Trends? Braucht niemand

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Ein nichtkommerzielles Independent-Magazin, und das in einer Stadt wie München, die es der Subkultur oft so schwer macht? Das geht. Hassen Ben Chtioui, 26, und Yasmin Rahmanzadeh, 29, bringen am Freitag „’This Orient“ heraus – ein Heft über Kunst

Unzählige lose Stromkabel, dahinter die Feuerschutztreppe eines mehrstöckigen, dunkelgrauen Hochhauses, die sich wie eine überlebensgroße Schlange am Gebäude emporzieht. Die Bilder des Tschechen Jan Vranovsky zeigen Tokio als Stadt der Hinterhöfe, über die sich kein Architekt oder Designer besonders lange den Kopf zerbrochen hat. Als Betrachter fühlt man sich da ganz verloren, bei so viel weltfremdem Metropolenzauber.

Der in der japanischen Hauptstadt lebende Fotograf ist einer von neun ausgewählten Künstlern, deren Arbeiten im Kunstmagazin ’This Orient porträtiert werden. Gegründet wurde es von den beiden jungen Münchnern Hassen Ben Chtioui, 26, und Yasmin Rahmanzadeh, 29. 130 Seiten dick ist das Heft, mit dem die zwei Architekten ungewöhnliche künstlerische Ansätze wie die Arbeiten von Vranovsky beleuchten und auch einen Fokus auf kreative Schaffungsprozesse setzen.

Ein nichtkommerzielles Independent-Magazin, und das in einer Stadt wie München, die es der Sub- und Nebenkultur oft so schwer macht? Das geht. Hassen ist sogar überzeugt davon, in München ideale Grundbedingungen dafür vorzufinden. Einen Überfluss an künstlerischen Angeboten gebe es in München nicht, eine Konkurrenz, die es Nachwuchstalenten in Städten wie Berlin inzwischen schwer macht, Fuß zu fassen. „Man hat hier einen recht guten Überblick über die Szene, was es einem auch als Quereinsteiger leichter macht.“ Gleichzeitig seien die Erwartungen hier relativ hoch. Vor allem, wenn es darum geht, mit seiner Kunst auch Geld zu verdienen. Aber: „Dafür ist die Kaufkraft einfach da“, sagt Hassen mit einem Augenzwinkern. 

Entstanden ist die Idee für das Magazin aus Mangel an künstlerischer Freiheit im Alltag. „Je kreativer die Architektur, desto weniger Geld verdienst du damit“, erklärt Yasmin. Umso mehr waren beide von der Arbeit an der Website und dem Magazin erfüllt, nahmen vom Layout bis zum Druck alles selbst in die Hand. Der Titel der ersten Ausgabe von ’This Orient lautet „Comfort Zone“. Die kreative Komfortzone ist für sie „ein abstrakter Raum, der alles einschließt, was du brauchst, um kreativ tätig zu werden“. 

Auch der Name des Magazins hängt für die beiden Architekten direkt damit zusammen. Beide haben Verwandte im Iran beziehungsweise in Tunesien. Orient, das ist für Yasmin vor allem ein imaginärer Ort, an dem man sich wohl fühlt und kreativ arbeiten kann. Eine Art Zufluchtsort, um zu den eigenen Wurzeln zurückfinden zu können und neue Ideen zu entwickeln.   

Im modernen Alltag ist dieser Zufluchtsort oft kaum erreichbar. Von allen Richtungen aus wird man überschüttet mit Eindrücken, die kreative Freiheit bleibt für die beiden Heftgründer zu oft auf der Strecke. „Ich möchte nicht, dass die Kunst mir vorschreibt, wie ich mit ihr umzugehen habe.“ Yasmin schaut auf und ihr Blick wird kurz ernst. Doch dann lächelt sie wieder. Sie spricht von Kunst als idealen Weg, sich von Zwängen zu befreien. Die zwei jungen Architekten strahlen eine Ruhe aus, wie man sie nur allzu selten spürt im hektischen Trubel der Großstadt. 

Hassen und Yasmin lernten sich bei einem Uni-Projekt kennen. Der 26 Jahre alte gebürtige Bremer schrieb damals bereits einen Blog, kam allerdings mit dem Klick-Fetischismus in den Online-Medien nicht zurecht. In einer Welt, in der sich der Erfolg vor allem an der Anzahl der Likes und Kommentare misst, gehen alternative Projekte leicht unter. „Wir sind kein Heft, das Trends hinterherjagt“, erklärt Hassen, „vielmehr sind wir daran interessiert, mit Kreativen über ihre Arbeit zu sprechen. Das sind Prozesse, das ist etwas Zeitloses.“ Und dafür sei Print einfach das richtige Medium, sagt er. Auf gedruckten Seiten könne man gezielter künstlerische Akzente setzen und auch die Aufmerksamkeitsspanne der Leser ist hier deutlich länger.

Im Internet lässt sich bereits erahnen, in welche kreative Richtung sich die beiden begeben wollen. Die Website des Magazins präsentiert sich schlicht, unaufdringlich und doch mit einer gewissen Affinität Details gegenüber. „Klassischer Architektenstil“, gibt Hassen zu. Einführende Artikel begleiten die Bildstrecken, auf denen sich Künstler mit Mode, Architektur, Design, Fotografie oder auch Musik auseinandersetzen. Landschaftsporträts vom Schwarzen Meer treffen auf minimalistische skandinavische Bauwerke. Eine Fotostrecke über Schnee in der saudischen Wüste erblickt man direkt nach einer Kunstinstallation mit übergroßen Luftballons. 

Diese thematische Öffnung war den beiden besonders wichtig, auch um möglichst vielseitige künstlerische Ansätze auf einer Plattform zusammenzuführen. Hassen und Yasmin suchten hierfür den Dialog mit Kunstschaffenden, die sich über die Website bei den Herausgebern bewerben konnten. Besonders in den Interviews tauschten sie sich vertieft über deren Arbeitsweisen aus. Das waren auch für die Macher selbst extrem spannende Begegnungen, „weil die Fragen teilweise so sehr in die Tiefe gingen. Da konnte man sich richtig drin verlieren“, schwärmt Hassen, der immer ganz hibbelig wird, wenn er beginnt, von seinem Projekt, von Kunst zu sprechen. Seine Hände verlieren sich dann schnell in wild zirkulierender Gestik, als würde er die Luft zwischen ihnen zu einer Skulptur formen wollen. Dabei wollten die Magazinmacher nicht bewusst eine Lücke schließen in der Szene. Erst im Nachhinein fiel ihnen auf, dass es in München noch kein Projekt mit ähnlichem Ansatz gegeben hat. Sagen sie zumindest.

Ob sie sich vorstellen können, mit dem Konzept erfolgreich zu werden und eines Tages davon leben zu können? „Piano, piano!“, sagt Hassen. Das habe nie im Vordergrund gestanden. Es ging immer eher um künstlerische Selbstverwirklichung, darum, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Und darum, neue Blickwinkel aufzuzeigen, der Wahrnehmung von Kunst einen frischen Anstrich zu verpassen. Dafür ist die Erstauflage mit 1000 Stück recht stattlich.

Text: Louis Seibert

Foto: Sophie Charlotte Hoffmann


Die Release-Party für das Magazin findet am Freitag, 25. November, von 18 Uhr an in der Galerie „Freundschaftsbande“, Hans-Sachs-Straße 5 statt. Weitere Informationen unter www.thisorient.com.