In der Reihe „Unikate“ stellen wir in loser Folge Studentinnen und Studenten vor, die spannende Abschlussarbeiten geschrieben haben. Diesmal: Anna Rai kreierte Mode zur Nuklearkatastrophe in Tschernobyl
Nur wenn sich historische Ereignisse runden, wird über einschlagende Momente der Geschichte gesprochen. Das empfindet Anna Rai, Modedesign-Absolventin der AMD, Hochschule für Mode und Design München, als falsch. Im Frühjahr vorigen Jahres kreierte sie für ihre Abschlussarbeit die Kollektion „904“ zum Thema Tschernobyl, 34 Jahre nach der Nuklearkatastrophe. Damit will sie den Opfern und Überlebenden gedenken, aber auch ihre eigenen Erlebnisse verarbeiten. Anna selbst wuchs in Malyn auf, einem verseuchten Gebiet nicht weit der Katastrophe. Davon hat sie sich in der Arbeit an ihrer Kollektion leiten lassen. „Es war schwierig, so ein komplexes und schlimmes Thema in Mode umzusetzen“, sagt Anna, doch ein Aspekt erschien ihr wichtig: das Graue.
„Alle Menschen sollten gleich sein in der Sowjetunion, wie eine graue Masse, niemand durfte Emotionen zeigen“, sagt Anna.
Diese Emotionslosigkeit zeigt sich auch in den Gesichtern der Models, mit denen sie ihre Kollektion inszenierte. Fotografiert in einem alten Feuerwehrzug, tragen sie lange, kantige Mäntel im Militärstil, weiße Kleider, die an Krankenschwestern erinnern, aber auch Feldmützen, von sowjetischen Soldaten „Pilotka“ genannt. Auffallend sind auch die Farben, die Anna sehr bewusst gewählt hat. Schwarz als Symbol der Trauer, Rot, das die Sowjetunion und ihre Flagge repräsentiert. Weiß stehe für das medizinische Personal. Und Grau für die „Gesichtslosigkeit des Menschen“. Inmitten der düsteren Farben sticht ein zarter Blauton hervor, dieser soll Hoffnung geben: „Ich habe versucht, einen positiven Aspekt zu finden. Dass wir als Menschen aus der Katastrophe lernen und in Zukunft nicht die gleichen Fehler machen“, sagt Anna. Der Hoffnungsgedanke spiegelt sich im Namen der Kollektion: Vier Wochen nach der Katastrophe fand ein Wohltätigkeitskonzert statt, das hatte es so noch nie in der Sowjetunion gegeben. Der Hilfsfonds, in welchem die Spenden gesammelt wurden, trug den eher nüchternen Namen: „Konto Nr. 904“.
Zehn Monate arbeite Anna an ihrer Kollektion, flog dafür zweimal in die Ukraine. Im Nationalmuseum von Kiew sammelte sie Bilder und Bücher, in Korosten, wo auch ihre Mutter lebt, nahm sie das Fotoshooting auf. Angst, dass Mode zu oberflächlich sein könnte für eine Katastrophe, hat Anna aber nicht: „Wäre ich eine Schriftstellerin, würde ich natürlich ein Buch schreiben, wäre ich eine Filmemacherin, würde ich eine Dokumentation machen. Aber ich bin eine Designerin und Künstlerin, das sind die Methoden, die ich kenne.“
Von Lisa Miethke