Ein Fremder ist nur ein Freund, den du noch nicht getroffen hast. Selten spüren wir das so intensiv wie auf Sommerfreizeiten. Genau dort hat unsere Autorin Aisha kennengelernt. Über die Entstehung einer besonderen Freundschaft.
Wir stehen am Bahnhof. Ich habe Aisha noch zu ihrem Gleis
gebracht, weil ihr Zug früher fährt als meiner. Jetzt warten wir. Sie erzählt,
dass ihr Bruder sie dann vom Bahnhof abholt. Und ich so: Du hast einen Bruder?
Hast du eigentlich noch andere Geschwister? Was machst du eigentlich so in
deiner Freizeit? Und dann fangen wir an, über Geschwister und Haustiere und
Hobbies zu reden. Dinge, über die man normalerweise im ersten
Smalltalk-Gespräch redet. Dinge, die wir alle noch nicht voneinander wussten.
Da standen wir nun also und führten kurz vorm Abschied unser erstes Gespräch
über die Realität, in die wir jetzt beide fahren würden.
Zwei Wochen lang hatten wir uns da schon gekannt. Zwei
Wochen, die wir auf einer Sommerfreizeit zusammen mit 50 anderen Jugendlichen
aus der ganzen Welt verbrachten.
Aisha begegnete ich gleich am Anfang: Beim ersten
Kennenlern-Spiel. Da war sie noch zurückhaltend und still. Und ich lernte nur,
dass sie aus Italien kam und ihr Lieblingsessen Pizza war. Dann stellte sich
raus, dass wir in nebeneinander liegenden Zimmern wohnten. Und beim ersten
Abendessen überlegten wir zusammen, wie wohl unsere noch nicht angekommenen
Zimmermitbewohnerinnen sein würden. So viel Zeit verbrachten wir ab da
miteinander und schnell war sie nicht mehr die zurückhaltende sondern die
aufgedrehte, fröhliche Aisha. Oft gingen wir zusammen in den Garten und ich
schaute ihr dabei zu, wie sie vergeblich versuchte in die Hängematte dort zu
klettern, die sehr wacklig über dem Bach angebracht war. Wir liefen zusammen
zum Supermarkt, ich übersetzte und half ihr die richtigen Sachen zu finden und
dann daraus Pizza zu backen. Wir saßen draußen in der Sonne und alberten herum.
Denn mit Aisha konnte man immer lachen. Wir gingen zusammen Second-Hand-Shoppen
und probierten viel zu große Männerjeansjacken an. Sie lackierte mir die Nägel,
schminkte mich. Sie tröstete mich, als ich traurig war: redete mit mir, umarmte
mich. Ich wartete nachts noch lange auf sie, als sie wegen einem kleinen Unfall
im Krankenhaus war und kümmerte mich dann um sie. Wir diskutierten, wir
redeten, wir lachten.
Wir waren wie in einem anderen Universum, in einer eigenen
Welt. Wir unterhielten uns nicht über die Realität außerhalb. Vielleicht weil
wir wussten, dass wir früh genug in sie zurück kehren mussten. Das ging wohl Allen
so und trotzdem war es mit den anderen anders. Mit ihnen hatte ich über ihr
Leben, über mein Leben geredet. Aber mit Aisha hatte ich so viel geredet, so
viel erlebt, so viel gelacht; unser Leben vor diesen zwei Wochen war unwichtig,
wir waren da. Über was davor war redeten wir erst beim Abschied. So viel habe
ich in diesen zwei Wochen gelernt. Vermutlich hätte ich davor noch nicht mal
gedacht, dass man in zwei Wochen, überhaupt Freundschaften schließen kann. Und
dann auch noch eine so besondere.
Text: Mariam Chollet
Foto: Yunus Hutterer