Tänzerin, Choreografin, Kamerafrau. Tina Rashid, 24, ist in vielen Musikvideos Münchner Bands zu sehen
Sie schlägt ihre Hände in die Luft. Streckt ihre Arme weit über den Kopf, lässt sie kreisen. Sie umrunden ihren ganzen Oberkörper. Fast akrobatisch, als würde sie mit Seilen jonglieren. Tina Rashid, 24, steht in der Mitte einer großen Halle. Über ihr zahlreiche Scheinwerfer, unter ihr gemusterte Teppiche. Es ist schon später in der Nacht an diesem Abend Ende September. Tina macht sich gerade warm, gleich soll hier ein Tanzvideo entstehen.
Die Kameramänner, die im Halbkreis um sie platziert sind, sprechen sich noch ein letztes Mal mit ihr ab, suchen die perfekte Einstellung. Bis vor wenigen Stunde war Tina noch eine von ihnen. Schon den ganzen Tag ist sie hier, war Teil der Crew bei einem Musikvideodreh. Sie stand selbst hinter der Kamera oder fotografierte. „Das ist oft so. Während eines Drehs kommt einem spontan eine Idee“, sagt sie, „meistens sind alle begeistert und haben noch Bock. Und dann drehen wir noch ein Tanzvideo für mich.“
Von diesem Moment an ist Tina nicht mehr Kamerafrau, jetzt ist sie Tänzerin. Sie neigt ihren Kopf zu Boden, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Dann startet die Musik. Tina bewegt sich schnell im Takt, spielt mit dem Rhythmus, wird wieder ruhiger. Fast meditativ lässt sie ihre Arme dann durch den Raum wandern. Sie fühlt die Musik.
„Manche meiner Freunde sagen, dass alles, was ich mache, nach Tanz aussehen würde“, sagt Tina. Sie sitzt an der Isar, die Sonne scheint in ihr Gesicht und auf ihr lockiges, braunes Haar. Sie trägt einen grauen Pullover, ihr violetter Mantel dient ihr als Decke. Fast tänzelnd ist sie über einen kleinen Hang zu diesem Platz am Ufer gelaufen.
Hier ist sie in letzter Zeit oft. Es ist wieder Lockdown, die Tanzstudios wieder geschlossen. Jetzt wird die Stadt zu ihrem Übungsraum. Erst gestern war sie mit einer Freundin hier. Gemeinsam wollten sie die letzten schönen Herbsttage genießen – und natürlich haben sie auch getanzt. Tina lässt ein Video davon abspielen. Darauf lächelt sie in die Kamera, lässt ihre Arme nach oben schwingen und ihre Knie im Takt der Musik kreisen. „Mit vielen meiner Freunde ist das schon immer so. Schon als Jugendliche haben wir immer auch getanzt, wenn wir uns getroffen haben“, sagt sie. Videos wie diese gibt es viele. Tina tanzt am See, in einem Parkhaus, in einer U-Bahn-Station, unter einer Brücke am Isarufer. Das teilt sie auch mit ihren Followern auf Instagram, zeigt Freestyle-Sequenzen oder professionelle Tanzvideos. „Mir geht es aber nicht um Fame oder darum, irgendwelche Kooperationen zu bekommen. Tanzen ist einfach meine Leidenschaft, das macht mir Spaß. Und das Schönste wäre für mich, Leute auch dazu zu inspirieren“, sagt sie.
Ihr Herz schlägt für das Freestyle-Tanzen. Das sei ihr schon immer am leichtesten gefallen. „Für viele, die von Anfang an choreografierte Tänze lernen, ist das freie Tanzen schwer. Für mich ist es genau umgekehrt“, sagt Tina. Sie habe eigentlich schon immer einfach darauf los getanzt. Tanzvideos auf Youtube nachtanzen, das sei zu langweilig gewesen.
Sich zu bewegen, das liege ihr wohl im Blut, sagt Tina, mit ihrem Vater habe sie als Kind schon viel Akrobatik trainiert. Auch heute machen sie das noch zusammen. Eine professionelle Tanzausbildung hat sie nicht.
Als sie ihren ersten Tanzkurs besuchte, war Tina schon 18 Jahre alt. Gerade war sie aus ihrem Heimatort bei Taufkirchen im Landkreis Mühldorf nach Australien gekommen. Zwei Jahre verbrachte sie dort. Und um weiterzutanzen, nahm sie an einem kostenlosen Salsa-Kurs in einem nahegelegenen Park teil. Eigentlich nicht unbedingt Tinas Ding, liebt sie doch vor allem Hip-Hop und Afrobeats. Glücklicherweise gab es in dem Park in Melbourne aber auch einen sogenannten Open Cypher. Dabei freestylt einer der Tänzer umgeben von einem großen Kreis aus Menschen, sie sollen ihn bejubeln und anfeuern. „Dieser Hype, das gibt einem Energie“, sagt Tina „und das ist Tanzen auch für mich: Energie geben und nehmen.“
Als Tina dann für ihr Studium nach München kam, folgten viele weitere Kurse und Workshops. Denn allein mit Talent funktioniere auch das Freestyle-Tanzen nicht. Sie sagt: „Für mich ist es wichtig, mir so viele Tanzstile wie möglich anzueignen, um daraus meinen eigenen Stil entwickeln zu können.“ So habe sie zum Beispiel auch das Krumping für sich entdeckt. Ein kämpferischer Tanzstil, bei dem man den Körper immer wieder versteift. Hip-Hop und Dancehall vertiefe sie vor allem in Workshops oder durch den Austausch mit anderen Tanzenden bei Jams und Battles. Trotz geschlossener Studios sei das in München auch in den letzten Monaten möglich gewesen. Zum Tanzen traf man sich am Königsplatz oder vor den Pinakotheken. „Ich würde sogar sagen, dass die Münchner Tanz-Community ein bisschen näher zusammengerückt ist dadurch. So ein Austausch ist schön und vor allem wichtig“, sagt sie.
Wenn Tina vom Tanzen spricht, verweist sie immer zuerst auf andere, dann auf sich, wirkt selbstkritisch. Aber auch sie habe mittlerweile ihren eigenen Tanzstil gefunden. Und der sei fließend, energetisch und immer mit viel Emotionen.
Auf diese Emotionen kommt es wohl an, wenn man wie Tina mit Musikschaffenden zusammenarbeitet. Für Münchner Bands wie Umme Block, Das Ding ausm Sumpf oder den Ingolstädter Marko Leano tanzte sie schon vor der Kamera. Dann müsse man sich auf die Musik einlassen können, verstehen, welche Botschaft dahintersteckt. „Tanzen ist für mich auch immer, eine Geschichte zu erzählen“, sagt Tina. Zu solchen Aufträgen sei sie vor allem durch persönliche Kontakte gekommen. Die sind aber nicht im Tanzstudio entstanden, sondern durch einen Uni-Kurs. Für ihren Studiengang Medien- und Kommunikationsmanagement hatte sie den Schwerpunkt Bewegtbild. Ihr Uniprojekt war ein Musikvideo für die Band Mundhaarmonika. „Meine Aufgabe war damals Konzeption, Choreografie und auch das Tanzen selbst im Video“, sagt sie. Alles was die Studierenden dafür wissen mussten, brachte ihnen Marcel Chylla von der Produktionsfirma Ideal Ent. bei. Für die arbeitete Tina später auch als Werkstudentin. Filmte, schnitt und betreute noch mehr Musikvideos. Und stand bei vielen auch vor der Kamera.
Das fordere ihre Vielseitigkeit und Spontanität. Zum Trip-Hop von Umme Block entwickelte und performte sie ein akrobatisches Schattenspiel, das bei deren Release-Show 2019 als Visual auf die Bühne projiziert wurde. Beim Musikvideo zur Single „Kränk“ des Rappers Das Ding ausm Sumpf bewegte sie sich zusammen mit anderen Tänzerinnen mystisch durch das düstere Set. Kämpferische Posen, fließende Bewegungen.
Kürzlich verlieh sie sogar einer Ausstellung des Künstlers Gerhard Bär tänzerisch Ausdruck. Mal sanft, mal energiegeladen bewegt sie sich vor dessen Lichtinstallationen. Ihre Arme tanzen vor ihrem Körper auf und ab. „Auch bei solchen Aufträgen tanze ich oft einfach drauf los, fühle mich ganz in die Musik und den Ort hinein, dann kommt das wie von selbst“, sagt Tina. Gerade arbeitet sie an einem Projekt, für das sie auch als Choreografin tätig ist. An was genau, das darf sie noch nicht verraten. Stundenlang machte sie sich mit der Musik der Künstler vertraut, nahm sich beim freien Tanzen immer wieder auf und sah sich ihr Videomaterial an, um die passenden Sequenzen für die Choreografie auszuwählen. Im letzten Moment entschieden sich die Künstler dann doch für einen anderen Song. „Da muss man dann flexibel sein und auch auf die anderen Tänzer und deren Ideen vertrauen“, sagt sie.
Nur noch beruflich zu tanzen, das könne sich Tina aber nicht vorstellen: „Ich will es nicht machen müssen, sondern machen wollen. Da hätte ich zu sehr Angst, dass der Spaß verloren geht.“
In der großen Halle blitzen die Scheinwerfer jetzt noch einmal auf. Tina bewegt sich über den Boden, sie dreht sich, ihr Bein streckt sie bis an den Kopf, dann stößt sie sich kraftvoll nach oben für die Schlusspose. Die Musik endet, Tinas Kollegen hinter der Kamera feiern sie. Als Tina zum Monitor läuft, um sich ihre Aufnahmen anzusehen, lacht sie. Sie haben vergessen, die Aufnahme zu starten. Für Tina scheint das nicht weiter schlimm zu sein. Sie begibt sich wieder auf Position, bleibt konzentriert. Dann fließen ihre Bewegungen wieder zur Musik.
Von Laura Wiedemann