Zeichen der Freundschaft: Analog connected

image

Seitdem der technikverweigernde Jugendfreund unseres Autors nach Leipzig gezogen ist, herrscht so gut wie Funkstille zwischen den beiden. Trotzdem schaffen sie es, ihre Freundschaft am Leben zu halten – durch eine eher analoge Herangehensweise.

Er ist mehr Neandertaler als Weltenbürger des 21. Jahrhunderts. Einen
Computer besitzt er nicht, auch keinen Laptop, geschweige denn ein Tablet oder
ähnlich smarte Scheiben. Sein Mobilfunkgerät stammt noch aus Zeiten, in denen
dieser altertümliche Begriff noch üblicher war als das Wort Handy oder gar
Smartphone. Aus einer Zeit weit vor der Erfindung des World Wide Web. Einen
Festnetzanschluss besitzt er auch nicht, und somit bleibt im Grunde nur der
Briefkasten als Pforte zur Außenwelt.

Und auf den
bin ich im Fall meines Freundes Philipp ziemlich angewiesen, um mit ihm nur
irgendwie in Kontakt zu bleiben. Denn er ist weggezogen, nach Leipzig, um dort
seinen Weg als Theaterschauspieler zu machen.

Damals,
bevor er aus meinem Leben so plötzlich verschwand, wie die Sonne hinter den
Wolken an einem windigen Oktobertag, taten wir beide nie viel um uns zu sehen.
Es geschah einfach. Man traf sich zufällig im Viertel und ging spontan Eis
essen. Man sah sich auf Jamaram-Konzerten, zu denen eh der gesamte
Freundeskreis pilgerte. Man klingelte mal schnell an die Haustüre, wenn man
gerade zu hochgradig lebensentscheidenden Themen einen engen Vertrauten brauchte.
Wie viele laue Sommernächte verbrachten wir gemeinsam an den verschiedensten
Lagerfeuern dieser Welt. Mal ganz stumm, jeder für sich in den Bann des Meeres
aus Flammen, Glut und Funken gezogen. Mal lauthals johlend: „Country roads,
take me to my sweet home Alabama, on a stairway to heaven“. Er über seine
Cajon, ich über meine hoffnungslos verstimmte Gitarre gebeugt. Unendlich
glücklich. Und wissend, dass auch diese Phase unseres Lebens mal vorbei sein
wird.

Kennengelernt
hatten wir uns mit 14 in der Konfirmationsgruppe, in einer Phase voller
pubertärer Verwirrung und geistiger Umbrüche, und ich denke wir halfen uns
damals gegenseitig, in dieser zunehmend absonderlich erscheinenden Welt Fuß zu
fassen. Von daher rührt noch dieses Urvertrauen, das wir seitdem ineinander
hatten und ihn zu einem meiner engsten Freunde machte.

Doch seit uns
diese eigentlich läppischen 430 Kilometer trennen, existiert unsere
Freundschaft in der Praxis so gut wie gar nicht mehr. Unser, jedoch vor allem
sein Alltag, hat mich einfach aus dem Kalender gestrichen. Ich verliere so
langsam die Hoffnung auf einen Brief, eine Mail oder zumindest eine
klitzekleine SMS von meinem guten alten Freund – und frage ich mich, was ich
wohl falsch gemacht habe, um nach Jahren voller Dauerpräsenz scheinbar so
austauschbar geworden zu sein.

Und doch,
während ich so in meinem Gedächtnis grabe und dem Menschen Philipp nachforsche,
fällt mir etwas auf: Es musste so kommen. Und es ist gut so. Denn ein
gezwungenes Kontakt-Aufrechterhalten durch regelmäßiges Schreiben und Telefonieren
hätte unsere Freundschaft auf Dauer nur belastet. Er ist einfach ein ewiger
Eigenbrötler, und ich bin es vermutlich auch. Sobald beide Seiten diesen
Charakterzug nicht allzu persönlich nehmen, kann auch solch eine Freundschaft
gleiche Intensität behalten – nur eben ist sie die meiste Zeit im
Stand-by-Modus.

Und je öfter
Philipp mal eben ganz spontan nach vier Monaten ohne jegliches Lebenszeichen im
eigenen Wohnzimmer auftaucht, die Stimmung zwischen uns genauso ausgelassen ist
wie vor fünf Jahren, er ebenso schnell wieder nach Leipzig abhaut und für eine
Zeit lang komplett abtaucht, bis sich das Ganze nach fünf Monaten wiederholt;
ja, desto weniger Sorgen mache ich mir um unsere Freundschaft. Denn es ist ein
Irrglaube, permanente gegenseitige Informationsflut über WhatsApp, Facebook
oder Skype würde eine echte, mit Händen zu greifende Freundschaft nur
ansatzweise ersetzen. Die sozialen Medien helfen dabei, gegenseitig auf dem
Stand zu halten, manchmal auch sich nicht komplett aus den Augen zu verlieren.
Doch tiefe freundschaftliche Verbundenheit können sie auch nicht erhalten –
darum muss man sich schon selber kümmern.

Und bei all
dem Sinnieren überwiegt dann doch immer wieder die Vorfreude auf den Moment,
wenn Philipp urplötzlich vor mir steht und ich erst mal drei Sekunden brauche,
um die Erscheinung vor mir zu begreifen.

Er ist meine
Sonne an einem windigen Oktobertag.


Text: Tilman Waldhier

Foto: Yunus Hutterer

„Kunst braucht Überforderung“

image

Nach München zu gehen, war für Schauspielschüler Bekim Latifi, 22, ein Kulturschock. Jetzt bricht er vorzeitig seine Ausbildung an der Otto-Falckenberg-Schule ab – wegen eines Engagements in Hamburg. Ein Besuch.

Alle Augen sind auf ihn gerichtet. „Diese Kuh, die blöde Fotze, Fotze, Fotze“, ruft er voller Verachtung. Bekleidet mit schwarzer Lederjacke und Schlaghose steht Bekim Latifi, 22, auf der Bühne und schreitet lässig von links nach rechts. Er ist jetzt Andreas Baader in einer Szene aus „Maria Ulrike Stuart“ von Elfriede Jelinek. Beim Szenenvorspiel in der Kammer 3 der Münchner Kammerspiele präsentieren an diesem Abend die Schauspielstudenten des dritten Jahrgangs der Otto-Falckenberg-Schule Arbeiten aus dem szenischen Unterricht. Bekims Monolog ist kurzweilig, doch in jedem Wort spürt man die Energie des Nachwuchsschauspielers, die Lust am Spielen. Die Monate an der Schauspielschule sind für ihn jedoch fast gezählt. Er wird München vorzeitig verlassen.

Es ist schwer, einen Platz an einer Schauspielschule zu bekommen. Die Bewerber: zahlreich. Die Konkurrenz: hoch. An der Otto-Falckenberg-Schule in München werden zehn bis zwölf Glückliche in einen Jahrgang aufgenommen, nach dem vierten Jahr endet die Ausbildung. Manchmal gibt es allerdings Ausnahmen, Bekim zum Beispiel. Er wird zum Sommer seine Schauspielausbildung abbrechen – er wird zur kommenden Spielzeit als festes Ensemblemitglied am Thalia Theater in Hamburg engagiert sein.

Um zu verstehen, wie es dazu gekommen ist, muss man einen Blick in die Vergangenheit werfen. Aufgewachsen ist Bekim in einer Kleinstadt in der Nähe von Dresden. Schon früh hat der junge Mann mit den dichten Augenbrauen und den braunen Augen am Schultheater mitgespielt. „Aber einfach nur zum Spaß, da wusste ich noch nicht, dass ich vielleicht einmal Schauspieler werden möchte.“ Die Begeisterung für die Schauspielkunst wächst in ihm, und deshalb sucht er nach Möglichkeiten, sich endlich auf einer Bühne ausprobieren zu können und Gleichgesinnte zu treffen. In der Kleinstadt geht das nicht. Also macht er neben der Schule bei Jugendtheaterclubs in Dresden mit. Dafür nimmt er die lange Zugfahrt in Kauf. Mehrmals die Woche.

Natürlich habe er darüber
nachgedacht, ob es das Richtige
sei, die Ausbildung abzubrechen

Nach dem Abitur bewirbt er sich an Schauspielschulen – und wird 2014 an der Otto-Falckenberg-Schule aufgenommen. Im Sommer 2016 spielt Bekim gerade mit seinem Jahrgang das Stück „Pony Camp: Troilus & Cressida“ bei einem Festival für Regie-Studenten am Thalia Theater in Hamburg. Ungefähr ein halbes Jahr später, im Februar dieses Jahres, bekommt er eine Einladung zum Vorsprechen in Hamburg. Ein Dramaturg des Hauses habe ihn vorgeschlagen. Offenbar ist er den Theatermachern in Erinnerung geblieben. Das Thalia Theater sei auf der Suche gewesen nach Schauspielern für eine neue Produktion.

Zwischen Schule und abendlichen Vorstellungen bereitet sich Bekim vor. So gut es eben geht. Anstrengend sei es schon gewesen, „aber Kunst braucht Überforderung“, sagt der Schauspielschüler. Um vier Uhr morgens macht er sich auf den Weg nach Hamburg, geht im Zug alles durch und zieht sich sogar dort schon für das Vorsprechen um. Er spürt das Adrenalin und die ungebremste Lust, gleich spielen zu können – kurz vor Hamburg-Altona konnte der Zug dann nicht mehr weiterfahren. Kein schönes Gefühl, diese Mischung aus Übermüdung, Aufregung und Zweifel. Rechtzeitig setzt sich der Zug dann doch in Bewegung, Bekim schafft es zum Termin. „Das Vorsprechen hat Spaß gemacht. Es hat auch schon welche gegeben, bei denen ich total versagt habe“, sagt er.

Bekim überzeugt in Hamburg, und das, obwohl er in seiner Ausbildung noch nicht einmal eine intensive Vorsprech-Vorbereitung hatte. Die steht erst im vierten Jahr auf dem Plan.

„Das Rausgehen passiert meist erst mit dem Absolventenvorsprechen. Da kommen Leute von außen und schauen sich die Schüler an“, erklärt Andreas Sippel, Sprecherzieher an der Otto-Falckenberg-Schule. Der 57-Jährige ist seit dreißig Jahren in der Theaterwelt unterwegs. Es könne hin und wieder passieren, dass die Theater junge Talente entdecken. Maike Droste beispielsweise erhielt ihre Ausbildung ebenfalls an der Otto-Falckenberg-Schule und ging früher. Heute spielt sie erfolgreich an verschiedenen Theatern in Deutschland, Österreich und der Schweiz und ist im Fernsehen zu sehen.
 Das Theaterhaus aus Hamburg ist nicht gerade für sein junges Ensemble bekannt: „Das Thalia nimmt selten Anfänger auf. Die besseren Chancen haben ältere Schauspieler mit Erfahrung“, ergänzt Sippel.

Für eine Produktion soll Bekim in Hamburg engagiert werden. Doch für die Probezeit so lange von der Schule freigestellt zu werden ist nicht möglich. Also wird ihm direkt ein Vertrag angeboten. Bekim nimmt an.

Natürlich habe er darüber nachgedacht, ob es das Richtige sei, die Ausbildung abzubrechen. „Das ist eine große Sache, aber am Ende ist man als Schauspielstudent insgeheim auch ein bisschen froh, wenn man beim Intendantenvorsprechen nicht dabei ist. Das ist ja schon ein richtiges Fleischgeschaue“, sagt Bekim und muss grinsen.

Ob es ihm schwer falle, München zu verlassen? „Ich freue mich auf Hamburg. Schwieriger war es, nach München zu kommen aus meiner Kleinstadt.“ Damals hat er zum ersten Mal seine Heimat verlassen und wurde auf der Maximiliansstraße – in dessen unmittelbarer Nähe sich die Otto-Falckenberg-Schule befindet – erst einmal von dem ganzen Reichtum und Schicki-Micki erschlagen. „Das war schon ein kleiner Kulturschock. Aber so ist es ja zum Glück nicht überall in München.“

Mit Dreitagebart und dem schwarzen Rollkragenpullover ist er nicht einer, der durch sein Aussehen sofort auffällt. Wohl aber durch sein Handwerk, wenn er auf der Bühne steht und in einer Rolle aufgeht. Gibt es ein Erfolgsrezept? Bekim ist überzeugt, dass man sich beim Vorsprechen selbst treu bleiben sollte. Auch die Lockerheit im Spiel sei wichtig, die Begeisterung. So etwas merken Theatermenschen. Es sei für ihn ein sehr großes Kompliment, nach Hamburg gehen zu dürfen. Was er gerade erlebt, davon träumen viele. „Das ist kein Ruhekissen für mich, die Ausbildung hört nie auf. Jetzt geht es erst richtig los“, sagt Bekim. Er lächelt. 


Text: Ornella Cosenza


Foto: Robert Haas