Andere Länder, andere Zahlen

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Dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen Fahrenheit und Celsius gibt, steht außer Frage. Allerdings können solche kulturellen Verschiedenheiten schnell zu Kommunikationsproblemen innerhalb von internationalen Freundschaften führen.

Jasmine schickt mir einen stirnrunzelnden Smilie. Es ist uns schon wieder passiert. Totale Verwirrung. „Treffen wir uns jetzt um fünf oder um sieben?“, will sie wissen. Ich scrolle die Unterhaltung nach oben und finde den Fehler. Vor einer halben Stunde habe ich ihr geschrieben: „7 am Theatereingang?“ Gemeint habe ich allerdings 17, also fünf Uhr.

Wie immer wollte ich es Jasmine aus Kanada einfacher machen. Schon in der ersten Uni-Woche haben wir festgestellt, dass in Nordamerika aufgewachsene Studenten nicht wirklich vertraut sind mit dem in Europa gängigeren 24-Stunden-System. Ich erinnere mich, wie Jasmine zu ihrem ersten Supervisor-Treffen beinahe zur falschen Zeit aufgetaucht wäre, da sie nicht wusste, was 15 Uhr bedeutet. Allerdings mache ich regelmäßig alles noch komplizierter, wenn ich versuche, „am“ und „pm“ mit den entsprechenden Zahlen zwischen 1 und 12 zu verwenden – 19 Uhr wird aus irgendeinem Grund zu 5. Ähnliches passiert, wenn wir shoppen gehen. „Welche Schuhgröße hast du“, fragt Jasmine. „Ähhh….“, sage ich. „38… ich meine 5 … ich meine … keine Ahnung, was das in deinem System ist.“ Oder wenn sie mir die Temperaturen in ihrer Heimatstadt beschreibt. 77 Grad? Das kann nicht stimmen – bis mir einfällt, dass Fahrenheit anders funktioniert als Celsius.

Schon vor meinem Studium in England war mir klar, dass Maßeinheiten, Uhrzeiten, Kalender – letztendlich alles, was mit dem menschlichen Versuch zu tun hat, Ordnung in ein sinnloses Universum ohne Meterstäbe und Waagen zu bringen – relativ sind. Allerdings habe ich die Auswirkungen der verschiedenen Arten, Ordnung zu schaffen, noch nie so direkt gespürt wie in Oxford, wo auf sehr begrenztem Raum die unterschiedlichsten Nationalitäten und damit Maßeinheiten aufeinander treffen.

Dazu kommt in Oxford dann noch Oxford. Denn in Oxford wird alles noch einmal ein bisschen anders gemacht. Das akademische Jahr wird in drei „terms“ unterteilt, die wiederum in jeweils acht Wochen zerfallen. Woche 1, Woche 2, Woche 3 und so weiter. Offizielle Veranstaltungen, aber auch private Verabredungen werden nur noch mit Nummern bekanntgegeben. Am Anfang runzelte ich die Stirn, als mir meine Mitbewohnerin einen so nur in Oxford erhältlichen Kalender zeigte. Aber schon drei Wochen später dachte ich selbst ausschließlich in Woche 1, Woche 2, Woche 3 und so weiter. Wochen 4 und 5 sind die schlimmsten – man fühlt sich begraben und erdrückt vom Gewicht der hinter und der vor einem liegenden Wochen. Während man sich in München nach acht Vorlesungseinheiten ebenfalls nur noch nach dem Ende des Semesters sehnt, wird es in Oxford bei Notenbekanntgabe wirklich merkwürdig. Bewertungen werden in Prozent ausgedrückt: 50 Prozent sind für ein Bestehen nötig, 80 Prozent zu erreichen, ist in den Geisteswissenschaften unmöglich. 70 Prozent entspricht möglicherweise einer Münchner 1,2.

Ich schaffe es, mich – mehr oder weniger fehlerfrei – mit anderen Maßeinheiten und Zeitrechnungen anzufreunden, aber für mich ist ein Jahr kaum genug Zeit, ein völlig neues Notensystem zu verinnerlichen. Ich lerne zwar die wichtige Lektion, dass man mehr als zufrieden sein kann mit weit weniger als dem, was theoretisch möglich ist (also 100 Prozent oder 1,0). Was das allerdings über meine intellektuelle Leistung aussagt, bleibt irgendwie ungreifbar. Das wiederum scheint nicht nur mir so zu gehen. Ich schicke Jasmine einen stirnrunzelnden Smilie: „65 Prozent – was heißt das jetzt?“ Ihre Antwort: Ich bekomme einen stirnrunzelnden Smilie, „no idea“.

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat

Fremdgänger: Mein Tisch, mein Teller

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Essen und Küche ist Bestandteil einer jeden Kultur. Nur kann man sich in dieser Hinsicht manchmal mit der einen besser und mit der anderen schlechter identifizieren. Unsere Autorin beschreibt ihren geplatzeten Croissant-Traum.

Etwas irritiert und enttäuscht starre ich auf die fast leere Schachtel Madeleines, die vor mir steht, und den Fruchtjoghurt. „Und das frühstückt ihr?“, frage ich meine Gastgeber und bemühe mich, meine Abneigung nicht zu zeigen. Es fällt mir sehr schwer. Die
nicken und bedeuten mir freundlich, mich zu bedienen. Unglücklich löffle ich trotz Laktoseintoleranz den Joghurt, die drei übrigen Madeleines waren schon unter den restlichen Händen verschwunden. So ganz entspricht das nicht dem Frühstück, das ich mir an einem traumhaften Sonntagmorgen im Frankreichurlaub erhofft hatte. Selbst mein alltägliches Haferflockenmüsli erscheint mir geradezu verlockend dagegen. Sehnsüchtig denke ich an die Boulangerie 100 Meter weiter. Als ich mich dezent erkundige, warum man denn dort nichts zum Frühstück geholt habe, ernte ich sehr erstaunte Blicke, die verraten, dass man diese Option von selbst nie erwogen hätte.
 Am nächsten Morgen nehme ich die Angelegenheit selbst in die Hand. Aber als ich mit zwei großen Tüten Croissant und Pain au Chocolat zurückkomme, bin ich die Einzige, die davon isst. Die Franzosen können vieles, aber nicht ordentlich frühstücken. Viele Franzosen trinken einfach einen Tee oder Kaffee, ohne etwas zu essen. Dann gibt es noch die Fraktion, die „bisquits“ mit Honig oder Marmelade bestreicht, in Deutschland gemeinhin bekannt als Zwieback. Kann man sich selbst noch schrecklicher quälen morgens? Warum die Franzosen von all den Köstlichkeiten, die es nur in ihrem Land gibt, zum Frühstück nicht Gebrauch machen, werde ich wohl nie verstehen.

Ich habe als Gastgeschenk – neben Brezn und Bier – Frühstücksbrettchen mit hübschen Münchner Stadtmotiven mitgebracht, deren Sinn sich trotz freundlichen Erklärens niemandem so richtig erschlossen zu haben schien. Sie wurden weggeräumt. Zum Frühstück benutzt man hier keinen Teller, die Brote werden auf dem Tisch bestrichen. Vom Tisch essen? Kein Problem! Dafür macht man ihn ja sauber! Die Krümel und Flecken? Kann man wegwischen. Ach, wenn das so plausibel ist, warum benutzen wir überhaupt noch Teller? Ich bin begeistert. Nix mehr mit abspülen. Ab jetzt ist mein Tisch mein Teller. Das widerspricht meiner gesamten Erziehung. Diese gesamte Frühstückssituation ist an Absurdität kaum zu übertreffen für meinen müden Geist. Fast müsste ich lachen über diesen Anblick.

Doch das ist noch nicht der größte Schrecken. Die größte Umstellung kam mit den Essenszeiten. Dîner, also Abendbrot gibt es hier nicht vor halb neun. Während ich also mit meinem brav an deutsche Essenszeiten gewöhnten Magen von halb sieben an Hunger hatte, musste man um diese Uhrzeit noch ein bisschen herumsitzen, bevor man Abendbrot machen konnte. Dabei ist Abendbrot schon der falsche Begriff. Nix mit Brotscheibe und Aufschnitt, fertig und gut so.
Das Abendessen gestaltet sich als Gänge-Menü. Eine warme Hauptspeise und Salat werden jeden Abend serviert. Darauf folgt die rhetorische Frage „Un peu de fromage?“, wer möchte noch Käse? Danach obligatorisch ein Dessert, um zehn Uhr rolle ich mich schließlich müde und mit vollem Magen in mein Zimmer. Jede weitere Bewegung ist ausgeschlossen. Dafür isst man mittags um 12.30 Uhr. Wer hat denn bitte da schon Hunger? Einen deutschen Tagesrhythmus gewohnt, musste ich den französischen wortwörtlich erst einmal verdauen. Am nächsten Morgen hatte ich dann auch keinen Hunger mehr. Aber ein frisches französisches Buttercroissant würde ich mir in Hinblick auf baldige Abstinenz sogar noch nach einem Fünf-Gänge-Menü genehmigen.

Text: Anne Gerstenberg
Foto: Privat

Fremdgänger: Nervös wie vor dem ersten Date

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Dass unter Studenten hin und wieder gelästert und getratscht wird, das dürfte jedem bekannt sein. In Oxford sind es aber nicht die Kommilitonen, sondern die Dozenten, die oftmals zum Mittelpunkt des Gespräches werden.

Mein Herz hämmert. Ich atme tief durch. Dann klopfe ich an die Bürotür meines Supervisors. Er winkt mich herein. Jedesmal wieder, denke ich mir, und ärgere mich. Jedesmal wieder, wenn ich mich mit dem Betreuer meiner Master-Arbeit treffe, bin ich so nervös wie vor einem ersten Date. Diese Analogie ist nicht einmal so weit hergeholt, denn 98 Prozent meines Studienganges, der zu 98 Prozent aus jungen Frauen besteht, ist seit dem ersten Vorlesungstag verliebt in den schlaksigen Anthropologen, der tagein tagaus erstaunlich enge schwarze Jeans und eine Hipster-Brille trägt.

Niemand von uns hätte erwartet, dass es so sexy sein kann, über Foucault zu sprechen. Aber bei jeder sozialkonstruktivistischen Erklärung aus seinem Mund höre ich einen innerlichen Seufzer durch die Reihen der Kommilitoninnen gehen. Und bei jedem gemeinsamen Abendessen mit meinen Freundinnen endet das Gespräch bei unseren Professoren. Nicht nur bei dem für Anthropologie, sondern auch bei unserem Politik-Professor, der jeden seiner Abschlüsse mit dem „highest grade point average in history of the degree“ abgeschlossen, seine Doktorarbeit in 18 Monaten geschrieben und in den letzten sechs Monaten drei Bücher veröffentlich hat, während er nebenbei an Wochenenden Marathon läuft. Ebenso wie bei unserem Ethik-Professor, dessen Handouts gespickt mit Rechtschreibfehlern sind, und nicht zuletzt unserer Jura-Professorin, die schwanger war und jetzt mit Sicherheit Mutter des süßesten kleinen Wesens in Oxford ist.

In anderen Worten: Wir sind besessen von unseren Professoren und unserer Bewunderung für sie. Wir brainstormen, wie viele Kinder sie haben und ob ihre Partner ebenso brillant sind, wir suchen ihre Facebook-Profile, überlegen, wie viel Schlaf sie brauchen und ob sie auf persönlicher Ebene miteinander auskommen. Jede intime Information, die wir irgendwie ausfindig machen, wird gefeiert, weitergesponnen und dann in unsere Schwarmintelligenz integriert, sodass wir nach kürzester Zeit eine Art Geheimsprache voller Insider-Witze und Anspielungen ausgearbeitet haben, unzugänglich für Nicht-Mitglieder unseres Studiengangs.

Mit Sicherheit ist diese Obsession bedingt durch die überschaubare Kursgröße und unseren sozialen Zusammenhalt, über den sich auch besagte Professoren immer wieder wundern und freuen. Womöglich spielt sich in kleinen Studiengängen in Deutschland Ähnliches ab, die Erfahrung während meines Bachelors in München war jedoch anders. Ich erinnere mich nicht, jemals mit Kommilitonen über das Privatleben unserer Dozenten spekuliert zu haben. Abgesehen vielleicht von der ein oder anderen Anekdote, kommt mir das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden in München im Vergleich zu dem in Oxford ein wenig professioneller, vielleicht sogar typisch deutsch vor. Man hält sich höflich zurück und erlaubt sich nicht einmal heimlich darüber nachzudenken, dass eine „öffentliche Person“ wie ein Professor auch eine „private Person“ – Vater, Mutter, Partner oder Marathonläufer – ist.

Wobei: Ich persönlich verspürte schon immer beinahe übertriebene Ehrfurcht vor Menschen mit Doktortitel und Lehrauftrag. Deshalb raste mein Herz auch vor Besprechungen mit meinen Lieblingsprofessoren in München wie vor einem ersten Date. Jedesmal, wenn ich das Büro des Betreuers meiner Bachelorarbeit in der Schellingstraße verließ, ging ich das Treffen noch einmal in Gedanken durch und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Rückblickend bin ich froh, dass ich in diesen Situationen nicht auch noch die Erinnerung an spätabendliche Spekulationen über sein Privatleben im Kopf haben musste. 

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat

Begleitbären in San Francisco

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Wenn man als eingefleischte Münchnerin in die Welt zieht zum Studieren, erwartet einen immer der eine oder andere Kulturschock. In Kalifornien sorgen Begleitbären für einen gefahrlosen Heimweg von der Universität. Doch auch sonst wird an der amerikanischen Westküste viel Wert auf Sicherheit gelegt.

Der Polizist fängt an zu brüllen. Im Hörsaal links hinter dem Dinosaurierskelett zucken 300 Studenten zusammen. „Seid gefälligst unerschütterlich!“ Das ist die Botschaft der universitätseigenen Polizeidienststelle an die internationalen Gaststudenten. Außerdem sollen wir bitte unbedingt anrufen, wenn wir uns unsicher fühlen. Nachts besser in Gruppen unterwegs sein.

Oder gleich mit einem Begleitbären. Ein Bär ist das Maskottchen der UC Berkeley und ein Begleitbär ist ein speziell ausgebildeter Student, der dich auf Anfrage kostenlos auf dem Weg über den Campus oder bis zur U-Bahn begleitet. Von Anbruch der Dunkelheit bis weit in die Nacht hinein. Einige der Begleitbären sind sogar Single. Und die meisten sehen ziemlich gut aus, auch damit wirbt die Uni für ihr Angebot.

Viele Studenten sind nach der ersten Schrecksekunde eher unbeeindruckt. Ein paar lachen. Auch Wochen später redet mancher noch amüsiert von der Sorge der Uni um uns. Denn am Campus ist es sonnig, friedlich, spaßig, herrlich. Bis zu der Woche mit den acht E-Mails.

Achtmal bekommen wir in dieser Woche eine E-Mail mit dem Hinweis auf einen vorangegangenen bewaffneten Überfall in unmittelbarer Campus-Nähe. Im Kneipenviertel, an der Einkaufsstraße, an meiner Bushaltestelle. Und bewaffnet, das heißt hier nicht, dass einer sein Taschenmesser rausholt. Bewaffnet heißt, dass er eine geladene Schusswaffe auf dich richtet. In dieser Woche war ich erschüttert. Wenn wir mal ehrlich sind, ist die größte Sorge an einem typischen Münchner Unitag, dass das Fahrrad geklaut werden könnte.
 Aber man gewöhnt sich an alles – vor allem an einem Ort, an dem du beim Stadtspaziergang ein Rentiergeweih tragen kannst und das nicht weiter auffällt. An dem hinter einer Straßenecke auf einmal die von der Sonne angestrahlte Golden-Gate-Bridge neben der markanten Skyline von San Francisco auftaucht. Dieser Anblick entschädigt für vieles. Denn er gibt mir das benebelnde Gefühl, dass die Welt wunderschön ist. Egal was gerade sonst noch so los ist, oder wer zum Präsidenten gewählt wurde, alles wird gut.

Außer man geht 50 Meter zu weit die Straße runter. Das ist zwei – wohlgemerkt: kalifornischen – Freunden und mir auf dem Weg von einem Konzert zur U-Bahn passiert. Gerade waren da noch elegant ausgeleuchtete Hotels. Plötzlich ist es dunkel, links von uns ein verlassener Parkplatz. Heroinabhängige liegen quer über dem Gehsteig. Wir sind im Tenderloin gelandet. Dem Viertel, das jeder auf der Stadtkarte schwarz durchstreicht, wenn er Touristen den Weg erklärt. Daheim in München rät man vielleicht davon ab, nachts um 3 Uhr einen Spaziergang um den Hauptbahnhof zu machen.

Zurück nach San Francisco: Eigentlich ist es gar nicht so schlimm. Also gehen wir tapfer an den Typen in den schwarzen Kapuzenpullis vorbei und stehen keine drei Minuten später im Stadtzentrum vor dem hell erleuchteten Einkaufszentrum und den putzigen Cable Cars. Unerschütterlich. Trotzdem, mit Begleitbär wäre das bestimmt anders gelaufen.

Text: Katharina Hartinger 

Foto: Privat