Die Stimme der anderen

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Wie vertont man Zungenküsse? Maresa Sedlmeir, 23, ist Synchronsprecherin.
Seit Donnerstag ist sie in „Midnight Sun – Alles für dich“ zu hören

Die Teetasse steht auf dem Küchentisch, im Hintergrund macht die Waschmaschine Lärm. Mit angezogenen Beinen sitzt eine junge Frau mit blonden, schulterlangen Haaren und einem Lächeln auf den Lippen auf einem Stuhl. „I am who I’m meant to be, this is me“, singt Maresa Sedlmeir, 23, und breitet die Arme aus. „Look out ’cause here I come and I’m marching on to the beat I drum.“ Dann lacht sie fröhlich und sagt: „Ich habe vor kurzem ‚The Greatest Showman‘ gesehen und bin so ein bisschen aus dem Häuschen.“

Maresa ist Synchronsprecherin und steht täglich mehrere Stunden im Studio und leiht Schauspielerinnen ihre Stimme. Bella Thorne zum Beispiel. Gerade ist „Midnight Sun – Alles für dich“ im Kino angelaufen. Von Animes über Horrorfilme und Thriller bis hin zu Dramen und Komödien – das alles kann die junge Frau, die seit ein paar Jahren in München wohnt, in ihrem Portfolio vorweisen. Schließlich synchronisiert sie seit mehr als zehn Jahren Filme und Serien. Als Maresa neun Jahre alt war, wurde sie von Synchronsprecherin Inez Günther, eine Freundin ihrer Mutter, ins Studio mitgenommen. Für die Kinderserie „Franklin“, in der es um eine Schildkröte geht, sprach sie eine kleine Rolle – der Beginn ihrer Karriere.

Die Texte, die Maresa sprechen muss, sind in kleine Sequenzen unterteilt, die man Takes nennt. Meistens enden Takes, wenn die Schauspielerin eine Pause macht. Das kann ein Atmer, aber auch ein sehr langer Satz sein. Da es meist kurze Sätze sind, lernt Maresa sie auswendig. „Ich gucke es mir erst auf Englisch an und dann den deutschen Text“, erklärt die 23-Jährige. „Dann sage ich den Text trocken vor, danach läuft der Take ab und ich spreche das drauf.“ Sie versucht den Text genau in dem Rhythmus der Schauspielerin zu sprechen und perfekt in der Zeit zu sein. Dabei gibt es aber Einiges zu beachten: „Du kannst diesen Text nicht einfach ablesen und ihn spielen, sondern du musst auf den Mund gucken“, sagt Maresa. „Wann geht der Mund zu, wo verzögert die Person, wo stottert sie?“ Für die Synchronsprecherin ist es am wichtigsten, die Person, die spricht, wahrzunehmen – die Stimme, das Gesicht und die Gesten: „Ich versuche einfach immer zu sehen, was diese Person gerade machen wollte, was sie transportieren will und wie ich das dann durch meine Stimme auch mitgeben kann. Ich gucke dazu immer auf den Bildschirm, mach dieselben Gesten wie die Figur, versuche so wie die Figur zu gucken und das auch zu spielen.“

Ihre erste große Rolle hatte Maresa in der Disneyserie „Liv und Maddie“, in der es um Zwillinge geht, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Da die Zwillinge von derselben Schauspielerin, Dove Cameron, gespielt wurden, spricht im Deutschen auch Maresa beide Rollen. An ihre erste Szene erinnert sie sich stark zurück: „Da haben sie sich einfach unterhalten und da habe ich quasi erst die eine und dann die andere gesprochen und die werde ich nie vergessen.“ Sie wechselte nicht von Take zu Take zwischen den Schwestern, sondern synchronisierte erst eine und dann die andere. „Ich habe versucht, es vom Original abzunehmen und das kommt ehrlich gesagt auch so ein bisschen raus“, sagt Maresa und spricht von einer Sekunde auf die andere mit einer hohen, trällernden Stimme weiter: „Also eine coole Basketballerin würde nicht so sprechen.“ Genauso schnell wechselt sie zu einer lässigen, tiefen Stimme: „Und ein Model würde auch nicht so reden. Es ist eine Gefühlssache.“

Nicht nur Gefühle muss Maresa mit ihrer Stimme transportieren können, sondern sie muss auch Kuss- und Sexszenen machen. Da sie häufig ohne Synchronsprecherkollegen ihre Rolle einspricht, hat sie keinen Partner, den sie küssen könnte. „Das ist dann sehr lustig“, sagt Maresa und lacht. Überhaupt lacht sie sehr oft und scheint ein sehr fröhlicher Mensch zu sein. „Neulich habe ich zusammen mit einem Kollegen gesprochen, das hat man früher viel öfter gemacht. Wir standen da und haben beide unsere Hand geküsst. Das ist dann auch komisch, wenn man Lippenbewegungen nachmacht und mit der Zunge küsst.“ Ein Schmatzer in die Luft würde nämlich ganz anders klingen als ein echter Kuss. Auch Sexszenen synchronisiert Maresa in ihrem Kämmerchen: „Ich stöhne dann vor mich hin, neben mir sitzt ein Cutter und hinter der Scheibe sind Regisseur und Tonmeister. Ich versuche das, so authentisch wie möglich hinzukriegen. Mir ist auch nicht so schnell etwas peinlich. Ich bin so ein bisschen eine Rampensau, dass es mir dann egal ist, ob ich unangenehme Szenen mache oder nicht.“

Je öfter eine Synchronsprecherin eine Schauspielerin im Deutschen synchronisiert, desto sicherer ist es, dass man diese Person immer spricht. Bei Maresa Sedl-meir ist das nicht nur Dove Cameron, sondern auch Bella Thorne. Vor kurzem hat sie Bella Thorne in dem Liebesfilm „Midnight Sun – Alles für dich“, der gerade in die Kinos gekommen ist, im Deutschen ihre Stimme geliehen.

Den Film in der deutschen Fassung zu schauen, kommt für Maresa nicht infrage: „Oh nein, das ist schrecklich! Das kann ich gar nicht! Da sehe ich leider immer nur: ‚Oh Gott, wie hast du denn das gesprochen?!‘ und ‚Oh, das hättest du mal lieber so gemacht!‘ Manchmal gucke ich mir es an, um zu sehen, wie das Gesamtding geworden ist, weil ich auch nur meine Szenen gesehen habe, aber das fällt mir ganz schwer.“

 Alle außer ihren Eltern sind Schauspieler. Ihr Bruder Paul und ihr Onkel Christian Tramitz spielen aktuell in der Vorabendserie „Hubert und Staller“, ihre Tante und ihr Bruder sind am Theater. „Ich bin da auch nicht so kritisch und finde meine Familienmitglieder die Besten“, sagt Maresa und lacht – passend zu ihrem schwarzen, übergroßen Pulli, auf dem ein weißer Smiley abgebildet ist. Schon immer war die 23-Jährige an Theater und Film interessiert. Sie hat zwar selbst auch mal Theater gespielt, das hat ihr aber nie so gut gefallen wie das Synchronsprechen. „Mich stört es gar nicht, in den Hintergrund zu treten“, sagt Maresa und spielt mit den zwei dünnen, schwarzen Haargummis an ihrem Handgelenk. „Vor allem kann ich in Jogginghose ins Studio gehen und trotzdem eine Frau im Ballkleid sprechen.“

Foto: Florian Peljak

Text: Lena Schnelle

Rollenspiele

Tim Schwarzmaier, Katharina Schwarzmaier und Lea Kalbhenn sind als junge Synchronsprecher gut im Geschäft, vor allem wegen ihrer Kontakte. Für die Zukunft müssen sie aber auch über andere Berufsfelder nachdenken.

Es ist eine Filmszene, die im ersten Moment nur mäßig lustig ist: Eine junge Frau namens Rosie fragt eine andere nach deren Bruder Alex. „Der kommt in circa drei Minuten“, antwortet die Schwester gelangweilt. Lautes Stöhnen dringt kurz nach diesem Satz durch die dünnen Zimmerwände. Auf Rosies Gesicht spiegelt sich die Erkenntnis, was genau in drei Minuten passieren sollte, der Holzhammer drischt den Witz in die Köpfe der Zuschauer.

Die viel skurrilere Situation aber liegt tiefer in der Sequenz aus der aktuellen Romantikkomödie „Love, Rosie – Für immer vielleicht“ und war von den Drehbuchschreibern nicht beabsichtigt: In der deutschen Synchronisation wird die männliche Hauptfigur Alex von Tim Schwarzmaier, 24, gesprochen, seine Geliebte von seiner Schwester Katharina Schwarzmaier, 29. Und die Rolle von Alex’ Schwester, die die beiden beim Liebesspiel belauscht, übernimmt Lea Kalbhenn, 24, Tims Freundin im echten Leben. Ein verwirrendes Verwechslungsspiel in Shakespeare-Manier, geschrieben von der Vetternwirtschaft des deutschen Synchrongewerbes. Was absurd klingt, ist aber tatsächlich kein Einzelfall: „Auch in der aktuellen Serie ,Suburgatory‘ bin ich als Lisa mit Tim zusammen“, erzählt Katharina Schwarzmaier, „das passiert öfter.“

Eine – von privaten Hochschulen angebotene – Ausbildung zum Synchronsprecher haben alle drei nie gemacht– hauptberuflich im Job tätig sind sie trotzdem. Den Geschwistern Schwarzmaier ermöglichte ihr Vater den Zugang zur Welt der Filmsynchronisation. Schon im Kindesalter schickte der Schauspieler und Sprecher Michael Schwarzmaier seine drei Kinder zu den ersten Castings – nicht ungewöhnlich in der Szene.

Geschätzt 80 Prozent der erfolgreichen Synchronsprecher unter 30 sind über ihre Familie eingestiegen, ob die Verwandten nun Regisseure, Cutter oder selbst Sprecher sind. „Familienkontakte sind immer noch zu beobachten“, bestätigt Martin Schowanek, Betreiber der Deutschen Synchrondatei. „Es lässt sich konstatieren, dass Beziehungen sehr wichtig sind.“ Auch bei der Rollenvergabe ist ein Netzwerk von Vorteil: „Es ist eine Mafia“, wie es Tim ausdrückt. „Man ist sozusagen in der Familie drin. Die haben eine Rolle und überlegen sich: Wer könnte passen? Und natürlich denken sie als erstes an Leute mit Erfahrung, die sie kennen – erst recht bei Hauptrollen.“

Mit vielen gleichaltrigen Sprechern aus „Synchronfamilien“ sind die Geschwister in der familiengeprägten Szene so zusammen aufgewachsen. Bis heute hat sich ein Großteil ihres Freundeskreises aus beruflichen Kontakten von klein auf entwickelt. Nicht selten spricht man mit dem besten Freund für dieselbe Rolle vor. Tagsüber ist man also Konkurrenz, abends geht man zusammen trinken.

Mit 24 Jahren kann Tim Schwarzmaier nun bereits auf 19 Jahre als Synchronsprecher zurückblicken, in denen er 185 verschiedenen Protagonisten in Spielfilmen und Serien seine Stimme geliehen hat. Seine Schwester kommt auf 83. Als Kind trat er mit Rollen bei „Unser Charlie“ und in Werbeproduktionen auch kurzzeitig in Papas Fußstapfen als Schauspieler. „Ich habe zum Beispiel für bayerischen Käse Werbung gemacht – obwohl ich Käse hasse. Ich war eben jung und brauchte das Geld“, erzählt Tim und lacht. Das Käsebrot spuckte Tim nach jeder Aufnahme hinter den Zaun. Die Werbeauftritte verboten ihm die Eltern in der Mittelstufe, damit er sich wieder ausreichend auf die Schule konzentriere. Nur einzelne Synchronaufträge wurden nicht geblockt, um in Übung zu bleiben.

Tims bis heute bekannteste Sprechrolle ist die als weltberühmter Zauberlehrling Harry Potter. Ausgewählt hat ihn im Casting sogar J.K. Rowling persönlich. Zaubersprüche aufsagen konnte er jedoch nur für zwei Filme: „Daniel Radcliffe war zwei Jahre älter als ich und hat dann plötzlich pubertiert – ich aber nicht. Also musste die Stimme leider angepasst werden“, erklärt Tim. Tims Erfolg hat das aber keinen großen Abbruch getan: Von Disney-Produktionen wie „Das Dschungelbuch“ und „High School Musical“ über eine langjährige Hauptrolle in „Pokémon“ bis „How I Met Your Mother“ sind Tims Aufträge mit ihm gereift. In der Serie „Game of Thrones“ übernahm er kürzlich sogar zwei verschiedene Rollen: „Meine Figur vom Beginn kam in der zweiten Staffel nicht mehr vor, in der dritten Staffel dafür ein Schauspieler, den ich in anderen Produktionen schon gesprochen habe. Und plötzlich tauchte die Figur vom Beginn wieder auf und ich habe beide zeitgleich gesprochen, einmal sogar in der gleichen Folge!“

Auch Katharina Schwarzmaier hat sich schon quer durch die Fernseh- und Kinolandschaft gesprochen. Für sie ist es ihr „Traumjob“, aber nur, wenn man viel zu tun hat. Die Aufträge und Castingeinladungen werden über die Aufnahmeleiter vergeben. In deren Gedächtnis muss man sich also festsetzen, ein langwieriger und konservativer Prozess.

Man muss „Klinken putzen“, sagt Berufsneuling Lea Kalbhenn. Ihre Aufträge werden nach einem Jahr harter Arbeit nun langsam mehr – davon leben kann die 24-Jährige aber noch nicht. Was sonst in Fernsehen und Radio oft als Makel abgetan wird, half Lea, in der Branche einzusteigen. Ihr Markenzeichen: wasserfallartig-schnelles Reden. Zuvor war sie Laienschauspielerin und Fernsehmoderatorin für „Pokito TV“ und „The Dome“. Über ihre Schauspielagentur kam sie zum ersten Synchron-Vorsprechen für die Disney-Serie „Phineas und Ferb“ – für eine Nebenrolle gecastet, ergatterte sie die weibliche Hauptrolle: Phineas Schwester Candace, ein Plappermaul. Mittlerweile taucht Lea Kalbhenns Stimme in 28 Serien und Filmen auf. In „Annie“, der im Dezember in den Kinos anläuft, auch erstmals eine Musicalrolle.

Leas Karriere beginnt spät. Zu spät? Die meisten Rollen sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Je älter man wird, desto weniger gibt es zu tun. Wer dann noch mit Sprechen sein Geld verdienen will, muss meist umdenken. Synchronbücher zu schreiben und schließlich Synchronregisseur werden, ist etwa für Tim eine Zukunftsidee. Seine Schwester setzt auf die Schauspielerei. Und Lea hat Medienmanagement studiert – vielleicht nicht so spannend, aber garantiert ohne Verwechslungsgefahr. Elisabeth Kagermeier