einen ganzen Raum zur Kamera zu machen“, sagt er. Da Raum in München allerdings ein seltenes und auch teures Gut ist, sahen er und Vincent sich nach Alternativen um. Und schon hatten sie einen Wohnwagen zum mobilen Fotolabor umgebaut. Die Idee kam ihnen nicht verrückt oder abwegig vor. Einfach praktisch.
Da ihr Labor beweglich ist, platzieren die beiden Münchner ihren Wagen gerne bewusst dort, wo er auffällt. Am Gasteig etwa. Auf Parkplätzen. Vincent nennt das „Intervenieren im öffentlichen Raum“. Sie sehen sich und ihre Kunst als Hebel, um Denkanstöße in der Gesellschaft einzuleiten. „Du bist dein eigener Lehrer. Viele Leute erfahren bei uns, wie es ist, ohne Druck zu arbeiten“, sagt Joshua. Mit etwas ungekämmten Haaren und den weiten Klamotten strahlt er dabei selbst jene Ruhe aus, die im hektischen Alltag vieler Menschen zu fehlen scheint.
Dieser Alltag werde inzwischen stark beeinflusst durch digitale Handykameras. Einer permanenten visuellen Reizüberflutung. Genau hierin liege die Stärke der analogen Fotografie, davon sind die beiden Aussteiger-Künstler überzeugt. Für ein analoges Foto müsse man sich deutlich mehr Zeit nehmen, ein Bewusstsein für Helligkeit und Bildkomposition entwickeln. „Wenn wir zum Beispiel mit dem Wohnwagen fotografieren, müssen wir die Blende erst ausrechnen“, sagt Vincent. „Dafür eröffnen sich uns ganz neue Möglichkeiten des Experimentierens“, fügt er hinzu.
Experimentieren. Dieses Wort nimmt er oft in den Mund, wenn er beschreiben möchte, wozu er mit einer Technologie arbeitet, die bereits totgesagt schien, nun aber eine beträchtliche und berechtigte Renaissance erfährt. Auch dank neuer künstlerischer Ansätze wie den der beiden Münchner.
Den Ideen, die die Künstler von Contrastpunkt zusammentragen, geben sie fantasievoll anmutende Namen. Joshua spricht etwa von „Lichterholungsgebieten“, an denen jeder einfach selbst experimentieren soll. Umgerüstete Overheadprojektoren mit flüssiger Farbe stellten sie bereits auf Konzerten oder einfach an Hauswänden auf. Es liegt etwas Radikales in der Art, mit der sich die Ideen der jungen Münchner auf den Raum auswirken, in dem sie praktiziert werden. Kunst, die von fast starrem Idealismus geprägt wird. Und sich dennoch wohl kaum als naiv brandmarken lässt.
Dafür lassen sie sich vor allem von ihrer Umwelt inspirieren. „Auf unserer Reise sind wir immer wieder auf Orte gestoßen, die durch die Braunkohleindustrie massiv verwandelt wurden“, erzählt Vincent. Er ist der Stürmischere der beiden. Bewusst politisch. Wenn er später von ihrem Besuch im Hambacher Forst erzählt, dann schwingt vor allem Solidarität mit den Aktivisten mit. Den Wald wollten sie unbedingt vor seiner drohenden Rodung auf Fotopapier festhalten.
Er beschreibt dann auch andere Orte, die durch den Kohleraubbau zerstört wurden. Verlassene Bergtäler in Slowenien. Künstliche Urlaubsstimmung am Zwenkauer See, ein früherer Tagebau bei Leipzig. Halb verschüttete Dörfer. Mit der Wohnwagen-Kamera fotografieren sie. Und sie stoßen immer wieder auf neue Orte. Jetzt planen sie eine Ausstellung mit den dabei entstandenen Bildern. „Das ist alles ganz aktuell“, sagt Joshua. Sie hoffen, auf diese Weise viele Menschen für das Thema sensibilisieren zu können. Einen Ort dafür haben sie noch nicht gefunden. „Wir sind allerdings ganz gut vernetzt in München“, sagt Vincent.
Auch Joshua fühlt sich weiterhin eng mit der Stadt verbunden. Auch wenn er seit zwei Jahren in Weimar Kunst studiert. „So richtig habe ich München bis heute nicht verlassen“, sagt er.
Als sich das Freiraumprojekt „Kulturjurte“ vor einigen Jahren aufgelöst hatte, sei er einfach „sehr traurig“ gewesen. Dort lernte er auch Vincent kennen. „Dann war der Moment gekommen, etwas Neues auszuprobieren.“
Experimentieren werden die Foto-Aktivisten in Zukunft einiges, wenn es nach ihren Wünschen geht. „Wir wollen jetzt endlich unseren Blog starten“, sagt Vincent. Und es soll weiterhin Begegnungen im öffentlichen Raum geben. Die Spontaneität ist ihnen wichtig. Da die Zukunft des Kreativquartiers, in dem ihr Wohnwagen steht, vorerst auf sicheren Beinen zu stehen scheint, wollen sie auch weiterhin in München aktiv sein. Doch auch dieser Freiraum ist nur befristet. Und sollte das Gelände, dem sich die beiden so verbunden fühlen, eines Tages geräumt werden? „Das wäre wirklich schlimm“, sagt Vincent. Ein Umzug fiele ihnen hingegen nicht schwer. Zum Glück steht Münchens kleinstes Fotolabor auf Rädern.
Foto: Contrastpunkt