Mehr als ein Dienstleister

Daria Rühl, 28, und Sebastian Halden, 26, leiten den Verein Stay Welcome, der Flüchtlingen Jobs vermittelt.

Willkommenskultur. Im Herbst 2015 sprachen alle davon. Knapp eineinhalb Jahre später hat sich die Gesellschaft, so scheint es, in zwei Lager geteilt: Jene, die immer noch sagen, wir schaffen das, und jene, die sagen, wir haben genug geschafft. Daria Rühl, 28, und Sebastian Halden, 26, gehören zu denen, die nach wie vor etwas schaffen wollen. 

Ihr Verein Stay Welcome unterstützt Flüchtlinge mit einer Arbeitserlaubnis dabei, einen Job zu finden – und das kostenlos. Gegründet wurde der Verein 2015 ursprünglich als private Organisation von Mitarbeitern des IT- und Technologieberatungsunternehmens Netlight Consulting. Die Gründer Aurelia Schülen und Christian Klugow sind aber seit der offiziellen Vereinsgründung im vergangenen Sommer nur noch unterstützend tätig. Seit der Gründung von Stay Welcome wurden bereits 39 Teilzeitstellen, 37 Festanstellungen, 25 Minijobs, in etwa ebenso viele Praktika sowie vier Ausbildungsplätze vergeben, sagt Sebastian. Wäre die Zusammenarbeit mit den Ämtern nicht immer wieder von Rückschlägen gekennzeichnet, wenn Flüchtlinge etwa nicht bleiben dürfen, könnte der Verein deutlich mehr Menschen zu einem Job verhelfen. Jede Woche könnten sie mindestens 30 Beratungsgespräche führen, sagt Sebastian, ein Mann mit Pausbäckchen und einem Dreitagebart. Da unter den Bewerbern aber auch viele aus dem Senegal oder Mali seien, die keine Arbeitserlaubnis bekämen, müssten sie diese häufig wieder nach Hause schicken – und das, obwohl ihre Chancen, nach einem abgeschlossenen Verfahren nicht einmal schlecht stünden, in Deutschland bleiben zu dürfen. In anderen Fällen werde zwar ein Antrag auf unbezahlte Probearbeit genehmigt, eine Festanstellung im gleichen Betrieb aber abgelehnt. Sebastian kann über solche Entscheidungen nur den Kopf schütteln.

Seit Februar 2016 gelangen immer weniger Menschen über die sogenannte Balkanroute nach Deutschland, weil Länder wie Mazedonien und Ungarn die Grenzen geschlossen haben. Genug zu tun haben Daria und Sebastian als Hauptverantwortliche des Vereins dennoch. Kommt ein Flüchtling mit Arbeitserlaubnis zu ihnen, verfahren sie nach dem immer gleichen Prinzip: Zunächst werden Interviews geführt, um Fähigkeiten und Sprachkenntnisse der Flüchtlinge zu prüfen. Gleichzeitig wird erfragt, welche Vorstellungen die Bewerber – meistens sind es junge Männer – haben und wo sie sich in den nächsten fünf Jahren sehen. Im Anschluss wird gemeinsam ein Lebenslauf geschrieben und bei Erfolg werden die Flüchtlinge zu den Bewerbungsgesprächen begleitet. „Uns ist es am liebsten, wenn wir die Leute genau dreimal sehen: Beim Interview, beim Lebenslauf schreiben und beim Bewerbungsgespräch“, sagt Sebastian.

In der Praxis ist es aber nicht ganz so einfach: Einige der Flüchtlinge, die zu ihnen kommen, brauchen nur einen kleinen Schubs in die richtige Richtung. Sie wollen lediglich wissen, wo sie am besten ein Bewerbungsfoto machen können. Andere hingegen brauchen mehr Hilfe. Nach einem befristeten Vertrag, der nicht verlängert wird, kommen sie wieder zu Sebastian und Daria und wissen nicht weiter.

Seit immer mehr, unter ihnen vor allem Afghanen, trotz Arbeit in ihr Heimatland abgeschoben werden, ist die Verunsicherung groß. Lohnt es sich überhaupt, sich zu bemühen, fragen sie. Sebastian kann dann nur versuchen zu beschwichtigen. Was bringe es denn, schon Angst vor einer Abschiebung zu haben, bevor man im Flieger sitze, sagt er. Dass Sebastian für viele oft weit mehr ist als nur ein reiner Dienstleister, merkt man auch daran, dass viele der Flüchtlinge auch dann, wenn sie bereits einen Job haben, immer noch regelmäßig Fotos und Videos per Whatsapp schicken. 

Der gelernte Versicherungskaufmann ist aber trotz seines sozialen Engagements kein Träumer. Von einem uneingeschränkten Bleiberecht für alle hält er nichts. Wer keinen akuten Fluchtgrund habe, müsse wieder ausreisen, um jenen, in deren Heimat nachweislich Krieg herrscht und jenen, die zu Hause verfolgt werden, Platz zu machen. Selbst dann, wenn er oder sie schon bestens integriert sei, sagt Sebastian. 

Weil der Verein Stay Welcome für die Vermittlung der Flüchtlinge kein Geld verlangt, sind Daria und Sebastian auf Spendengelder angewiesen. Netlight Consulting stellt den beiden kostenlos einen Arbeitsplatz zur Verfügung und kommt für die je 1 500 Euro auf, die sich Daria und Sebastian monatlich auszahlen. In einer Stadt wie München reicht das aber nicht zum Leben. Erst recht nicht, wenn man, wie Sebastian bereits Papa oder wie Daria hochschwanger ist. Um effizienter arbeiten zu können, soll eine weitere Vollzeitkraft eingestellt werden, die aber letztlich nur Daria ersetzen wird, da sie von Mai an zunächst eine Weile in den Mutterschutz gehen wird.

Die Finanzierung ist aktuell eines der größten Probleme des Vereins. Bis Ende des Jahres seien alle Kosten gedeckt, wie es danach mit dem Verein weitergehe, sei ungewiss. Da sich auch die rechtliche Lage der Flüchtlinge ständig ändere, mache es aber sowieso keinen Sinn, länger als ein Jahr im Voraus zu planen, sagt Sebastian.

Sebastians Vertrag läuft im Oktober aus. Gerne würde er auch danach noch für den Verein arbeiten. Wichtig ist ihm aber auch, den nötigen Elan nicht zu verlieren. Bevor er so wird, wie die vielen gelangweilten Beamten auf den Ämtern, mit denen sie so oft zusammenarbeiten müssen, sagt er, will er lieber freiwillig aufhören. Eines ist für Sebastian aber ganz klar: „Ich will was Nachhaltiges mit Menschen machen.“ 

Unabhängig davon, wie es für sie selbst weitergeht, hoffen Daria und Sebastian aber auf eines: Dass der Verein Stay Welcome solange Bestand hat, wie die Notwendigkeit für ein solches Angebot für Flüchtlinge besteht. Denn selbst wenn heute niemand mehr von einer Willkommenskultur spricht, findet Sebastian, so leben doch Tausende Flüchtlinge in Deutschland. Menschen, die sich selbst und ihre Familien ernähren müssen, die arbeiten wollen. Menschen, die ihren Platz in dieser Gesellschaft suchen.  

Text: Jacqueline Lang

Foto: Alessandra Schellnegger

Wie es euch gefällt

Was ist, wenn sich die beste Freundin nach dem Sado-Maso-Coming-out abwendet? Melanie Maier, 25, leitet den Frauentreff der Münchner BDSM-Szene. 

Melanie ist ein Switcher. Je nach Lust ist sie deshalb Sub oder Dom, wie man devote und dominante Partner in der BDSM-Szene nennt („BDSM“ bezeichnet verschiedene sexuelle Vorlieben, es sind die Anfangsbuchstaben der englischen Bezeichnungen „Bondage“, „Discipline“, „Dominance“, „Submission“, „Sadism“ und „Masochism“). Weil Melanie bisexuell und polygam lebt, kann sie ihre Vorlieben nicht nur mit dem eigenen Partner ausleben, sondern auch mit verschiedenen Partnern – beider Geschlechter.

Melanie Maier, 25, die eigentlich anders heißt, ist Mitglied der jungen BDSM-Szene in München. „JungeSMünchen“, wie die private Organisation sich nennt, hat sich aus dem bundesweit tätigen Verein SMJG gegründet, dem Jugendableger der BDSM-Szene, und ist Anlaufstelle für junge Menschen zwischen 18 und 35. 

Melanie, die als Sachbearbeiterin arbeitet, geht selbst regelmäßig zu den Stammtisch-Treffen. Zudem leitet sie den Frauen-Treff. Wie die Menschen auf die Organisation aufmerksam werden? „Gerade finden sehr viele über die Jodel-App zu uns“, sagt Melanie. Durch soziale Medien sinkt die Hemmschwelle und die Jugendlichen denken nicht jahrelang über diesen Schritt nach, sondern probieren einfach mal aus, ob die BDSM-Szene das Richtige für sie ist. Melanie findet diese Entwicklung sehr angenehm. Wer jahrelang mit seinen Gedanken alleine gelassen werde, habe später häufig eine solch hohe Erwartungshaltung, dass er nur enttäuscht werden könne, sagt sie.

Natürlich kann man Menschen ihre sexuelle Orientierung nicht an der Nasenspitze ablesen. Doch Melanie sagt sogar selbst halb im Scherz: „Meine Eltern halten mich wahrscheinlich für den langweiligsten Menschen der Welt.“ Und auch ihr Bruder, der ebenfalls in der BDSM-Szene unterwegs ist, war überrascht, als er von den Vorlieben seiner kleinen Schwester erfuhr. Er habe gedacht, sie sei prüde, sagt sie und muss schmunzeln. Wenn man sich als Vanilla – so nennen die Menschen aus der Szene jene, die nicht auf BDSM stehen – jemanden vorzustellen versucht, dem BDSM gefällt, würde man aber wohl tatsächlich vielleicht nicht zuerst an eine junge Frau mit langen, dunkelbraunen Haaren, mit einer Brille auf der Nase und einem Blümchenkleid, das bis zu den Knie reicht, denken. 

Aber so einfach ist es eben nicht. Leder oder Latex sucht man bei den Treffen vergeblich. Viele, die zum ersten Mal kämen, seien trotzdem überrascht, auf ganz normale Menschen zu treffen, sagt Melanie. Erleichtert stellen sie dann fest, dass sie gar nicht pervers sind.

„Auf dem Stammtisch treffen die Menschen auf Gleichgesinnte, die nicht nur verständnisvoll nicken, sondern auch etwas dazu beitragen“, sagt Melanie. Natürlich gibt es aber auch Freunde, die kein Verständnis aufbringen, sondern sich von einem abwenden. Melanie selbst hat zwar in ihrem Freundeskreis durchweg positive Erfahrungen gemacht, aber sie weiß auch von Fällen, in denen die beste Freundin seit dem Coming-out nicht mehr die beste Freundin ist. Dies sei auch einer der Gründe, warum viele nur innerhalb der Szene zu ihren Verlangen stehen, sagt Melanie. 

Selbst Melanie kann sich trotz aller Offenheit nicht vorstellen, mit ihren Eltern oder ihren Kollegen über ihr Sexleben zu sprechen. „Ich persönlich möchte nicht, dass meine Eltern bestimmte Bilder von mir in ihren Kopf bekommen.“ Die wenigsten – egal ob BDSMler oder Vanilla – würden doch schließlich mit ihren Eltern oder ihrem Chef über ihre Sexualität sprechen, sagt Melanie.

Obwohl in den Regeln der Organisation steht, dass flirten nicht erwünscht ist, sind die Treffen für viele die einzige Möglichkeit, gleichgesinnte Partner zu finden. Einen BDSM-Partner auf einer ganz normalen Party kennenzulernen, sei die absolute Ausnahme, sagt Melanie. Und das, obwohl man annehme, dass jeder Zehnte solche Neigungen habe, sagt sie.

Sie selbst hatte Glück und lernte ihren Partner über Freunde kennen, die nichts mit der BDSM-Szene zu tun haben. Dass er ein Erkennungszeichen der Szene trug, den Ring der O, fiel ihr erst beim ersten Date auf. Seinen Ursprung hat der Ring in dem BDSM-Roman „Geschichte der O“ von Pauline Réage. Optisch erinnert er an eine Ringschelle zum Anketten von Tieren. Doms tragen den Ring meist an der linken Hand, um den Sub beim Schlagen mit der rechten Hand nicht zu verletzen.

Gehe man zum ersten Mal auf eines der Treffen, lerne man ganz viel neue Vokabeln, um seine Bedürfnisse zu artikulieren, sagt Melanie. Ohne Übung geht es bei BDSM also weder bei der Kommunikation mit dem Partner noch beim Erlernen verschiedener Praktiken. Am Anfang erfordert das ein bisschen Mut, aber mit der Zeit lernt man, über seine intimsten Geheimnisse zu sprechen. „Heute gibt es nichts mehr, was mir die Schamesröte ins Gesicht treiben kann“, sagt Melanie und lächelt. Als Leiterin des Frauen-Treffs gibt es kaum eine Vorliebe oder einen Fetisch, den sie noch nicht kennt. Grundsätzlich gilt: Es gibt nichts, was es nicht gibt.

Die Community hilft einem aber auch zu erkennen, wann aus einer gesunden BDSM-Beziehung eine gestörte Beziehung wird. Mit häuslicher Gewalt und Unterdrückung habe BDSM rein gar nichts zu tun, auch wenn die Grenzen für Außenstehende schwer zu erkennen sein mögen, betont Melanie. „Safe, sane, consensual“ lautet das Konzept, also „sicher, mit gesundem Menschenverstand und einvernehmlich“, das deshalb jedem aus der Szene geläufig ist.

Herausgefunden hat Melanie mit Anfang 20, dass sie auf BDSM steht. Davor hat sie nur das beherzigt, was ihre Biolehrerin ihr sagte: „Alles, was ihr euch vorstellt, wenn ihr mit euch alleine seid, ist in Ordnung.“ Und so ließ Melanie ihrer Fantasie freien Lauf. Als sie mit 18 ihr erstes Mal hatte, hat sie deshalb gar nicht darüber nachgedacht, dass manche es seltsam finden könnten, wenn man sie bittet, gewürgt zu werden. Heute weiß sie, dass man sich langsam vortasten muss, um seinen Gegenüber nicht zu verschrecken. 

Melanie spricht vom Luxus, sich Zeit für seine eigenen und die Vorlieben und Wünsche des Partners nehmen zu können. Es sei mehr als nur eine Befriedigung von Basisbedürfnissen. Luxus-Sex eben. Obwohl man natürlich viel Geld für Spielzeug ausgeben kann, muss Luxus in diesem Fall aber noch lang nicht teuer bedeuten. „Gerade unter Schülern und Studenten wird viel selber gebastelt und genäht“, sagt Melanie. Ein Besuch im Baumarkt oder in der Seilerei ist deshalb für die meisten BDSM-Pärchen an einem Samstagnachmittag ganz normal.

Text:

Jacqueline Lang

Fotos: Alessandra Schellnegger

Wummern unterm Wellblech

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Im „Container Collective“ kehrt langsam Leben ein. Radio 80 000 sendet schon vom Ostbahnhof, junge Künstler arbeiten in ihren Ateliers. Klappt das Modell, könnte so in Zukunft Raum für Subkultur geschaffen werden.

Der saftige Schokoladenkuchen ist mit reichlich türkisem Zuckerguss überzogen, ein Geländer ist liebevoll mit Zahnstochern nachempfunden. Auf dem Kuchen, den Sophie Herz, 24, zum Geburtstag bekommen hat, steht mit weißem Zuckerguss geschrieben: Hobis, kurz für Holzbildhauerinnen. Der Kuchen ist eine Miniaturausgabe des Containers, den Sophie mit ihren Freundinnen Ana Saraiva, und Melanie Meier, beide 23, vor wenigen Wochen im neu entstehenden „Container Collective“ am Ostbahnhof bezogen hat. 27 Schiffscontainer stehen am Eingang zum Werksviertel nahe des Ostbahnhofs, die meisten davon werden an junge Künstler und Unternehmer vermietet. Zwischennutzung – zunächst für drei Jahre –, das Münchner Allheilmittel für Subkultur.

An einem der ersten warmen Tage des Jahres sind die Türen des Containers weit geöffnet, damit der Geruch der Farbe an den frisch gestrichenen Wänden sich verflüchtigen kann. Der längliche Container ist noch sehr spärlich eingerichtet, doch Sophie hat schon zahlreiche Bilder von ihren jüngsten Arbeiten auf dem Boden ausgebreitet. Sie will damit eine Mappe anfertigen. Und wenn dann endlich auch ihre erste eigene Holzbildhauerbank im Container steht, kann Sophie endlich auch damit beginnen, an ihrem ersten Auftrag als freischaffende Holzbildhauerin zu arbeiten. Denn das ist das Ziel: Irgendwann so viele Aufträge zu bekommen, dass sie nicht mehr nebenbei Modell stehen oder im Café arbeiten muss. Sophie will von der Kunst leben können. 

Der Einzug in ihren türkisfarbenen Container ist deshalb auch für Ana mehr als nur die Möglichkeit, ungestört zu werkeln. „Es ist wie ein Traum, der wahr wird“, sagt Ana, die nebenbei ebenfalls noch als Model arbeitet. Sie lächelt, als sie sich leicht erschöpft nach einer Schicht in der Kaserne de Janeiro auf einem der Stühle in der Sonne niederlässt.

Das Kollektiv besteht aus insgesamt 27 Containern, von denen 15 von Robinson Kuhlmann und Markus Frankl vermietet werden. Unter anderem an die Jungs von Qualia-Monaco, die an ihren Motorrädern schrauben, an Dominik Obalski und seine Cocktail-Schule. Sogar ein Unternehmensberater arbeitet hier.

In der Mitte zwischen den Containern stehen alte Holzkisten, in die schon junge Bäumchen gepflanzt wurden, und große Wassertanks, die nachts in bunten Farben leuchten. Das Design der Container ist bewusst sehr unterschiedlich. Dem Münchner Street-Art Künstler Loomit, der selbst im Werksviertel angesiedelt ist, sind keine Grenzen gesetzt. Robinson ist es lieber, dass die Kunstwerke anecken, als dass sie nicht einmal auffallen. Die verschiedenen Graffiti auf den Containern passen zu den sehr unterschiedlichen Mietern.

In den zwölf Containern, die nicht vermietet werden, befinden sich unter anderem ein Ausstellungsraum, eine Bar, die noch keinen Namen hat, und ein Café namens Kaserne de Janeiro, das Robinsons Bruder Neville betreibt. Der hatte eigentlich eine längere Reise nach Brasilien geplant, aber dann kam das „Container Collective“ dazwischen. Familie geht vor. 

Passenderweise kommen die ausrangierten Schiffscontainer aus aller Welt und lassen neben den vorbeirauschenden Zügen am Ostbahnhof ein Gefühl von Urlaub und ja, vielleicht auch von Großstadt aufkommen. Eben jenes Großstadt-Feeling, das München so oft abgesprochen wird. In den kommenden Jahren seien noch weitere Container-Städte nach ähnlichem Prinzip in München in Planung, verrät Robinson. Das Kollektiv könnte also – bei Erfolg – die Weichen für mehr Raum für Subkultur stellen.

Ursprünglich wollte man auf dem ehemaligen Pfanni-Gelände Raum für Einzelhandelsverkaufsflächen schaffen. Robinson überzeugte Pfanni-Erbe Werner Eckart aber schnell von einem anderen Konzept: weniger Einzelhandel, mehr Popkultur. Mit einer Mischung aus Gastronomie und Kreativität will er der kleinen Container-Stadt nun Leben einhauchen. Drei Jahre dürfen sie vorerst bleiben, was danach passiert, ist noch ungewiss. Aber vielleicht wird das Projekt sogar auf sechs Jahre verlängert. 

Die Ungewissheit macht für Robinson aber den besonderen Reiz aus. Deshalb will er auch nicht in erster Linie große Firmen in den Containern sehen, sondern viele junge Münchner, die Lust haben, aktiv mitzugestalten. Und das wird auch belohnt: Wer sich am Kollektiv beteiligt, sei es durch die Arbeit im Café oder beim Bewerben der zahlreichen geplanten Veranstaltungen, kann an der Miete sparen. Die soll aber sowieso für alle erschwinglich bleiben, sagt Robinson – genaue Zahlen will er aber nicht nennen. Das wichtigste ist für Robinson aber vor allem eines: „Die Leute sollen ein Strahlen in den Augen haben, wenn sie zum ersten Mal in ihrem eigenen Container stehen.“

Leo Bauer, 24, und Felix Flemmer, 23, vom Radio 80 000 wirken zwar mit ihren jungen Jahren schon sehr ernst, doch wenn man sie fragt, was der Container für sie bedeutet, spürt man es doch: die Begeisterung. Seit April 2015 gibt es das Radio, seit Mai 2016 sogar einen permanenten Stream. Bislang mussten Leo und Felix aber alles von zu Hause aus machen. Den Container, der ihnen vom Musiklabel „Public Possession“ zur Verfügung gestellt wird, begreifen sie als Plattform, als „Raum für die Community“, wie Felix sagt. Mit einer zuverlässigen Technik wollen der gelernte Grafikdesigner Felix und Leo, der aktuell noch seinen Master im Bereich Exhibition Design macht, ihre Grenzen austesten, sich selbst etablieren. 

Der erste Livestream aus dem Container Ende Februar war ein Höhepunkt. Bis zum 11. März, wenn ihre offizielle Eröffnungsfeier stattfindet, wollen sie aber noch weiter an den Feinheiten feilen. Weil in dem weiß gestrichenen Container fast die komplette Einrichtung aus Holz ist und auf Rollen steht, können sie die Turntables im Sommer auch problemlos an die Tür schieben und die Container-Stadt beschallen, wenn der Livestream nicht sowieso im Café läuft. 

Das ist schließlich das Schöne an der Lage des Container-Kollektivs: Wirklich stören kann man hier mit lauter Musik niemanden, weil sich rund herum nur Bürobauten und zahlreiche Baustellen befinden. Ärger könnte es also am Ende nur mit den Container-Nachbarn geben. Robinson ist jedoch darum bemüht, die Container so zu vermieten, dass jeder zufrieden ist. Dass auch Kreative nicht immer ganz so entspannt sind, wie sie vorgeben zu sein, versteht sich für ihn dabei von selbst. Was sich die Radiomacher vom Leben im Kollektiv erhoffen? „Ich hoffe, dass die Leute mit ihrem Kaffee einfach bei uns vorbeikommen“, sagt Leo und legt eine neue Platte auf den Plattenteller. Demnächst wollen sie noch eine Flagge mit ihrem Logo aufhängen, damit man sie leichter findet. Der Fahnenmast liegt schon bereit.

Die meisten Bewohner des Kollektivs kennen sich aber sowieso schon, zumindest über mehrere Ecken. Beim Betreten des Radio 80 000-Containers sitzt auch Pawel in der Ecke, der gerade erst in seinen eigenen Container eingezogen ist. Pawel Szczypinski ist 26 und bezeichnet sich selbst als experimentellen Produktdesigner. Seine jüngste Arbeit war die philosophische Auseinandersetzung mit dem Begriff Transparenz. Das Ergebnis ist ein Tisch aus Epoxidharz, dem er Farbe beigemischt hat. Das ganze erinnert an eine Wolke.

„Ich setze Design in einen abstrakten Kontext“, sagt Pawel. Ihm sei bewusst, dass es dafür aktuell noch keinen großen Markt gebe. Deshalb teilt er sich seinen Container auch mit zwei Architekten und einem weiteren Produktdesigner, um Geld zu sparen. Mit ihnen will er aber auch seine Erkenntnisse teilen und einen Weg finden, sie für eine breitere Masse umzusetzen. 

Der Container ist für ihn die Möglichkeit, auch mit geruchsintensiven Materialien arbeiten zu können, ohne jemanden zu stören. In erster Linie soll der Container aber als eine Art PR-Stand für seine Arbeit fungieren. Pawel ist in jedem Fall froh, dass Robinson sich für ihn als Mieter entschieden hat, statt für einen Millionenkonzern. Hätte er nicht einen der Container beziehen können, hätte er wahrscheinlich noch sehr lange nach einem geeigneten Raum suchen müssen. Denn in diesem Punkt sind sich alle Bewohner des Kollektivs einig: In München ist es schwer, bezahlbare Räume zu finden – egal, ob man bereits etabliert ist oder nicht.

Robinson will die kommerzielle Nutzung nicht komplett ausschließen. Einer der 15 Container soll deshalb als Pop-up-Store fungieren. Maximal drei Monate soll der Store an einen Betreiber vermietet werden. Alle anderen Container hat Robinson zunächst für ein Jahr ausgeschrieben, danach wird sich zeigen, ob die Leute bleiben oder ob andere von der langen Warteliste nachrücken.

Stellt man sich gegen Abend auf die Terrasse der Bar im ersten Stock, sieht man zwischen den Hochhäusern bereits das leuchtende Abendrot. Mit der untergehenden Sonne wird es langsam frisch. Die letzten Handwerker wuseln noch umher und eine junge Frau mit leuchtend roten Lippen lässt sich auf einer der blauen Holzbänkchen vor dem Café nieder und dreht sich eine Zigarette. Im Hintergrund hört man das Rattern der Züge und das leise Wummern der Bässe.

Text: Jacqueline Lang

Fotos: Stephan Rumpf

Hilfe für eine bessere Zukunft

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Michaela M., 23, ist eine von vielen zahlreichen Müttern in München. Vielen von ihnen fehlst es am nötigsten. Die Initiative “Jump” unterstützt diese Menschen in dieser schwierigen Lebensphase.

Jetzt erst recht. Das hat sich Michaela M. gedacht, als sie mit 19 ungeplant schwanger wurde. Für die heute 23-Jährige, die ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, hat sich damals mehr verändert als die Größe ihres Bauches. Ihr komplettes soziales Umfeld stellte sich gegen sie, sogar ihre damals beste Freundin. Die hellblauen Augen der jungen Mutter werden glasig, als sie davon erzählt. Auch heute sitzen die Enttäuschung und der Schmerz noch tief.

Doch obwohl Michaela auf viel Widerstand gestoßen ist, hatte sie doch mehr Glück als die meisten werdenden Mütter ihn ihrem Alter: Ihre Eltern haben nie versucht, ihr die Schwangerschaft auszureden und mit dem Vater ihrer mittlerweile zwei Töchter ist Michaela immer noch zusammen.

„Ungeplant, aber nicht ungewollt“, sagt sie.

Michaela ist eine von vielen jungen Müttern, die bei der Münchner Initiative Jump, kurz für Junge Mütter Perspektiven, eine Anlaufstation gefunden haben. Die berufsbezogene Jugendhilfe kümmert sich um „Jugendliche, die irgendwie aus dem System gefallen sind“, wie Gertrud Köpf es formuliert. Die Sozialpädagogin und ihre Kollegin bieten eine zehnmonatige Maßnahme an, die sich an überwiegend alleinerziehende Mütter bis 25 Jahre richtet.

Die Initiative Jump versucht die jungen Mütter so gut es geht auf ihrem nicht immer sehr leichten Weg in eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder zu unterstützen. Die finanziellen Mittel, die der Beratungsstelle zur Verfügung stehen, dürfen sie aber nur für das Coaching verwenden.

Manchmal, sagt Köpf, fehle es aber am Nötigsten: Dann haben die jungen Mütter am Ende eines Monats nicht einmal mehr genug Geld für Windeln – von einem zweiten Paar Hausschuhe für die Kita ganz zu schweigen. Für solche Fälle würde die Initiative Jump gerne einen Nottopf einrichten.
Zu den wichtigsten Beratungsinhalten gehört eine Begleitung in Richtung Arbeitswelt. Aber auch das Thema Kindesbetreuung ist in München ein großes Problem. Die jungen Mütter müssen oft lange auf einen Platz warten. Köpf kennt auch Fälle, in denen der einzige freie Kita-Platz am anderen Ende der Stadt liegt. Daraus resultieren neue Probleme: Es wird unmöglich, pünktlich zur Arbeit oder in die Schule zu kommen oder aber das Geld für eine Monatskarte mit Hartz IV beiseite zu legen. Auch deshalb leben junge Mütter neben alten Menschen in Deutschland am häufigsten an der Armutsgrenze.

Schwierig ist, dass viele Arbeitgeber jungen Müttern keine Teilzeitstellen anbieten – für Mütter mit kleinen Kindern die einzige Möglichkeit, überhaupt zu arbeiten. Auch Michaela, die aktuell in Elternzeit ist, steckt in schwierigen Verhandlungen mit ihrem Arbeitgeber. Obwohl die 23-Jährige eine unbefristete Stelle als Sachbearbeiterin hat, wird es nicht leicht werden, ihren Arbeitgeber davon zu überzeugen, sie auf Teilzeit herunterzustufen. Aber auch wenn das nicht klappen sollte, ist Michaela dank der Beratung durch Jump vorbereitet. Zusammen mit der Initiative hat sie den Entschluss gefasst, dass sie in diesem Fall ihre abgebrochene Ausbildung zur Bürokauffrau zu Ende bringen wird. Aber auch ihren eigentlichen Traumjob, Medienkauffrau, will Michaela noch nicht ganz aufgeben. Etwas, das sie, wie sie sagt, erst durch die Kinder gelernt hat: Es ist wichtig, Träume und Ziele im Leben zu haben. „Wenn du den ganzen Tag arbeitest und dann nach Hause kommst, musst du mit einem guten Gefühl nach Hause kommen“, sagt Michaela. Auch sonst, so glaubt Michaela, habe sie sich durch Mila und Elisa nur zum Positiven verändert. Sie sei viel zuverlässiger und denke nicht mehr nur an sich. „Das einzige, was ich bereue, ist die Zeit vor meinem Kindern“, sagt sie und lächelt.

Viele der jungen Mütter, die an Jump vermittelt werden, stecken in finanziellen Schwierigkeiten, manche sind hoch verschuldet. Michaela lebt zwar nicht am Existenzminimum, aber um sich und ihrer kleinen Familie ein besseres Leben ermöglichen zu können, wünscht sie sich einen Laptop zum Schreiben von Bewerbungen. Ein weiterer Wunsch der jungen Mutter ist ein Führerschein. Wäre sie mobiler, könnte sie sich auch auf Stellen bewerben, die weiter entfernt sind. Trotzdem bleibt sie bescheiden. „Ich habe mir den SZ-Adventskalender vom vergangenen Jahr angesehen und gemerkt, wie viel Glück ich dann doch im Leben hatte und habe“, sagt sie und wirkt dabei fast verlegen.

Die Initiative wird unterstützt vom SZ-Adventskalender. Mehr Infos unter https://www.facebook.com/SZAdventskalender

Text: Jacqueline Lang

Foto: Alessandra Schellnegger

Leben lernen

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Die Innere Mission und die KONA unterstützen WGs wie die von Florian, Christopher und Sissi. In solchen Wohnprojekten finden ehemalige junge Krebspatienten in den Alltag zurück- für Erleichterungen fehlt aber oft das Geld.

Florian, 26, Christopher, 25, und Sissi, 20, leben in einer Wohngemeinschaft in Schwabing. Sie gehören zu der Generation von jungen Menschen, die den Krebs besiegt hat und für die ein normales Leben fast möglich geworden ist. Fast: Florian, Christopher und Sissi haben mit neurokognitiven Spätfolgen zu kämpfen, sprich mit Konzentrations-, Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen. Das führt häufig zu einer reduzierten Belastbarkeit der Betroffenen. 

Und hier setzt das Wohnprojekt an, eine Kooperation von der Inneren Mission und KONA, kurz für „Koordinierte Nachsorge“. Damit die Bewohner bei Schwierigkeiten einen Ansprechpartner haben, gibt es feste Stunden, in denen drei Begleiter vor Ort sind. Unter der Woche gibt es für die Bewohner zudem eine Struktur mit festem Programm. Dazu gehören Gesprächsgruppen, Einzelgespräche, aber auch Freizeitaktivitäten wie das gemeinsame Kochen. Langfristig sollen die drei Bewohner so auf das Leben alleine vorbereitet werden. „Ganz ohne Unterstützung wird es wahrscheinlich nie gehen“, sagt Petra Waibel, Leiterin von KONA. Ziel soll es trotzdem sein, dass die Bewohner irgendwann mit so wenig Unterstützung wie möglich, aber so viel wie nötig, alleine zurecht kommen. 

Trotz der einmaligen Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben in einer Wohngemeinschaft zu führen, bleiben natürlich auch bei den drei jungen Erwachsenen Wünsche offen. Weil das Geld knapp ist und sich sowohl KONA als auch die Innere Mission mit denen ihnen zur Verfügung stehenden Geldern auf die psychosoziale Nachsorge beschränken müssen, bleibt selten Geld für gemeinsame Ausflüge und andere Unternehmungen. Am liebsten würden Christopher, Florian und Sissi ab und zu in die Bergen fahren, um dort neue Energie zu tanken. Auch ein kleines Sommerfest sowie eine Weihnachtsfeier, zu der sie Freunde und Familie einladen könnten, würden sie mit etwas finanzieller Unterstützung gerne realisieren. Denn was für die meisten jungen Menschen selbstverständlich ist, ist für die drei jungen Menschen hart erkämpfte Normalität.

Warum solche Einrichtungen nicht schon längst in deutlich größerer Zahl vorhanden sind? Petra Waibel hat eine ebenso einfache wie traurige Antwort: „Früher haben die Kinder alle nicht so lange überlebt.“ Umso schöner ist es, dass es jetzt Bedarf dafür gibt.

Die Arbeit von KONA knüpft dort an, wo die Behandlung der Krankheit aus medizinischer Sicht abgeschlossen ist. Denn auch wenn der Körper den Krebs besiegt hat, haben die Menschen meistens noch lange danach mit den Folgen zu kämpfen – viele sogar ihr Leben lang. 

Nach einer Chemotherapie und einer langen Zeit der Isolation aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr müssen etwa soziale Kontakte neu geknüpft, Beziehungen wieder in normale Bahnen gelenkt werden. Manchmal stellt sich auch die Frage, ob die Schule, die man zuvor besucht hat, überhaupt noch geeignet ist. Gerade bei Patienten mit einem Gehirntumor treten häufig neurokognitive Spätfolgen auf. Diese Spätfolgen können auch dazu führen, dass Berufswünsche nicht mehr realistisch sind. Waibel und ihr Team versuchen dann, gemeinsam mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen realisierbare Ziele zu erarbeiten und sie praktisch beim Erreichen dieser Ziele zu unterstützen. Der Gang zum Arbeitsamt ist dabei genauso entscheidend wie eine Antwort auf die Frage: Was sage ich zu den Lücken in meinem Lebenslauf?

Auch Rebekka, eine junge Frau, die im Münchner Umland lebt und täglich in die Stadt fahren muss, wird von KONA betreut. Rebekka ist in ihrer Kindheit an Leukämie erkrankt und seitdem körperlich nur noch eingeschränkt belastbar. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, ist für sie sehr anstrengend. Ihr Leben von der Krankheit bestimmen zu lassen, will Rebekka dennoch nicht. Ihr Wunsch: endlich einen Führerschein haben. Würde dieser Wunsch in Erfüllung gehen, hätte Rebekka damit mehr zurück gewonnen als nur ein Stück Mobilität. Genau wie für Sissi, Christopher und Florian bedeutet jeder noch so kleine Schritt in Richtung selbstbestimmtes Leben einen Sieg – gegen den Krebs, für das Leben.  

Das Projekt wird unterstützt vom SZ Adventskalender. Mehr Infos:

www.facebook.com/szadventskalender

Text: Jacqueline Lang

Foto: Robert Haas

Neuland: ÜberFrauen

Als Autorin und Bloggerin war Anika Landsteiner viel in der Welt unterwegs und bemühte sich stets darum, Vorurteile und Ressentissements abzubauen. Ihr neues Projekt heißt ÜberFrauen und bietet verschiedenen Frauen eine Plattform, über ihre Erfahrungen zu sprechen.

Anika
Landsteiner, 29, ist schon seit mehreren Jahren als Reisebloggerin von ani-denkt
und Autorin in München und der Welt unterwegs. Ihr neustes Projekt trägt den
Namen ÜberFrauen und ist eine Veranstaltungsreihe, die Frauen eine Plattform
geben soll, über ihre Erfahrungen im Job, aber auch aus ihrem Privatleben zu
sprechen. Pro Abend lädt Anika drei Rednerinnen ein, die zu einem Überthema
referieren sollen. 

Die Idee dazu kam ihr im Gespräch mit einer guten Freundin.
Ihr fiel auf, wie sehr die Freundin an sich selbst zweifelte, obwohl sie schon
so viel erreicht hat. „Ich kenne viele Frauen, deren Selbstbewusstsein viel
kleiner ist, als man von außen mutmaßen würde oder die sich schlichtweg nicht
trauen, eine erfolgreiche Frau um einen Tipp zu fragen“, sagt Anika. Das möchte
sie ändern. Bei der Wahl der Rednerinnen versucht sie deshalb auch eine bunte
Mischung aus jungen und älteren Frauen sowie unterschiedlichen Berufszweigen
zusammenzustellen. Das können Freundinnen von Freunden sein, aber auch
Menschen, auf die sie in den sozialen Netzwerken aufmerksam geworden ist. 

Die
erste Veranstaltung fand am 15.September im Café Lotti statt, ein zweites Event
ist nun für den 29.November in der Buchhandlung Isarflimmern geplant. Und obwohl
die Veranstaltungsreihe ÜberFrauen heißt, sind natürlich auch Männer im
Publikum nicht ausgeschlossen, sagt Anika.

Text: Jacqueline Lang

Foto: 

Deniz
Ispaylar

Mein München: Sonnenstraße

Seit einem Praktikum in Paris zieht Lorraine Hellwig nachts mit ihrer Kamera durch Bars und Clubs, auf der Suche nach der perfekten Aufnahme um das hiesige Nachtleben zu portaitieren.

Während eines Praktikums in Paris hat Lorraine Hellwig, 23, das dortige Nachtleben – das Feiern, das Tanzen, das Ausgelassen sein – in Bildern festgehalten. „Als ich dann wieder in München war, wollte ich dieses Gefühl beim Feiern, die Euphorie, aber auch den Weg nach Hause, sagen wir mal die ,ruhigere Seite‘ nach so einer Nacht, festhalten“, sagt die junge Münchnerin, die seit drei Jahren an der Hochschule München Fotografie studiert. Die Kamera ist dabei für Lorraine aber nur „ein Mittel zum Zweck“, sagt sie. Ihr geht es vor allem darum, ihre Projekte perfekt umzusetzen – sei es digital oder analog.

Zusammen mit der Schauspielstudentin Caroline Tyka und Valerie Huetterer, die sich um das Styling gekümmert hat, hat sie sich deshalb ins Münchner Nachtleben begeben. Das Ziel: diesen spontanen Moment nach dem Feiern mit ihrer Kamera einzufangen. Nach ein paar Stunden im Club ist dann auf der Sonnenstraße vor einem Geschäft dieses Bild entstanden: Schauspielstudentin Caroline stützt sich mit ihrem Arm am Schaufenster ab, der eine Ärmel ihrer Jacke ist ihr von der Schulter gerutscht und gibt den Blick auf ihren knallgelben Pullover frei. Ihr Blick ist starr auf die hell erleuchtete Auslage im Schaufenster gerichtet. Bis auf vereinzelte Lichtpunkte im Hintergrund ist das Bild sonst schwarz.

Es ist halb vier Uhr morgens in München, eine wilde Nacht neigt sich dem Ende zu.  

Text: Jacqueline Lang

Foto: Lorraine Hellwig

Nebel im Hochsommer

Es ist heiß. Sehr heiß. Die Leute schwitzen – aber jeder bleibt sitzen und hört fasziniert zu: „Blue Haze“ spielen ein WG-Konzert in Untergiesing

Von Jacqueline Lang

Nebel, viel Nebel. Und rote Grablichter auf dem hellen Laminat. Im Mittelpunkt zwei Gestalten ganz in Schwarz. Sie im kleinen Schwarzen, dazu Ankle Boots mit hohem Absatz; er in Hemd und Jeans, dazu spitz zulaufende Lederstiefel. Diese zwei Gestalten sind Rosa Kammermeier und Julian Riegl, beide Mitte 20. Zusammen sind sie die Münchner Band Blue Haze. Passend zum Ambiente klingt ihre Musik etwas düster, Elektro-Pop mit Rock-Einflüssen, beeinflusst von Regisseur und Musiker David Lynch, wie sie sagen.

Zu Gast ist die Band am Samstagabend in einer WG in Untergiesing. Gastgeberin und Gewinnerin des WG-Konzerts der Junge-Leute-Seite ist Sina Lena Schneller, 26. Eigentlich wohnt die quirlige Blondine hier mit drei Jungs – die sind aber alle ausgeflogen. Macht nichts, denn die selbstgebaute Holz-Kühltruhe haben sie da gelassen. Die steht auf der schmalen Empore, an die der Balkon angrenzt. Man muss also nicht jedes Mal in die Küche laufen, wenn man ein Bier, einen Cider oder eine Matcha-Limonade möchte. Anders Blue Haze: Die Band hat seit dem frühen Nachmittag ihr ganzes Equipment und mehrere Kästen Augustiner die schmale Wendeltreppe mühsam hoch geschleppt. Inklusive Nebelmaschine. Das Bier hat Sinas Chef gesponsert. Der Inhaber des Rennsalons ist an diesem Abend sogar selbst zu Gast. Und auch sonst hat man das Gefühl, dass die halbe Belegschaft versammelt ist, um Blue Haze live zu erleben. Kaum verwunderlich, denn schließlich ist auch Rosa keine Unbekannte in der Bar im Glockenbachviertel. Regelmäßig legt sie dort mit Freundin Sina unter dem Namen „The Underground Girls“ auf. Entsprechend durchgemischt ist aber auch das Publikum an diesem Abend: Anfang 20 trifft auf Mitte 40, barfuß trifft auf Stöckelschuh, Rocker-Kluft trifft auf Blümchenkleid.

Obwohl Rosa und Julian ihre gemeinsamen Live-Auftritte bislang an einer Hand abzählen können, wirken sie sehr routiniert. Mit anderen Bandprojekten wie Kafkas Orient Bazaar und Lilit and the Men in Grey konnten sie in dieser Hinsicht auch schon reichlich Erfahrung sammeln. Dennoch lächelt Rosa bei jedem Applaus ein klein wenig verlegen.

Getanzt werden kann nicht, weil der Platz dafür schlicht nicht ausreicht, doch das gesamte Publikum wippt entweder mit Kopf oder Fuß zu den mal schnelleren, mal langsameren Beats. „Das war gerade ,No Love‘, aber hier ist sehr viel Love“, sagt Julian nach dem zweiten Song und lächelt kurz. Dann blickt er wieder konzentriert auf die zahlreichen Schalter zu seinen Füßen. Den Kopf wirft er dabei immer wild nach oben und nach unten, während er in die Saiten greift. Seine schwarze Haarmähne wirbelt durch die Luft und steht Rosas damit in nichts nach – im Gegenteil.

Nach dem vierten Song sind trotz des schwachen Kerzenlichts schon deutliche Schweißtropfen auf Rosas und Julians Stirn zu erkennen, auch das Publikum schwitzt im Stehen. „Ich hoffe, ihr habt vorher nicht geduscht“, sagt Julian, lacht und nimmt einen großen Schluck von seinem Wasser. Trotz der stehenden Luft im Raum drückt Rosa immer wieder auf den Schalter der Nebelmaschine. Was tut man nicht alles für eine gute Show?

Der letzte Song, jemand drückt versehentlich auf den Lichtschalter und alle lachen leise. Nachdem der letzte Ton verklungen ist, sind trotzdem alle froh, dass endlich wieder Türen und Fenster geöffnet werden dürfen. Das sei hier ja wie in der Sauna, sagt jemand auf dem Weg an die frische Luft. Gastgeberin Sina macht eine Ansage: „Jetzt kann man wieder atmen. Und rauchen. Bier ist im Kühlschrank.“ 

Für Bandmitglied Julian gibt erst einmal eine Runde Belohnungsküsschen von der Freundin. Und einen Dürum-Döner. Der hat schon die ganze Zeit neben dem Laptop auf ihn gewartet. Die restlichen Personen versuchen, sich einen Platz auf dem kleinen Balkon zu ergattern. So auch Rosa. Erschöpft und zufrieden nimmt sie einen Zug von ihrer Zigarette. Dann lehnt sie sich zurück und atmet langsam ein. Luft, endlich Luft. 

Fotos: Käthe deKoe

Von Kopf bis Fuß

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Weil Essen neben
Schreiben meine größte Leidenschaft ist, konnte ich es mir natürlich nicht entgehen lassen, Vincent Fricke nach unserem Gespräch auch selbst in seinem Pop-Up Restaurant Fleischkonsum zu besuchen. Eine Kritik.

Das Nudo sieht heute ein bisschen anders aus. An der Wand hängen Bilder von Schweineköpfen, in der Vitrine liegen Schenkel. Das leicht veränderte Interieur hat einen Grund: Für insgesamt acht Tage ist das Pop-Up Restaurant Fleischkonsum hier zu Gast. Auf der Karte stehen deshalb statt Pasta diverse Innereien. Ganz schön viel Fleisch gegen übermäßigen Fleischkonsum – so hat Jungkoch Vincent Fricke mir seine Idee erklärt.

Doch kommen wir nun zum Wesentlichen, dem Menü: Den Anfang macht ein
Aperitif, der in diesem Fall ganz ohne Alkohol und flüssige
Konsistenz auskommt: zwei winzige Häppchen, die hübsch anzusehen
sind, aber nichts mit Fleisch zu tun haben. Dafür zeigen die
Miniaturbrote aber sehr schön, wie die gleiche Zutat bei anderer
Zubereitung völlig anders schmecken kann. Radieserl mit Kresse und
eingelegtes Radieserl haben geschmacklich nur noch wenig miteinander
gemein. Lecker ist beides.

Der erste Gang kommt in
einem kleinen Schälchen daher: knusprige Schweineohren-Streifen.
Weniger ein Gang als ein Snack. Und weil man ja immer sofort
überlegt, wonach das eigentlich gerade schmeckt, was man isst: Es
schmeckt wie die Kruste vom Schweinebraten. Mhmm.

Der zweite Gang ist der
erste Gang, bei dem ich ein wirkliches Aha-Erlebnis habe.
Kalbsbackerl habe ich im vergangenen Winter selbst ab und zu
geschmort, aber die Schweinebacke ist für mich Neuland. Genauso wie
Kinn und Kiefermuskel. Wahrlich eine Hommage an das Hausschwein –
vor allem in Kombination mit dem leckeren Artischockenpüree!

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Auch der dritte Gang weiß
zu überraschen: Der Gurkensaft ist eher unspektakulär, der
Rettichschaum hat eine leicht irritierende Ziegennote – später
stellt sich heraus, dass Ziegenfrischkäse enthalten ist – dafür
ist aber das Knochenmark mit karamellisierten Zwiebeln eine echte
Entdeckung. Für alle, die eher skeptisch sind: Schmeckt wie
flüssig-cremiger Schweinebraten und zergeht im wahrsten Sinne des
Wortes auf der Zunge!

Mein persönlicher
Lieblingsgang ist dennoch der vierte Gang: Ravioli vom ganzen
Zicklein mit Kapern und kalter Tomatensoße aus grünen Tomaten.
Einziger Kritikpunkt: Das ganze Zicklein ist durch den Wolf gejagt,
weshalb einzelne Bestandteile nur zu erahnen sind und es nur der
Ziegen-Geschmack ist, den manche vielleicht stören könnte.
Trotzdem köstlich! Grüne Tomaten sind eh schon länger ein
Geheimtipp, weil sie weniger Säure als rote Tomaten enthalten, aber
auf eine kalte Soße bin ich in dieser Form selbst noch nicht
gekommen.

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Der fünfte Gang hält
mit Herz und Schwanz vom Rind wieder zwei echte Schmankerl bereit.
Und Steinpilze gehen sowieso immer. Das Roast Beef ist im Verhältnis
allerdings eher fad. Mag aber auch an der Konkurrenz liegen.

Kommen wir zum
wichtigsten Gang, wenn es nach mir geht: die Nachspeise. Auch die
kommt ohne Fleisch aus. Und es wäre übertrieben zu sagen, es sei
DIE beste Crème Brûlée, die ich je gegessen hätte, aber es ist
auf jeden Fall eine der besten.

Was ich mitnehme von
einem Abend voller Fleisch? Dass ich kulinarisch immer noch viel
lernen kann und das Essen einfach immer glücklich macht. Manchmal
hätte ich mir noch ausgefallenere Zutaten oder Zubereitungsarten
gewünscht. Andererseits ging es ja nicht darum, möglichst
ausgefallene Kreationen zu zaubern, sondern vielmehr zu zeigen, dass
auch Innereien was für Jedermann sein können. Großartig ist
deshalb, dass jeder eine Auswahl der Rezepte zum Mitnehmen
bekommt. Und wunderbar subtil schafft es Vincent Fricke, wieder
einen Bezug zwischen Tier und Nahrungsmittel herzustellen. Chapeau!

Wer mehr über Vincent erfahren möchte: http://jungeleute.sueddeutsche.de/post/149324362126/fleischeslust

Text: Jacqueline Lang

Fotos: VIncent Fricke und Alexandra Casper

Fleischeslust

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Jungkoch Vincent Fricke eröffnet das  Pop-up-Restaurant 

“Fleischkonsum”.  Die Idee dahinter: 

Mit jeder Menge Fleisch will er auf den übermäßigen Fleischkonsum aufmerksam machen.

Am liebsten isst Vincent Fricke Herz. Vom Rind. Mit seinem Pop-up-Restaurant „Fleischkonsum“ möchte der Jungkoch den Menschen deshalb zeigen, dass Innereien richtig zubereitet sehr schmackhaft sein können. Er möchte mit jeder Menge Fleisch auf den übermäßigen Fleischkonsum aufmerksam machen. Vor allem aber will er wieder ein Bewusstsein dafür schaffen, dass jedes Stück Fleisch, das bei uns auf dem Teller landet, mal ein Lebewesen war. Und das hatte eben nicht nur saftige Lenden, sondern auch ein weiches Herz. Vom 24. August bis 27. August und vom 31. August bis 3. September kann man sich von Vincent’s Drei- bis Fünf-Gänge-Menüs in den Räumlichkeiten des Nudo in der Amalienstraße überzeugen lassen. Oder zumindest mal eine erste Kostprobe wagen.

Man sollte jedoch gewarnt sein, denn Vincent’s Konzept „from nose to tail“ darf und sollte man wörtlich nehmen: An den ersten vier der insgesamt acht Tage, die das Restaurant geöffnet hat, stehen unter anderem Knochenmark und der Schwanz vom Rind auf der Speisekarte. Weil der gebürtige Sachse aber weiß, dass seine Kreationen zumindest beim ersten Lesen gewöhnungsbedürftig sind, gibt es für seine Gäste auch die bei jedem Metzger erhältliche Rinderbrust. Die Mischung macht’s.

Das Pop-up-Restaurant ist Vincents aktuellstes Projekt, aber nebenbei berät er auch Restaurants und Bars beim Erstellen von kulinarischen Konzepten. In jüngster Vergangenheit kamen so die Bun-Bao-Burger auf die Karte des „Home“. Außerdem hat er ein eigenes Cateringunternehmen, auch wenn er sich hier bislang zumindest in Teilen noch den Wünschen seiner Kunden unterordnen muss.

„Mit den Caterings finanziere ich mir meinen Blödsinn“, sagt Vincent, 30, und streicht sich ein gedankenverloren durch seinen Bart. Immer wieder schiebt er auch seine braunen Haare unter die graue Mütze. Nicht nervös oder gestresst, eher so, als hätte er schon wieder neue Flausen im Kopf. Durch solche Flausen sind auch sein Eintopf-Lieferservice, für den er nun für den kommenden Winter eine vorübergehende Location sucht, sein mittlerweile zweites Kochbuch und sein Supperclub „Sonntagsbraten“ entstanden.
 Seit drei Jahren lädt Vincent alle vier bis acht Wochen zum gemütlichen Dinieren am Sonntag ein – wenn möglich, jedes Mal in einer neuen Location. Wie der Name schon vermuten lässt, geht es auch hier um seine Philosophie, weniger, dafür aber bewusster Fleisch zu konsumieren. Ganz auf Fleisch oder sogar gänzlich auf tierische Produkte zu verzichten, ist für den Genussmenschen jedoch keine Option. Eine vegane Ernährung hält er für schädlich. Auch für einen rein vegetarischen Speiseplan isst Vincent zu gerne Fleisch. Aber es soll eben kein Billigfleisch sein, sondern möglichst regional bezogen werden und aus artgerechter Haltung stammen. Das gilt allerdings nicht nur für das Fleisch, sondern alle Produkte, die Vincent in seiner Küche verwendet.

Leidenschaftlicher Koch ist Vincent eher durch Zufall geworden. „Ich wurde teilweise mit Paprika-Rahm-Geschnetzeltem von Maggi vergewaltigt“, witzelt er über seine kulinarische Erziehung. Wie so jemand dann trotzdem Koch wird? Ein damals guter Freund hat sich nach dem Realschulabschluss für eine Ausbildung zum Koch beworben. Aus einer Laune heraus bewarb Vincent sich ebenfalls – und bekam die Stelle. Und obwohl er damals nur weiße Zwiebeln kannte und rote Zwiebeln schälte, bis nichts mehr von ihnen übrig blieb, ist er dabei geblieben.

Seitdem dreht sich bei Vincent alles ums Essen. „Wenn ich nicht koche, rede ich übers Essen oder bin in Restaurants unterwegs“, sagt er und muss über sich selbst lachen. Sein sächsischer Akzent ist nur leicht hörbar, seine Begeisterung fürs Kochen dafür umso mehr.
Diese Begeisterung ist es, die ihn antreibt, immer wieder neue Projekte zu verwirklichen. Ein eigenes Restaurant zu eröffnen, reizt ihn deshalb bislang noch nicht: „Ab dem Zeitpunkt, wo ein Projekt läuft, wird mir langweilig. Und immer dann, wenn einem Koch langweilig ist, sollte er aufhören.“ Im Gegensatz zu Städten wie Leipzig und Berlin macht es einem München manchmal jedoch schwer, so spontan zu sein, wie Vincent es gerne wäre. Trotzdem will er vorerst hier bleiben. Er liebt die Herausforderung. Die Münchner seien zudem fress-affiner als Menschen in manch anderen deutschen Städten, sagt Vincent, lacht und meint das durchweg positiv.  

Von: Jacqueline Lang

Foto: Kristin Arnhold