Subkultur retten

Julian Hahn, 25, will Arzt werden – wenn er Zeit hat und einen Studienplatz bekommt. Bis dahin macht er Zwischennutzungen: im Westpark, bald in Giesing und vielleicht sogar in einem ganzen Haus im Glockenbachviertel.

Eine kleine heruntergekommene Holzhütte, blau und rot gestrichen, knallgelbe Tür. Der Garten dahinter verwildert, vermüllt. Einige sagen, das kleine Grundstück an der Pilgersheimer Straße nahe der Zugbrücke sei der Schandfleck von Giesing. Für Julian Hahn ist es eine brachliegende Fläche mit viel Potenzial, perfekt für sein neuestes Projekt.

Wenn er einen anderen Bruder hätte, wäre der 25-Jährige jetzt vielleicht angehender Arzt – was immer sein Traum gewesen ist. Doch sein Bruder heißt Daniel Hahn, in München bekannt für den Bahnwärter Thiel und die MS Utting. Schon 2012 gründeten die beiden Hahns zusammen mit dem jüngsten Bruder Laurin und drei Schulfreunden den Wannda e.V. Erst wollte Julian nicht. „Alles, was mit Daniel zu tun hatte, war immer irgendwie anstrengend“, sagt Julian. Der ältere Bruder rief Julian nach der Schule öfter spontan an, damit er ihm bei einer Hausentrümpelung oder dem Aufbau einer Veranstaltung helfe. Als Schüler nicht immer die schönste Freizeitbeschäftigung.

Heute ist Julian froh, dass er sich für Wannda entschieden hat. Nach seiner Ausbildung zum Rettungssanitäter studierte Julian deshalb nicht Medizin, sondern organisierte Veranstaltungen, baute den Märchenbazar im Viehhof auf, wieder ab und wieder auf. Heute betreibt er das Café „Gans am Wasser“ im Westpark und plant gerade sein neuestes Projekt in Giesing.

Vergangene Woche unterzeichnete er den Vertrag für die Zwischennutzung in der Nähe des Kolumbusplatzes an der Pilgersheimer Straße. Aus dem bunten Bretterhaufen soll ein verwunschenes Hexenhäuschen werden. Neue Fenster, vielleicht ein bisschen schief. Ziegel aufs Dach, hinten im Garten eine kleine Bühne – für Kabarett, Theater, Lesungen, Open Stage. Einen Blumengarten wollen sie anlegen, im Gebäude soll es eine kleine Gastronomie geben. Sie – das sind Julian, sein Geschäftspartner Florian Jund, mit dem er auch das Café Gans am Wasser betreibt, und Philipp Behringer. Ihn kennt Hahn aus seiner Zeit als Rettungssanitäter. Dazu kommen noch viele weitere Freunde und Helfer. Die Umbauten stemmen sie alle selbst. Eine handwerkliche Ausbildung hat Julian nicht, aber bisher haben sie noch alles hinbekommen. „In der Waldorfschule haben wir schon in der dritten Klasse ein kleines Haus gebaut“, erzählt er. Das sei vielleicht nicht ganz das Gleiche, aber sie scheuen sich nicht vor Herausforderungen. Auch bei ihrem Café „Gans am Wasser“, direkt am Mollsee, haben sie alles selbst gemacht, Bauwägen renoviert, Sessel aus alten Badewannen gebaut.

Mit dem Rumbasteln bei ihrem Café hören sie nie ganz auf. Ein neuer Hingucker ist fast fertig. Meterhohe Stahlblumen begrüßen die Besucher auf der einen Seite. Auf die andere Eingangsseite sollen zwei Gänse, vier Meter hoch, in 3-D-Optik, die sich mit den Schnäbeln berühren und den Namen des Cafés als Tafel über die Besucher halten.

Julian könnte gestresst sein. Ist er aber nicht, oder zumindest wirkt er nicht so. Er spricht ruhig und entspannt. Dann klingelt das Telefon. Partner Florian Jund gibt Bescheid, dass er sich gerade den Klowagen anschaut, den Julian im Internet gefunden hat. Sie brauchen ihn für ihr Hexenhaus in Giesing. Leider ist das in die Jahre gekommene Modell undicht, es regnet rein, der Verkäufer hatte das verschwiegen. Wir werden ihn wohl trotzdem kaufen, meint Julian. „Der passt zu gut ins Konzept, der Wagen ist komplett mit Holz verkleidet.“ Florian schickt ihm Bilder. An der Decke des Klowagens sind bereits dunkle Flecken zu sehen. „Der ist schon länger undicht. Das hätte der Verkäufer schon reinschreiben können.“ Seine Stimme hebt sich kaum. Auch die Aussicht, bald einen Klowagen renovieren zu müssen, sieht er locker. „Schön ist es nicht, aber wir haben das auch schon mal gemacht. Beim Café steht auch einer.“ Vergangenes Jahr beim Aufbauen des Märchenbazars habe er ein kleines Tief gehabt, aber so etwas geht vorbei, sagt er. Freizeit hat er kaum, dafür arbeitet er nur mit Freunden zusammen. Dann macht Arbeit Spaß, und alles ist nur halb so schlimm.

Für ihr neues Projekt an der Pilgersheimer Straße kommen noch weitere Baustellen und Kosten auf die jungen Männer zu. Bis Januar 2023 gehört ihnen der kleine Fleck. Ob sich diese Investition für fünf Jahre überhaupt lohnt? „Wenn wir vorher alles durchkalkuliert hätten, hätten wir noch gar kein Projekt angefangen.“ Die jungen Männer hoffen einfach, dass ihr Gartenhäuschen von den Menschen in Giesing angenommen wird.

Die Fläche gehört Privatleuten. „Sie hätten sie auch an einen Autodantler geben können oder an einen Dönerladen.“ Der Bezirksausschuss hatte sich dafür stark gemacht, dass der Schandfleck zu einem Ort gemacht wird, der den Anwohnern etwas bietet. Er sollte nicht an den Mieter verschachert werden, der am meisten zahlt. Julian und seine Freunde bekamen den Zuschlag, geplant ist ein Konzept ähnlich dem vom Café im Westpark – und hoffen, dass sie auch in Giesing mit Vandalismus wenig Probleme haben. Julian glaubt, das liegt dort daran, dass alle ihr Café „ganz cool“ finden. Junge Familien, Rentner, Jugendlichen – alle kommen zu ihnen an den See, je nach Uhrzeit und Programm. Mit Selbstbedienung haben die Gäste auch keinen Druck, ständig etwas bestellen zu müssen. Julian erzählt von älteren Stammgästen, die jeden Tag kommen und auch gerne länger sitzen bleiben. Zumindest solange bis es regnet. Bei ein bisschen Regen bietet das Zelt noch Schutz, bei Dauerregen ist das Café geschlossen.

Auch das Projekt in Giesing ist wetterabhängig. Julian hat vier Wetter-Apps auf dem Handy. Jeden Tag wird gecheckt und verglichen. „Ich beschäftige mich so viel mit dem Wetter wie sonst kaum jemand.“ Bei einem anderen Projekt wird das nicht mehr nötig sein. Julian hat gute Chancen, einem ganzen Haus in der Pestalozzistraße seinen Stempel aufzudrücken, es wieder kulturell zu beleben. Ein Vertrag ist noch nicht unterschrieben, sie basteln aber schon an einem Konzept. Endlich wetterunabhängig, vielleicht eine Bar, Raum für Kleinkunst, alles ganz zentral. Für Julian ein Traum. Spannend wird es, wenn in diesem Jahr vielleicht noch ein Schreiben der Uni hereinflattern sollte. Für das Medizinstudium bewirbt er sich noch immer.

Text:
Julia Haas 

Foto: Alessandra Schellnegger

Barfuß auf die Bildungsreise

Sagar Dhital studiert in München Medizin, um später in seiner Heimat in Nepal eine Krankenstation aufzubauen. „Ich will nicht die ganze Welt retten“, sagt er. „Aber in meinem Dorf will ich alles besser machen, als es jetzt ist“

Von Friederike Krüger

Sein Wille, etwas zu verändern, hat Sagar Dhital nach München gebracht. Hier studiert der junge Nepalese Medizin, um in seiner Heimatstadt Katunje einmal eine Krankenstation aufzubauen. Er hat eine entbehrungsreiche Kindheit hinter sich, aber er hat ein Ziel, eine Aufgabe, die das Leben in seinem Heimatdorf grundlegend umwandeln wird.

Sagar Dhital ist 28 Jahre alt. Oder 26. Genau weiß das keiner. Wie seine sechs Geschwister wird er auf dem Fußboden des Hauses zur Welt gebracht. Drei der Kinder sterben früh. Es könnte Typhus gewesen sein, vermutet die Mutter. Denn einen Arzt gibt es nicht. Die Menschen leiden an Gicht und Diabetes. 25 000 Bewohnern fehlen die einfachsten Medikamente. Krankheiten werden von Schamanen behandelt. „Meine Mutter glaubt bis heute, dass es vielleicht so sein sollte“, sagt Sagar betrübt.

Barfuß läuft er als Kind täglich zwei Stunden zur Schule, Mittagessen gibt es keines. Die Hausaufgaben macht er unter dem schwachen Licht einer Kerosinlampe. Nicht selten verliert er den Kampf gegen die Müdigkeit. Trotzdem fällt dem Jungen die Schule leicht. Als einer der Besten der Region darf er sein Abitur in einer benachbarten Stadt machen. Er wohnt bei Verwandten, die ihn unterstützen – und schafft den Abschluss mit Bestnoten.
Ein Stipendium ermöglicht ihm das Biologiestudium in Kathmandu, von dem er nie zu träumen wagte. Es ist der Weg in ein neues Leben. Er trägt nun Schuhe, lernt und liest viel. Seine Ansichten ändern sich. Sagar hinterfragt die Religion und die Naivität seiner Eltern. Damals denkt er sich: „Irgendwer muss dort etwas ändern.“ Damals waren es nur Gedanken, heute setzt er sie um.
 Nach dem Studium, er ist nun 21, arbeitet er im Krankenhaus in Dhulikhel. Betreut die ausländischen Studierenden während ihrer Famulatur und ist in der Abteilung für Anatomie angestellt.

Medizin – das ist sein Traum. Und die Lösung für das Elend, aus dem er kommt. „Die Menschen in meinem Ort müssen aufgeklärt werden.“ Er will ihnen helfen, aber ein Medizinstudium scheint unmöglich zu sein. Denn in Nepal würde es umgerechnet 35 000 Euro kosten. Sagar kann Nepali, Hindi und Englisch. Doch auch in Amerika oder England kann er sich die Studiengebühren nicht leisten.
Münchner Studenten erzählen ihm vom Studium in Deutschland und dass es kostenlos sei. Der Nepalese klickt sich durch Youtube-Videos und saugt diese neue Welt in sich auf. Dort will er hin. Auch wenn er hierfür Deutsch lernen muss. Doch seine Eltern lassen ihn nicht gehen. Sie wissen nicht, wo das ist, dieses Deutschland. Sie wissen nicht, wie er für sich sorgen soll. Ihr jüngster Sohn, sie wollen nicht auch noch ihn verlieren.

Doch nach vier Monaten die Wende: Er hat einen Deutschkurs belegt, sein Konto ist gedeckt, 2000 Euro spendeten die Dorfbewohner, 2000 erarbeitete er selbst, 4000 bekam er als Kredit. Er erhält ein Visum und kann seine Eltern überzeugen: Ihr Sohn kann ihre Zukunft verändern.
Sommer 2013, Sagar Dithal landet am Frankfurter Flughafen. Zwölf Stunden Flug trennen ihn von seiner Heimat – 8000 Kilometer, die zu überbrücken kein leichter Weg war.

Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er einen Zug. Die Modernität der Stadt erschlägt ihn. Wie soll er das seinen Eltern erklären? Seinen Eltern, die solange dagegen gewesen sind, dass er sie verlässt. Für sie, die nicht verstehen, wie er ihnen helfen kann, ist doch alles im Leben vorherbestimmt. Sie, denen Sagar ein besseres Leben verschaffen will – mit dem medizinischen Know-How, was er nur in Deutschland erlernen kann.

Sagar trägt heute Kapuzensweater und Poloshirt, mit seinem iPhone fragt er sich zu dem Café durch, in dem er seine Geschichte erzählen soll. Er wohnt nun seit knapp einem Jahr in München. Und immer noch ist vieles ganz neu für ihn. Warum sich so viele hier für seine Geschichte interessieren, versteht er nicht. „Die Welt ein Stück weit besser machen – das wollen doch alle“, sagt er.
Über Frankfurt gelangt er nach München. Trotz vieler Nachtschichten als Barkeeper schafft er das erste Semester mit Bravour und erhält das Deutschlandstipendium. Nun muss er nicht mehr jedes Wochenende arbeiten.
Nach einem halben Jahr schickt er seiner Familie Fotos. „Ob ich genug Holz fürs Feuer und genug Reis zu essen habe, haben sie ständig gefragt,“ erzählt Sagar, ein wenig verzweifelt.

Er bewegt sich auf einem dünnen Grad zwischen zwei Welten. In München manchmal selbst überfordert, versucht er seinem Vater alle zwei Wochen an einem Samstag um 9 Uhr morgens, wenn dieser mit seinem Handy in Nepal ein paar Schritte auf einen Hügel hinauf läuft, sein neues Leben zu erklären. Und welche Auswirkungen es auf das seines Vaters haben wird.
Der Ort für eine Krankenstation ist bereits ausgewählt worden. Wenn Sagar Dithal 2016 nach drei Jahren zum ersten Mal in seine Heimat zurückkehren und seine Familie wiedersehen wird, will er mit der konkreten Planung beginnen. „Ich will nicht die ganze Welt retten und auch nicht das ganze Land verändern. Aber in meinem Dorf will ich einfacf alles besser machen als es jetzt ist.“

Foto: Natalie Neomi Isser

MigraMed: Gemeinsam zum Arzt

Medizinische Diagnosen sind nicht immer leicht zu verstehen, besonders wenn man die Sprache des Arztes nicht spricht. Die Studenteninitiative MigraMed begleitet Flüchtlinge zum Arzt und erklärt ihnen, was der genau gesagt hat.

Komplizierte Diagnosen und lateinische Fachtermini – wer zum Arzt geht und kein Deutsch kann, versteht nicht immer, was ihm über seine Gesundheit erzählt wird. An diesem Punkt setzt die Initiative MigraMed (Foto: Matthias Deininger) an: Münchner Medizinstudenten begleiten Flüchtlinge zum Arzt und erklären nach dem Besuch mithilfe von Dolmetschern, was der Arzt gesagt hat, welche Medikamente der Patient nehmen muss und wie nun weiter behandelt wird.
Seit 2013 finden diese Besuche statt – inzwischen hat MigraMed 50 bis 60 freiwillige Helfer. „Es gibt Menschen, die so nah bei uns leben und trotzdem nicht die gleiche Versorgung bekommen“, sagt Medizinstudentin Linda Avena, 26. Um das zu ändern, bieten die Studenten in Kooperation mit der Caritas wöchentlich eine medizinische Sprechstunde für Asylbewerber an. Seit einiger Zeit veranstaltet MigraMed auch Schulungen für Flüchtlinge: Zusammen mit einem Dolmetscher werden Themen wie Frauenhygiene oder HIV besprochen. Carolina Heberling