Band der Woche: Chaem

Chaem macht schwer einzuordnende Musik: irgendwo zwischen Singer/ Songwriter, Drum’n’Bass und ins psychedelisch gehendem Pop bewegt sie sich musikalisch. Fest steht jedenfalls: damit ist sie absolut einzigartig in München.

In den Neunzigerjahren war vieles viel einfacher. Der Informationsfluss war – in dieser Prä-Internet-Zeit – langwieriger und kleiner. Deshalb setzten sich verschiedene Genres und Stilistiken der Popmusik viel fester und konsequenter durch. Musikstil und Künstler waren dadurch herrlich leicht einzuordnen. In den vielfältig durchmischten und viel schnelllebigeren Stilformen der heutigen Popmusik gibt es solche Ordnungen nur noch selten. Die Neunzigerjahre aber waren auch in der Popmusik so planbar wie ein Bausparvertrag. Eine dieser stilistischen Pop-Konstanten, die heutzutage völlig verschwunden sind, sind die singenden und alternativ-songwritenden Frauen: Heather Nova, Aimee Mann, Fiona Apple, Alanis Morissette oder PJ Harvey. Die machen zwar zum Teil heute auch noch Musik, damals erfüllten sie aber noch eine andere Funktion in den Vermarktungsstrategien einer noch intakten Industrie: Sie waren – ein bisschen alternativ, aber dennoch zugänglich – das Äquivalent zu den leidenden Männern der Grungebands. Heute gibt es die nicht mehr. Die letzte, die eine solche Songwriterin werden sollte, war das Skater-Girl Avril Lavigne. Und von der existiert heute nur noch die seltsame Verschwörungstheorie, sie sei irgendwann gestorben und durch eine Doppelgängerin ersetzt worden.

Doch am Rande der Münchner Popszene tauchte jüngst eine Sängerin auf, die diese Songwriterinnen-Ästhetik in die Gegenwart transferiert – und zwar nicht dadurch, dass sie sich eine Gitarre schnappen und einen auf Neunziger-Retro-Girl machen würde. Chaem trägt viel mehr Talent, Aussagewillen und vor allem Lust an neuer Musik vor sich her. Etwas, das die aktuelle Musik von PJ Harvey und Fiona Apple immer noch so interessant macht. Chaem ist am Ammersee aufgewachsen ist, „mitten in der Pampa“, wie sie es ausdrückt, und dementsprechend hatte sie viel Zeit für kompositorische Experimente. In diversen Bands hat sie dann in der Jugend auch schon gesungen, zuletzt bei den Postrockern Flor and the Sea. Doch sie habe eine gewisse künstlerische Eigenheit, die sie in ihrem Soloprojekt viel kompromissloser ausleben könne, erklärt sie. Ihre eher raue Stimme besticht dabei durch einen weiten Umfang und bricht sich an einer gewissen kompositorischen Hemmschwelle vor all zu offensichtlicher Zugänglichkeit. Exemplarisch zeigt sich das in der Single „Carousel“. Ein hüpfender Up-Tempo-Song, der sich aber der suggerierten Ausgelassenheit doch nie ganz hingeben will und immer wieder melancholisch verschattet wirkt. 

„Carousel“ ist auch der Titeltrack ihrer ersten EP, die Chaem gerade veröffentlicht hat. Und die zieht erstaunlich weite Kreise, wird etwa vom irischen Blog „Overblown“ hymnisch gelobt. Die Versponnenheit der Musik, das vereinzelte Klavierspiel und Texte, die latent ins Psychotische kippen, etwa, wenn der Song „Munich“ sich irgendwann auf den nihilistischen Satz „Happy to forget my name“ fokussiert, erinnern tatsächlich an Fiona Apple. Die darunter liegenden modernen und zeitgenössischen Drum ’n’ Bass-Beats hat Chaem dabei gezähmt und ganz zärtlich zu den harmonisch suchenden Akkord-Welten hinzugefügt. Eine Mischung aus dem seltsam narrativen Stil einer Joanna Newsom und der musikalisch erhabenen Schönheit von The Notwist kommt dabei heraus, die wenig nach München klingt. Die Münchner Szene aber hält Chaem, die auch mit den Neoklassik-Musikern Carlos Cipa und Dieter Dolezel zusammenarbeitet, ihrer Vielschichtigkeit und unkonventionellen Art wegen für unterschätzt.

Stil: Art-Pop
Besetzung: Chaem (Produktion, Songwriting, Gesang)
Aus: München
Seit: 2014
Internet: www.chaem.net

Text: Rita Argauer

Foto: Christin Büttner