Zeichen der Freundschaft: Nächtliche Bildinterpretation

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Bildinterpretationen behandelt man irgendwann einmal im Unterricht. Eigentlich. Unsere Autorin und ihre beiden Freundinnen analysieren dagegen Werbeplakate an Bushaltestellen und machen sich das zum abendlichen Ritual.

Das samtene Fell des Friesen schimmert silbern im Licht des vollen Mondes. Der kleine Junge, der dem Pferd nur bis etwa zur Brust reicht, streckt vorsichtig die Hand aus, um die Nüstern des majestätischen Tiers zu berühren. Thea, Jasmine und ich nähern uns voller Erwartung. „So meine Lieben“, bricht Thea das Schweigen, „was werden wir heute in diesem Kunstwerk entdecken?“ Die
romantische Szene zwischen schwarzem Pferd und kleinem Jungen in Regenparka wiederholt sich an jedem unserer gemeinsam verbrachten Abende, an deren Ende Thea und ich Jasmine nach Hause begleiten. Auf einem überdimensionalen Werbeplakat an einem Bushäuschen, genau an der Stelle,
an der Jasmine sich von uns verabschiedet, um die Straße zu ihrem Wohnhaus zu überqueren.

Zugegeben, an dem Abend, an dem wir zum ersten Mal bemerkten, wie realistisch, interessant und detailliert uns das für eine britische Bank werbende Plakat vorkam, waren wir alle etwas angesäuselt vom Rotwein. Dennoch nehmen wir die Aufgabe der Bildinterpretation seither sehr ernst. „Ich glaube, der Regenparka steht dafür, gewappnet zu sein für schlechte Zeiten“, sagt Jasmine heute mit gerunzelter Stirn. Ich kichere. „Oder seine Mama war einfach super nervig – nach dem Motto: nimm deine verdammte Jacke mit, sonst erkältest du dich noch, wenn du schon wieder dieses Pferd am Strand besuchst“, gebe ich zu Bedenken. Meistens hat jedoch Thea die beste Interpretation auf Lager, denn sie ist mit Abstand die lustigste von uns dreien. Jasmine schafft es hingegen immer wieder, am aufgeräumtesten und zugleich verplantesten zu sein und ich – ich backe den besten Kuchen und habe zu meinem eigenen Unverständnis ständig irgendein neues Männerproblem zu besprechen, das mich völlig überfordert. Manchmal kommt mir unsere Freundschaft selbst vor, wie eine sehr romantische Fotografie (von denen ich mittlerweile auch so viele habe, um ein ganzes Zimmer damit tapezieren zu können – Erinnerungen an all die verrückten Dingen, die wir während des vergangenen Jahres unseres gemeinsamen Studiums in Oxford erlebt haben). Ich habe die beiden Kanadierinnen (aus unterschiedlichen Provinzen – was wichtig ist!!!) gleich am ersten Tag des Semesters kennengelernt, als wir als einzige ein bisschen verloren am von unserer Fakultät organisierten Buffett standen und nicht so recht wussten, wie wir am besten höflichen Small-Talk mit all den distinguierten Professoren führen sollten. Natürlich könnte man sehr fatalistisch behaupten, der erste Tag an jeder Uni würde einfach determinieren, mit wem man für den Rest des Jahres befreundet ist. Ich glaube jedoch stur, dass es mehr als Zufall sein musste, genau diese beiden jungen Frauen auf einmal kennenzulernen. Denn ich glaube an romantische Gemälde und die Kraft des Schicksals, vor allem wenn es um zwischenmenschliche Begegnungen geht. Während Thea, Jasmine und ich in vielen Dingen sehr unterschiedlich sind, sind wir in ebenso vielen Dingen genau gleich. Beispielsweise teilen wir seit neun Monate die Überzeugung, nicht ganz so genial zu sein, wie man es eigentlich sein sollte, wenn man einen Platz an einer „Eliteuniversität“ ergattert hat. Genauso wie die Beobachtung, dass wir viele der bierernsten Traditionen und Ansprüche und Rituale und Diskussionen in Oxford nicht ganz ernst nehmen können. Deshalb können wir uns gegenseitig zugleich Rettungsanker und Stimmungsbombe sein, wenn es um Ratsch, Tratsch, gemeinsame Abendessen, Theater-, Kino-, und Konzertbesuche und nicht zuletzt therapeutische Gesprächsrunden geht. Wenn ich unsere Freundschaftsdynamik
interpretiere, so wie wir mehrmals wöchentlich das Bushäuschen-Plakat interpretieren, würde ich zu dem Schluss kommen, dass die Tatsache, dass Thea und ich Jasmine Abend für Abend nach Hause begleiten – weil sie eben ein bisschen ängstlicher ist als wir – als Zeichen dafür gesehen werden
kann, dass wir füreinander da sind, egal wann, egal wo und dass wir es schaffen, den anderen ernst zu nehmen, ohne jemals den Humor zu verlieren. Genau deshalb kann ich es mir auch nur mit diesen beiden Menschen vorstellen, mitten in der Nacht zum gefühlt hundertsten Mal vor einem Bushäuschen im Norden Oxfords zu stehen und die tiefenpsychologischen Absichten eines Werbefotografen zu analysieren.


Text: Theresa Parstorfer

Foto: Yunus Huttere