Strandkinder

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Cornelia Heißig und Raphael Buchberger entwerfen Schmuck aus Muscheln. Nun wollen sie ein junges Kollektiv gründen.

Fast drei Stunden sind sie mit dem Roller quer durch den Dschungel gefahren, ohne genau zu wissen, was sie erwarten würde. Erst einen Tag zuvor ist ihre erste Schmuckkollektion endlich fertig geworden, haben Location und Models dem Fotoshooting zugesagt. Am Ende des Tages sind die ersten Bilder für ihr Lookbook fertig und C

ornelia Heisig und Raphael Buchberger überglücklich. Die beiden erzählen so lebhaft von ihrem kleinen Abenteuer, als wäre es gestern gewesen. In Wirklichkeit hat die Reise nach Bali bereits letztes Jahr stattgefunden.

Cornelia und Raphael reisen gerne, am liebsten gemeinsam und ans Meer. “Wir sind beide Strandkinder”, sagt die 24-Jährige. Von ihren Reisen bringen sie immer Andenken mit, vor allem Muscheln. Einige Male hat Cornelia auch probiert, aus den mitgebrachten Muscheln Schmuck zu basteln, aber nie war das Ergebnis zufriedenstellend. Bis sie schließlich auf die Idee kam, eine Halterung zu entwickeln, mit der man die Muschel an einem Armband befestigen kann, ohne sie kaputt zu machen. Als sie Raphael von ihrer Idee erzählt, präsentiert der 25-Jährige ihr gleich am nächsten Abend ein Logo und eine fast fertige Homepage. Die Idee Pöf Pöf Jewelery war geboren.

Pöf Pöf? “Ich habe mindestens 100 Spitznamen für Conni und einer davon ist Pöf”, sagt Raphael. Was der Kosename bedeuten soll, wissen die beiden, die seit knapp zwei Jahren auch privat ein Paar sind, selbst nicht mehr so genau. Fest steht nur: Statt einen Namen zu nehmen, der komplett austauschbar ist, wollten sie einen Namen für ihr kleines “Herzensprojekt”, wie sie es nennen, der persönlich ist. Ein Name, der etwas mit ihnen und ihrer Leidenschaft, dem Reisen, zu tun hat.

Allein mit einem Namen und einer Homepage war es aber natürlich nicht getan, das wussten Cornelia und Raphael. Denn mit der Herstellung von Schmuck kennen sie sich zwar nicht aus, dafür aber umso mehr mit Marketing. Er, der große, junge Mann mit dem braunen Wuschelkopf, der Creative Technology mit Schwerpunkt Design studiert hat und schon seit er 19 Jahre alt ist neben seinem festen Job als Freelancer arbeitet. Sie, die zierliche Blondine, die erst eine Ausbildung zur Marketingkauffrau gemacht hat und jetzt Tourismus-Management an der Münchner Hochschule studiert und nebenbei als Werksstudentin jobbt. Nachdem klar wird, dass Pöf Pöf nicht nur eine Idee bleiben soll, überlegen sich die beiden, wie man die erforderliche Halterung aus Fimo-Knetmasse basteln kann.

Mit einem ersten Modell geht Cornelia zu einer Münchner Goldschmiedin. Das Ergebnis ist schön, soll aber fast 500 Euro kosten. “So viel wäre niemand bereit gewesen zu zahlen”, sagt Raphael, der Pragmatiker des eingeschworenen Zweier-Teams. Die beiden erinnern sich schließlich an die Straßen auf Bali in Ubud, in denen sich Silberschmied an Silberschmied reiht. Zufälligerweise ist Raphaels Bruder gerade vor Ort und macht eine Schmiedin für die beiden ausfindig, die erste Samples anfertigt. Raphael und Cornelia sind begeistert und buchen sofort einen Flug. Vier Wochen verbringen sie auf Bali, arbeiten bei 30Grad im Schatten und kehren schließlich mit ihrer ersten eigenen Kollektion nach Deutschland zurück. Im Gepäck viele Armbänder mit Herzmuscheln und Schneckenmuscheln – für andere Muschelformen gibt es aktuell noch keine Halterung.

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Das Paar arbeitete anfangs noch mit Muscheln, die sie selbst gefunden haben. Nun beziehen sie diese aber auch von einem französischen Hersteller, der Muscheln importiert. Langfristig sollen ihnen, so die Idee, die Kunden aber selbst gesammelte Muscheln schicken, die sie zu ganz persönlichen Schmuckstücken fertigen. “Wear your memories” lautet das Motto. Ein solches Armband kostet dann zwischen 60 und 80 Euro. Billiger könnten sie die Bänder nicht verkaufen, sagen sie, denn die Schmiedin auf Bali fertige die Verschlüsse und Halterungen, in Deutschland setzt Cornelia jedes Armband zusammen – alles per Hand. Dem jungen Paar ist bewusst, dass sich damit keine Millionen erwirtschaften lassen, doch sie haben schon neue Pläne: Pöf Pöf soll irgendwann nicht mehr nur ein Schmuck-Label sein, sondern für einen Lifestyle stehen.

“Fast jede Woche wird in München ein neues Start-up gegründet”, sagt Raphael. Ihr Ziel sei es, all diese jungen Kreativen zu vernetzen, denn bislang gebe es kaum Austausch, sagt Raphael. Angst, jemand könnte ihre Idee klauen, haben sie nicht und verstehen deshalb auch nicht, warum diese Angst in Deutschland so verbreitet ist. Die Hilfsbereitschaft untereinander sei deshalb leider häufig gering. Auch von der Stadt München würde sich Cornelia, vor allem für junge Mode- und Schmucklabels, mehr Unterstützung wünschen. Die Unterstützung von jungen Kreativen beschränkt sich für ihren Geschmack zu sehr auf die Musikbranche und technische Innovationen. Im Sommer planen sie deshalb eine erste Veranstaltung zum Thema Reisen, bei der sich junge Menschen über ihre Reiseblogs und andere Ideen austauschen können. Langfristig ist auch eine Art Kollektiv geplant. Der Name steht schon fest: Kartell di Monaco. Wer genau diesem Kollektiv angehören soll und wofür es stehen wird,ist allerdings noch unklar. Cornelia und Raphael, die ihre Sätze gerne gegenseitig beenden, planen nicht gerne lange im Voraus – weder auf ihren zahlreichen Reisen noch bei der Arbeit.

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Die meisten Kooperationspartner, die sie angeschrieben haben, seien begeistert von ihrer Idee, dass man gemeinsam mehr erreichen könne als alleine, sagt Cornelia. Natürlich sei das nicht immer so gewesen. “In den meisten Fällen wartet niemand auf dich und deine Idee”, sagt Cornelia. Gerade am Anfang sei das schon teils sehr frustrierend gewesen. Denn trotz dem geringem finanziellem Risiko – gemeinsam haben sie bislang 4000 Euro Eigenkapital in Pöf Pöf investiert – steckt viel Zeit und Herzblut in dem Projekt.

Doch es hat auch Vorteile, wenn das Team nur aus zwei Menschen besteht, die sowieso gerne Zeit miteinander verbringen: Man kann gemeinsam aus seinen Fehlern lernen, an ihnen wachsen und vielleicht sogar irgendwann das gemeinsame Hobby zum Beruf zu machen. So weit in die Zukunft wollen die beiden jungen Münchner aber nicht planen – noch nicht.

Text: Jacqueline Lang

Fotos: Privat

Keine grünen Männchen

Aleksandar Janjic hat ein Buch über Astrobiologie geschrieben. Darin beschäftigt er sich unter anderem mit Leben auf anderen Planeten.

Wissenschaftler haben noch nicht zweifelsfrei geklärt, ob und wie Leben auf anderen Planeten entstanden ist. Auch der Ursprung des Lebens auf der Erde ist noch nicht ganz erforscht. Mit diesen Themen beschäftigt sich die Astrobiologie. Aleksandar Janjic, 24, hat das Buch „Lebensraum Universum“ geschrieben und den Begriff Exoökologie in Deutschland mit geprägt – einen Teilbereich der Astrobiologie, bei dem ökologische Fragestellungen die größte Rolle spielen.

Wie kommt man auf die Idee, Astrobiologie zu studieren, wo das doch an deutschen Universitäten kaum gelehrt wird?
Ich habe mich schon vor meinem Studium sowohl für physikalische als auch biologische Grundfragen interessiert und ich wusste nicht, was ich lieber machen will, also habe ich beides studiert. Astrobiologie war die Schnittmenge der beiden Fächer.

Du hast ein Buch geschrieben, das „Lebensraum Universum“ heißt. Wie würdest du jemandem, der es noch nicht gelesen hat, erklären, worum es darin geht?
Es geht um die Fachdisziplin Astrobiologie. Sie beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit biotische Systeme außerhalb der Erde existieren können. Welche Grundlagen werden dafür gebraucht? Wo ist es möglich und wie spürt man sowas im All dann tatsächlich auf?

Geht es denn nur um andere Planeten oder auch um die Erde?
Die Erde ist die Grundlage. Wir wissen immer noch nicht, wie das Leben auf der Erde, wie die erste Zelle wirklich entstanden ist. Aber natürlich kann es sein, dass es Leben auf anderen Planeten gibt, auf denen ganz andere Bedingungen herrschen.

Zu welchem Ergebnis kommst du denn in deinem Buch?
Die Hauptaussage des Buches ist, dass wir Leben, falls es anderswo im Sonnensystem existieren sollte, in diesem Jahrhundert finden werden müssen, da die Technik reif ist. Die Missionen dafür sind für die 2020er und 2030er geplant. Es werden Sonden zum Enceladus geschickt, einem Saturnmond, auf dem es einen Ozean gibt. Dasselbe gilt für Europa, einen Jupitermond. Man wird außerdem Programme zum Mars schicken, die zwei Meter tief im Boden graben werden, um dort nach mikrobiellen Fossilien zu suchen. Das alles war davor nicht möglich.

Wonach konkret müsste man suchen?
Man muss nach biologischen Abbauspuren suchen oder vielleicht sogar nach noch existierenden Lebensformen. Auch das ist nicht ausgeschlossen.

Wahrscheinlich hast du die Frage schon oft gehört, aber wie würde denn Leben auf dem Mars zum Beispiel aussehen?
Das Lustige ist ja, dass in vielen Filmen Aliens sehr vermenschlicht werden: grüne Männchen mit zwei Beinen und einem großen Kopf. Dabei wissen wir, dass es allein auf der Erde so viele Lebewesen gibt, die anders und teilweise ganz bizarr aussehen.
Oft wird gesagt, dass Lebewesen auf anderen Planeten ebenfalls ein Gehirn haben müssen und symmetrisch aufgebaut seien. Wenn wir uns die Organismen anschauen, die am häufigsten auf der Erde vorkommen, wissen wir, dass das nicht sein muss. Was ich damit sagen will: Die Astrobiologie sucht nicht nach grünen Männchen.

Wie befriedigend ist deine Arbeit, wenn du gar nicht weißt, ob du das, was du suchst, je finden wirst?
Ich weiß von älteren Kollegen, dass die Arbeit tatsächlich im vorigen Jahrhundert sehr unbefriedigend war. Aber mit der neuen Technik ist das Potenzial da, und wenn der Fund erfolgen sollte, dann werden Menschen wie ich an vorderster Front stehen. Es wäre wirklich ein historisches Ereignis und vielleicht werde ich die einmalige Chance haben, dabei zu sein.

Was machst du denn, wenn du nicht über den Ursprung des Lebens nachdenkst?
Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass man als Astrobiologe nur Astrobiologie macht. Damit verdiene ich kein Geld. In der Ökologie arbeite ich an der Evolution von Ackerpflanzen und Insekten. Außerdem arbeite ich seit sechs Jahren als Kinderbetreuer.

Sprichst du mit den Kindern auch über deine Arbeit?
Das ist lustig, denn ich habe die Kinder für mein Buch gefragt, wie sie Lebewesen definieren. Die Kinder sagen dann zum Beispiel „Meine Spielkonsole atmet nicht, also lebt sie nicht“. Eines warf sogar Stifte vom Tisch und sagte: „Die Sachen schreien nicht, also leben sie nicht.“ Wenn man das auf die fundamentale Ebene herunterbricht, dann zeigen die Dinge im Gegensatz zu Lebewesen keine Reaktion. Die Kinder haben also eigentlich recht.

Reizt dich eigentlich so etwas wie die Mars-Besiedelung?
Im zweiten Kapitel meines Buches geht es genau um dieses Thema. Der Begründer von Tesla, Elon Musk, ist einer der reichsten Menschen der Welt, und er hat sich das Ziel gesetzt, in diesem Jahrhundert den Mars zu besiedeln und dort beerdigt zu werden. Musk hat eine ganz klare Vision und auch eine Strategie. In meinem Buch erläutere ich diese Strategie und die damit verbundene Kritik. Für mich persönlich kommt das aber auf keinen Fall in Frage, das wäre mir viel zu riskant.

Was würde passieren, wenn jemand herausfände, dass es auf anderen Planeten tatsächlich intelligentes Leben gibt?
Ich glaube, es würde nur das weitergeführt werden, was bereits passiert ist: Die Erde war der Mittelpunkt der Welt, plötzlich waren wir nur einer von vielen Planeten. Das Sonnensystem war alles, und dann haben wir entdeckt, dass es noch andere Sonnensysteme gibt und die Erde eigentlich ein gewöhnlicher Felsbrocken ist. Ähnlich wäre das wahrscheinlich auch, wenn wir entdecken, dass wir nicht die einzigen intelligenten Lebewesen sind. Der Gedanke fasziniert uns, gleichzeitig macht er uns auch Angst. Für dieses Jahrhundert sehe ich jedoch den Nachweis von Mikroorganismen in unserem Sonnensystem als Hauptprojekt. 

Interview: Jacqueline Lang

Foto: Dirk Daniel Mann

Kämpfen bis zum Bleiberecht

Seit Arif Abdullah Haidary, 18, in Deutschland lebt, ist für ihn ganz klar, für welches Land er als Karateka antreten will – Aufenthaltsstatus hin oder her.

Arif ist ein Kämpfer. Schon früh hat er gelernt, dass man sich Respekt hart erarbeiten muss – und dass man niemals aufgeben darf, an seine Ziele zu glauben und für die eigenen Werte einzutreten. Selbst dann, wenn man eine gebrochene Nase oder gar das eigene Leben riskiert.

Seit er 13 ist, trainiert Arif Abdullah Haidary, 18, Kyokushinkai. Im Gegensatz zum weit verbreiteten Karate, der völlig auf Körperkontakt verzichtet, kämpft er eine Vollkontakt-Variante. Es zählt zu einem der härtesten Karate-Stile und erfordert ein Höchstmaß an Disziplin. Jetzt bekommt er eventuell die Chance, für Deutschland zu kämpfen – und das, obwohl er nicht weiß, wie lange er hier noch bleiben darf.

In seinem Heimatland Afghanistan seien Kampfsportarten sehr beliebt, vergleichbar mit Fußball in Deutschland, sagt Arif. Nur wenige würden sich jedoch für Karate entscheiden. „Im Karate gibt es viel mehr Regeln als zum Beispiel beim Kickboxen“, sagt er. Ihm haben aber genau diese Regeln und die erforderliche Disziplin besonders gut gefallen: Man müsse pünktlich sein, sich ordentlich kleiden, auf den Trainer hören. „Es ist egal, ob jemand schwarz oder weiß ist oder welcher Religion er angehört – sobald er zum Training kommt, spielt das alles keine Rolle mehr“, sagt Arif, dessen kurzes, schwarzes Haar mit Gel in Form gehalten wird. Er ist nicht besonders groß oder muskulös, aber auf den Wettkampfbildern, die er stolz auf seinem Smartphone zeigt, lassen seine Körperhaltung und sein konzentrierter Blick keinen Zweifel daran, dass Arif im Wettkampf alles gibt.

In Afghanistan hatte Arif bereits den schwarzen Gürtel – die höchstmögliche Auszeichnung – erworben und für das dortige Nationalteam gekämpft. All seine Urkunden und Zertifikate hat er den ganzen beschwerlichen Weg von Afghanistan nach Deutschland transportiert. Es herrscht Krieg, und das einzige, was jemand rettet, sind seine Karate-Urkunden? Was im ersten Moment befremdlich wirkt, ist für den jungen Mann offenbar selbstverständlich. So nimmt jeder mit, was für ihn von Wert ist.

In Deutschland hat Arif wieder bei Null angefangen – in vielerlei Hinsicht. Zumindest beim Karate hat er diese Entscheidung aber selbst getroffen und sich bewusst dafür entschieden, noch einmal neu anzufangen – mit dem weißen Gürtel. Er habe darin eine Möglichkeit gesehen, sein Deutsch zu verbessern, sagt Arif. Wenn er spricht, blicken seine braunen Augen stets freundlich, doch lachen sieht man ihn nur sehr selten. Wie eine scheue Katze scheint etwas in ihm immer auf der Hut zu sein.

Innerhalb der zwei Jahre, die er nun schon mit zwei Brüdern in Deutschland lebt, hat er es erneut geschafft, bis zum braunen Gürtel aufzusteigen.
Im vergangenen Jahr hat Arif bei den German Open in Stuttgart in seiner Altersgruppe den ersten Platz erreicht. In diesem Jahr wird er am 25. November bei den deutschen Meisterschaften antreten, dort kann er sich für internationale Wettbewerbe qualifizieren.

Ein offizielles Nationalteam für die Kampfrichtung Kyokushinkai befindet sich gerade noch im Aufbau. Jeder, der Interesse an einer Teilnahme hat, wird eingeladen. Jedoch würden zu den Wettkämpfen natürlich nur die Besten im Kader geschickt, sagt Stefan Beer, Kyokushin-Trainer von Arif. Als Trainer und Präsident des Vereins KKD, kurz für Kyokushinkai Karate Deutschland, kann Beer das Können von Arif einschätzen. Auf deutscher Ebene rechnet Beer seinem Schützling gute Chancen aus, im internationalen Vergleich aber ist die Messlatte deutlich höher angesetzt, weil es in Ländern wie Polen oder Brasilien Standard ist, dass die Sportler acht Stunden täglich trainieren.

„Von seinem Talent und seinem Herz her hat Arif großes Potenzial“, sagt Beer. Vergessen dürfe man in seinem besonderen Fall aber auch nicht sein Handicap, wie Beer es nennt: Arifs Asylantrag ist auch nach zwei Jahren in Deutschland noch nicht genehmigt, jederzeit könnten die deutschen Behörden entscheiden, dass Arif das Land wieder verlassen muss. Mit einem ungeklärten Aufenthaltsstatus kann Arif deshalb nicht einfach beliebig oft aus- und einreisen. Seine sportliche Karriere bleibt somit schon allein deshalb vorerst auf Deutschland beschränkt.

Dennoch ist Arif ein junger Mann mit großen Plänen. Gerade hat er seinen Abschluss an einer Berufsfachschule gemacht, nun schreibt er Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz als Medientechniker. Zudem arbeitet er mit seinem Bruder an der Umsetzung einer mehrsprachigen Zeitung von und für Flüchtlinge. Nebenbei hat er kürzlich auch noch eine Ausbildung zum Jugendleiter für Karate gemacht.

Seit Arif in Deutschland lebt, ist für ihn ganz klar, für welches Land er kämpft – Aufenthaltsstatus hin oder her. „Ich kämpfe unter deutscher Flagge“, sagt der gebürtige Afghane. Für ihn sei es eine Ehre, für Deutschland anzutreten – und zu gewinnen. Er sehe darin eine Möglichkeit, den Deutschen, die ihm so viel geholfen hätten, etwas zurückzugeben, sagt er.

Dennoch wirkt der sonst so ruhige Arif für einen Moment fast verärgert, als das Thema zur Sprache kommt. Es fällt ihm sichtlich schwer zu verstehen, wie die deutschen Behörden überhaupt darüber nachdenken können, ihn in ein Land zurückzuschicken, in dem ganz offensichtlich Krieg herrscht. „In den Asylverfahren wird in drei Tagen über dein ganzes Leben entschieden“, sagt Arif und schüttelt traurig den Kopf. Bis es zu seiner Anhörung kommt – irgendwann in den nächsten zwei Wochen oder den nächsten zwei Jahren – könnte Arif einfach nur abwarten, doch stattdessen hat er sich dafür entschieden zu kämpfen.

„Vor dem Krieg hatten wir in Afghanistan ein gutes Leben“, sagt Arif. Es gab für ihn und seine Familie keinen Grund zu fliehen. Sein Vater ist Herausgeber einer Tageszeitung in Afghanistan, und auch Arif und seine Brüder haben für die Zeitung als Journalisten gearbeitet. Am Ende war genau jene Arbeit der Grund für ihre Flucht: Eines Tages explodierte im Auto des Bruders eine Bombe, als sie gerade auf dem Weg zur Arbeit waren. „Wir hatten alles – nur keine Sicherheit mehr“, sagt Arif, dessen rechte Wange seitdem von einer Narbe gezeichnet ist. Der Vater befahl ihnen zu fliehen, aber er gab ihnen auch eine wichtige Lektion mit auf den Weg: „Ein Journalist hat nur seinen Stift als Waffe – aber diese Waffe muss er nutzen.“

Arif hat sich diesen Satz sehr zu Herzen genommen. Seit er in Deutschland ist, arbeitet er ehrenamtlich beim Radio Feierwerk für das Format Munich International Radio, engagiert sich in verschiedenen Flüchtlingsinitiativen wie Mut Bayern und arbeitet nach wie vor als Auslandsreporter für die Zeitung seines Vaters, die über die Lage von Afghanen in Deutschland berichtet. Dass die Wahrheit in einem Kriegsland einen hohen Preis haben kann, weiß er, das hat er am eigenen Leib erfahren – abgehalten hat es ihn noch nie. Ein Kämpfer bleibt eben ein Kämpfer – im echten Leben und auf der Matte.

Text:
Jacqueline Lang 

Foto: Robert Haas

Rappen auf der Kanzel

“Als Poetry-Slammerin bin ich Entertainerin, als Pfarrerin verkünde ich das Wort Gottes”, sagt Veronika Rieger, 22. In beiden Fällen gehe es für sie um die Wahl der richtigen Worte. Und um Unterhaltung.

Veronika rappt: “Oh mein Gott, dieser Himmel, wie komm
ich da bloß rein? Oh mein Gott, dieser Himmel, wo zur Hölle soll der
sein?” Es ist der Refrain eines Songs von Marteria. Ihr Publikum ist
an diesem Tag eine kleine Gruppe gekonnt gelangweilter Konfirmanden, die
restlichen Anwesenden dürften wohl alle weit über 50 sein und von diesem Rapper
noch nie etwas gehört haben. Veronika stört das nicht. Sie steht auf der
Kanzel, trägt einen schwarzen Talar und ist der beeindruckende Beweis dafür,
dass Glauben manchmal auch ziemlich cool sein kann.

Als Veronika Rieger, 22, die an diesem Tag ein blaues Kleid
und einen blauen Blumenkranz im rötlichen Haar trägt, von ihrer Rap-Einlage erzählt,
muss sie schmunzeln. Lachfältchen um ihre ebenfalls blauen Augen werden
sichtbar. Sich Veronika in diesem Outfit auf einer Bühne mit einem Mikrofon in
der Hand vorzustellen, fällt nicht schwer. Aber in der Kirche auf der Kanzel?
Das erfordert schon mehr Vorstellungskraft. Doch Veronika kann beides: Seit
einem Jahr ist sie deutschlandweit als Poetry-Slammerin ziemlich erfolgreich.
Zudem studiert sie evangelische Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität
in München und wird, so Gott will, einmal als Pfarrerin arbeiten.

Geplant war das alles nicht. Texte geschrieben hat Veronika
zwar schon immer, aber lange nur für sich selbst, nicht für ein größeres
Publikum. Auch der Weg zum Theologiestudium war kein direkter, denn studiert
hat sie zunächst fünf Semester Lehramt, ebenfalls an der LMU. “Dass ich
Theologie studieren werde, wollte ich mir anfangs selbst nicht
eingestehen”, sagt die sie. Pfarrerin sei eben leider kein cooler Beruf.
Sie grinst. Am Ende hat sie sich trotzdem dafür entschieden: Veronika will mit
Menschen arbeiten und sie auf ihrem Lebensweg begleiten. Außerdem sei es
deutlich leichter zu meckern, dass die Dinge nicht so laufen, wie man es gerne
hätte, als selbst etwas zu verändern. Am Ende gehe es doch schließlich um das,
was man selbst daraus mache, sagt sie.

“Von den Stereotypen, die man mit Pfarrern verbindet,
trifft kein einziges auf mich zu”, sagt sie selbstbewusst. Die Bibel habe
sie als Jugendliche zwar gelesen – ebenso wie den Koran -, aber mehr aus
Interesse als aus tiefer Religiosität. “Mit 13 war ich mir auch absolut
sicher, dass es Gott nicht gibt”, sagt sie. Heute noch sagt Veronika, ihr
Gott habe viele Namen – und als bibeltreu würde sie sich nicht unbedingt
bezeichnen. Altgriechisch, Althebräisch und Latein muss sie in den zwölf
Semestern, die ihr Studium in Regelstudienzeit dauert, lernen, auch wenn sie
selbst viel lieber mehr Praxisanteile in den Lehrplan integrieren würde. Sie
nimmt es gelassen, immerhin ist kein Studium perfekt und etwas Eigeninitiative
ist immer gefragt. Veronika nutzt deshalb gelegentlich die Möglichkeit, für
andere Pfarrer auszuhelfen, um so mehr Berufserfahrung zu sammeln.

Von der Kanzel auf die Bühne: Auch zum Poetry Slam kann
Veronika eher durch Zufall. Sie erzählte ihrer Freundin Felicitas Brembeck, die
in der Slam-Szene besser als Fee bekannt ist, von ihrer Schreiberei – und die
ließ nicht locker, bis sie einen ihrer Texte lesen durfte. Fee überredete sie,
bei einem Poetry Slam in der Münchner Kneipe Stragula aufzutreten. “Ich
dachte mir schon, bevor ich einen von ihren Texten gelesen habe, dass Veronikas
Persönlichkeit wie für die Bühne gemacht ist”, sagt Fee. Sie sei sich
sicher gewesen, dass Veronika nicht nur schöne sprachliche Bilder zu Papier
bringen, sondern diese auch für das Publikum lebendig werden lassen könne.

Seit dem ersten Auftritt vor knapp einem Jahr hat Veronika
mehr als dreißig verschiedene Texte auf Bühnen in Bayern und ganz Deutschland
gebracht. “Durch das Slammen kann ich Menschen erreichen, die ich sonst
nicht erreichen würde”, sagt Veronika. Sie hat natürlich auch komische
Beiträge im Repertoire, aber die meisten ihrer Texte sind in irgendeiner Form
politisch. “Ich glaube, dass man politische und nicht-politische Themen
gar nicht so klar voneinander trennen kann”, sagt sie. Ihr Texte handeln
deshalb von Selbstliebe, von Misshandlungen, von Homophobie, von Sexismus –
gegenüber Männern und Frauen. Es sind gesellschaftlich relevante Themen, aber
vor allem Themen, die sie selbst bewegen, wütend machen, nachdenklich stimmen.

Zu ihr als ausgebildeter Notfallseelsorgerin sind schon
häufiger Menschen gekommen, die Opfer von psychischer und physischer Gewalt
geworden sind. Fast täglich wird sie auf den verschiedensten Kanälen mit allen
erdenklichen Formen von Alltagssexismus konfrontiert. In ihren Texten gibt es
natürlich immer ein lyrisches Ich – das heißt aber nicht, dass es zwangsläufig
mit Veronika übereinstimmen muss. Gewisse Parallelen ließen sich aber natürlich
dennoch nicht leugnen, sagt sie – mal mehr, mal weniger.

Slammen? Predigen? Unterscheidet sich hier das Texten?
“Als Slammerin bin ich Entertainerin, als Pfarrerin verkünde ich das Wort
Gottes”, sagt Veronika. In beiden Fällen gehe es aber um die Wahl der
richtigen Worte, darum, seine Zuhörerschaft zu erreichen, aber eben mit unterschiedlichen
stilistischen Mitteln und mit anderer Intention. Auf der Bühne will sie ihr
Publikum unterhalten. Auf der Kanzel vermutlich auch, hier versteht sie sich
selbst aber als Dienstleisterin für ihre Gemeinde.

Trotzdem kann es schon mal passieren, dass bei Veronika die
Grenzen leicht verschwimmen, wie eben an diesem Tag, als sie nicht Worte aus
der Bibel zitiert hat, sondern Marteria. Der Song “OMG!” beschäftigt
sich mit der Frage, welche Art von Leben man führen muss, um in den Himmel zu
kommen, und ob dieses Ziel überhaupt erstrebenswert ist.

Fragen, die Veronika als angehende Pfarrerin zulassen kann,
Fragen, die sie sich selbst als junges Mädchen gestellt hat und heute noch
stellt.

Text: Jacqueline Lang

Foto:

Alessandra Schellnegger

Von Freitag bis Freitag: Unterwegs mit Jackie

Unsere Autorin mag ja eigentlich den Herbst und freut sich, ihre Winter­depression noch um ein paar Tage vertrösten zu können. Tagsüber plant sie einen Ausflug zur Kirchweihdult oder ins Lost Weekend, abends geht’s ins Müller’sche Volksbad oder in die Milla.

Hoch die Hände, Wochenende! Am
Freitagabend scheint zwar leider nicht mehr die Sonne, aber ich mache trotzdem
einen kleinen Ausflug auf die andere Seite der Isar um mir die neue
Fotoausstellung von Julian Mittelstädt anzuschauen. Unter dem Motto “Streetz”
stellt der Fotograf dort Bilder aus, die reale Menschen auf der Straße zeigen –
ohne gestellte Posen und gekünsteltes Lachen. Drinks gibt’s im Container
nebenan in der BAR of BEL AIR. Läuft.

Auch der Samstag steht im Zeichen
der Kunst – zumindest abends. Nach einem ausgiebigen Frühstück radle ich aber
erst einmal erneut auf die andere Seite der Isar: Diesmal nach Giesing. Von
heute an bis einschließlich 22.Oktober findet auf dem Mariahilfplatz die
wunderbare Kirchweihdult statt. Allerlei Leckereien schnabulieren und mal mehr
mal weniger sinnlosen Kram bestaunen – was könnte schöner sein an so einem
Samstag im Herbst? Abends gehört die alljährliche Lange Nacht der Museen
natürlich zum Pflichtprogramm. In diesem Jahr nehmen auch verschiedene Bäder an
der langen Nacht der Museen teil. Ich entscheide mich für eine Führung durch
das wunderbare Müller’sche Volksbad
. Ab 21Uhr finden diese alle 30 Minuten
statt und dauern ca. 20 Minuten. Da bekommt man fast Lust, sich einfach nackig
zu machen und selbst in den Pool zu springen oder sich in der Sauna
aufzuwärmen. Beim nächsten Mal dann!

Sonntag ist eigentlich Katertag,
doch dafür habe ich heute keine Zeit. Stattdessen steht heute Fair Fashion auf
dem Programm. Genauer: Der Fair Fashion Showroom meets Klimaherbst Dult. Hier
stellen nachhaltige Labels ihre Konzepte und Designs vor. Mit dabei Phasenreich
und Iki M., aber auch das Flüchtlingsprojekt Nähstube. Am Ende gibt es dann
auch noch eine Fashion Show bei der die Labels ihre akutellen Kollektionen
vorstellen. Einige schöne Teile dabei, aber ganz billig ist fair halt leider nicht.
Sowieso bin ich immer wieder in dem Dilemma zwischen bewusst einkaufen und
insgesamt einfach mal weniger kaufen. Immerhin ist es ja nicht so, als wäre
mein Kleiderschrank leer – auch wenn sich das zuweilen so anfühlen mag.

Viel wurde schon im Voraus
berichtet, seit der Eröffnung quillt meine Timeline zumindest gefühlt über mit
Veranstaltungen in der Location und ich bewege mich irgendwo  zwischen Abneigung und Neugierde. Zu viel
Hype macht mich zwar immer etwas skeptisch, aber anschauen will ich sie mir
schon, diese neue In-Location: The Lovelace. Was eignet sich da besser als eine
Filmvorführung? Am Montagabend wird der Film „Das Wunder von Mals” gezeigt.
Thema der Doku: Ein Dorf in Südtirol entscheidet sich gegen Pestizide und für
eine ökologische Landwirtschaft. Klingt spannend und lässt sich wunderbar
kombinieren mit Bier und Popcorn. Off-topic: Ist euch eigentlich schon aufgefallen,
dass es in immer weniger Kinos Popcorn gibt, sprich auch nicht mehr nach
Popcorn riecht? Traurig macht mich das!

Mehr Kunst für mich und alle
anderen Besucher des Lost Weekend an diesem etwas tristen Dienstag. Hier
findet heute die Vernissage der Ausstellung „Energiewende in Kambodscha“ statt.
Bewaffnet mit einem Bier schländere ich durch die Reihen und sehe mir die
Fotografien von Claire Jul und Viga F. Widjanarko an. Spannend zu sehen, dass
es für eine Energiewende nicht immer neuster Technologien bedarf, sondern das
manchmal auch ein paar Ziegel und eine Ladung Mist Wunder bewirken können. Zu
sehen ist die Ausstellung noch bis einschließlich 27.Oktober. Statt mit einem
Bier kann man sich die Ausstellung wahlweise auch wunderbar mit einem leckeren
Café tagsüber anschauen.

Ab ins Milla. Ein Satz den ich
viel seltener sage, als ich sollte, denke ich mir, als ich an diesem
Mittwoch die Treppe hinuntersteige. Das Milla ist einfach ein Wohlfühlort.
Und vor allem ein Ort, an dem gute Musik gelebt wird. Natürlich weiß ich nicht,
was mich beim Milla Song Slam an diesem Abend erwartet, aber wie schlimm kann
es schon werden mit dem wunderbaren Bumillo als Gastgeber und einem Gin Tonic
in der Hand? Zumal ja spätestens ab 23Uhr die Boys und Girls von Fancy Footwork
an den Turntables stehen. Kostenpunkt: 8€ im Vorverkauf, 10 € an der
Abendkasse.

Kann man schon mal machen.

Wärmstens zu empfehlen: Die
Infoveranstaltung von afk M94.5 und afk tv am Donnerstag! Alle die Mal Radio oder Fernsehen
machen wollen, sollten sich dieses Event auf keinen Fall entgehen lassen – ich
selbst mit eingeschlossen. Davor oder danach will ich auf jeden Fall noch auf
der ArtMuc vorbeischauen, wo auch in diesem Jahr vom 19. bis 22.Oktober wieder
90 Künstler und Galerien aus ganz Europa ausstellen. Mehr Kunst also. Aber
Kunst und Bier, das rat ich dir sowieso. Natürlich geht auch das Eine ohne das
Andere, aber warum denn halbe Sachen machen?

Lange steht die
Veranstaltungsreihe schon auf meiner To-Do-Liste, endlich schaffe ich es am Freitag

hinzugehen. Ich geh tanzen! Leider ist die Veranstaltung vom Import Export ins
Ampere umgezogen, aber an der guten Mischung aus Hip Hop, Funk und Electro hat
sich glücklicherweise nichts geändert und so schwinge ich das Tanzbein bis tief
in die Nacht. Ich muss gestehen, die langen, durchzechten Nächte werden
seltener, aber genießen tue ich sie umso mehr – auch wenn der  Kater am nächsten Morgen mich wohl noch bis
Sonntag begleiten wird. Aber man ist ja bekanntlich nur einmal jung und dumm.

Daumen hoch

Ob auf der Fahrradstange oder einem Tuk-Tuk, mit vielen schönen Erlebnissen, Glück und einmal mit Todesangst – Nicola Deska ist von London nach Australien getrampt, an ihrem Lieblingsort will sie nun ein Café eröffnen.

Acht Autos sind in vier Stunden vorbeigekommen – und sie ist keinen Meter weiter. Nicola, eine junge Frau mit langem braunem Haar, tätowierter Haut und großen braunen Augen, ist irgendwann nur noch frustriert. Die Chinesen sind zwar unglaublich hilfsbereit, aber wollen scheinbar einfach nicht verstehen, wo sie hin möchte. Schließlich gibt sie auf und fährt mit dem Bus zur richtigen Autobahnauffahrt – in der Hoffnung, dass sie jemand von dort mitnimmt und nicht plötzlich einfach umdreht und sie weitere vier Stunden im Kreis um die immer selbe chinesische Millionenstadt fahren muss.

Nicola Deska, 28, kann viele solcher Anekdoten erzählen. Während der acht Monate, die sie von London in England bis nach Byron Bay in Australien durch 20 Länder getrampt ist, hat sie lustige, absurde, frustrierende und traurige Geschichten erlebt, wie sie das Leben schreibt.

Schon seit sie 14 ist, reist Nicola regelmäßig alleine. Länger an einem Ort gehalten hat es sie seitdem nie. „London habe ich schon ein paar Mal in meinem Leben mein Zuhause genannt“, sagt Nicola.

Geboren ist sie in München. Doch dort habe sie sich schon als Jugendliche nie so wirklich heimisch gefühlt. „München war für mich immer ein Ort, der mir genau gezeigt hat, was ich im Leben nicht möchte“, sagt sie. Hier werde man auf Ausbildung, Netzwerk und Vermögen reduziert. Nur wegen ihrer Mutter und engen Freunden komme sie ab und zu noch zu Besuch. Länger hier gelebt hat sie nicht, seit sie mit 17 die Schule geschmissen hat, um „abzuhauen“.

Seitdem packt Nicola regelmäßig ihren Rucksack und lernt vom Leben das, was ihr kein Lehrer je hätte vermitteln können – da ist sie sich sicher. Das Geld, das sie zum Reisen braucht, verdient Nicola sich durch diverse Jobs in der Gastronomie. Bewusst hat sie sich für diesen Berufszweig entschieden, denn Restaurants und Bars, in denen man arbeiten kann, gibt es überall auf der Welt.

Von England nach Australien. In wie viele Autos sie gestiegen ist, weiß die junge Frau nicht mehr. Ab und zu musste sie mit der U-Bahn an die Stadtgrenze fahren; und einige Male haben Menschen sie zwar mitgenommen, wollten aber am Ende doch Geld dafür. Den Rest der Zeit hat sie sich hauptsächlich von Autos, aber auch Trucks, Fähren, fahrenden Essensständen und Tuk-Tuks mitnehmen lassen – völlig umsonst, wie das beim Trampen üblich ist. In Thailand habe ein Mann sie sogar auf seinem Fahrrad mitgenommen. „Ich saß vorne auf der Lenkradstange und meinen Rucksack hat er auf den Gepäckträger geklemmt“, sagt Nicola und lacht bei dem Gedanken daran.

Trampen. Eine Art zu Reisen, die in Deutschland vor allem in den 70er Jahren weit verbreitet war und dann durch zuverlässigere und sicherere Reisemöglichkeiten wie Mitfahrzentralen und Fernbusse kurzzeitig verdrängt wurde. Seit Anfang der 2000er Jahre scheint der Trend jedoch wiederbelebt worden zu sein. Vor allem junge Menschen haben das Trampen neu für sich entdeckt. Es ist die umweltfreundliche Alternative für jene, die nicht aufs Reisen verzichten wollen, aber der Umwelt zuliebe nicht fliegen wollen und sich, ähnlich wie beim Carsharing, ein Auto teilen, statt sich selbst eines zu kaufen.

In Deutschland sei es sehr einfach zu trampen, weil die Infrastruktur sehr gut ausgebaut sei, sagt Nicola. In Osteuropa sei Fahren per Anhalter ebenfalls seit jeher eine gängige Art zu Reisen, Menschen in Asien sei das Konzept allerdings größtenteils völlig fremd. Wie vielen anderen Trampern geht es Nicola aber nicht in erster Linie darum, kostenlos zu reisen: Im Gegenzug für die Mitfahrgelegenheit habe sie für die Menschen, die sie mitgenommen haben oder für Couchsurfer, die sie bei sich übernachten haben lassen, gekocht und dafür häufig mehr Geld ausgegeben, als sie für ein Zugticket bezahlt hätte, sagt sie. Es ist der Austausch, der ihr gefällt. „Die tun etwas für mich, ich tue etwas für die – so schließt sich der Kreis“, lautet ihre Philosophie. Genauso handhabt sie das auch bei der Suche nach einem Schlafplatz: Sie hilft in Hostels beim Saubermachen oder auf Bauernhöfen bei der Ernte und bekommt dafür Essen und ein Bett. Es ist ein Geben und ein Nehmen – das für viele Tramper zum Lifestyle geworden ist.

Eine Frau allein auf Reisen, das klingt für viele nach Gefahr. Und obwohl Nicola, die ein goldenes Septum in der Nase trägt und deren Arme und Beine mit Tattoos übersät sind, nicht wie eine Frau aussieht, die sich nicht zu helfen weiß, hat sie doch einige Regeln beim Reisen, die sie immer befolgt. Regel Nummer eins: Vertraue immer deinem Bauchgefühl. „Wenn ich merke, dass mich ein Typ erst mal von oben bis unten mustert, dann steige ich gar nicht erst ein“, sagt sie. Außerdem würde sie niemals betrunken oder unter Drogeneinfluss trampen. Länder wie Finnland, Russland, Malaysia, China und Kambodscha hat Nicola auf dem Landweg durchquert – ohne ein einziges Mal in Gefahr gewesen zu sein. „Es ist unglaublich, wie gut die meisten Menschen sind“, sagt Nicola.

Natürlich hat Nicola aber auch schon mal Angst gehabt, Todesangst. Sie wartet eines Abends auf einer Landstraße in Lappland auf eine Mitfahrgelegenheit, knietief steht sie im Schnee. Es wird schon langsam dunkel, als endlich ein Auto anhält. Ein großer Mann mit ernstem Gesichtsausdruck steigt aus und nimmt, ohne auch nur Hallo zu sagen, ihren Rucksack und wirft ihn ins Auto. Nicola hat nur wenige Sekunden, um zu entscheiden, ob sie einsteigen soll. Sie wägt ihre Möglichkeiten ab: Entweder im Schnee erfrieren oder mit dem Mann mitfahren und hoffen, dass alles gut ausgeht. Sie steigt ein. Per Translator-App versucht sie dem Mann zu erklären, dass sie an der nächsten Tankstelle raus gelassen werden will.

Die Tankstelle kommt, aber der Mann fährt weiter. Nicola malt sich die verschiedensten Horrorszenarien aus. Als das Auto schließlich anhält, stehen sie vor einem Haus mitten im Wald. In der Tür stehen eine Frau, ein kleines Kind und ein Hundewelpe. Sie kann duschen und bekommt etwas zu essen und schließlich fährt sie der Mann sogar mitten in der Nacht in die 200 Kilometer entfernte Stadt Turku – einfach so. „Der Mann war einer der nettesten Menschen, die ich je kennengelernt habe“, sagt Nicola. Damals hatte sie Angst, heute weiß sie, dass diese Angst unbegründet war – und dass sie viel Glück gehabt hat.

Wer alleine reist, der lernt aber nicht nur seine Mitmenschen besser kennen, sondern vor allem sich selbst. „Ich habe gelernt, mein eigener bester Freund zu sein“, sagt sie, und als sie lacht, klingt es wie ein Glucksen. Statt, wie früher, jeden Tag nach der Arbeit noch mit ihren Kollegen feiern zu gehen, gehe sie heute lieber alleine im Wald spazieren, sagt Nicola.

Das bedeutet aber noch lange nicht, dass sie nicht mehr gerne unter Menschen ist – im Gegenteil. Durch ihre Reisen habe sie wunderbare Menschen überall auf der Welt kennengelernt, sagt sie. Natürlich ist es nicht immer leicht, über die Distanz den Kontakt zu halten, aber das ist für Nicola eher eine Frage des Willens. „Ich habe nicht das Gefühl, dass meine Freundschaften unter dem Reisen leiden“, sagt sie. Alle Menschen, die ihr nahe stünden, wüssten, dass das Reisen ein Teil von ihr sei und würden diesen Freiheitsdrang auch an ihr schätzen, sagt sie. Nicola gefällt vor allem die Idee, ihre Freunde überall auf der Welt miteinander zu verbinden. Viele ihrer Freunde haben sich über sie kennengelernt und so hat sich über die Zeit eine Art „Netz aus Freunden“ gebildet, wie sie sagt, die sich alle gegenseitig kennen und schätzen. Für Nicola ist es wie ein Sicherheitsnetz, das sie immer wieder auffängt – egal, wo auf der Welt sie gerade ist.

Das Ziel ihrer Reise, Byron Bay, hat Nicola im Juni diesen Jahres erreicht. Viele ihrer Freunde und Bekannte haben ihr von diesem Ort erzählt, ihr gesagt, der sei genau das Richtige für sie. Vorgestellt hat sie sich diesen paradiesischen Ort mit vielen, kleinen Holzhütten direkt am Strand, umgeben von blühender Natur. Genau so einen Flecken hat sie auf ihrer Reise gefunden, aber der Ort hieß nicht Byron Bay, sondern Koh Phayam, eine Insel im Westen von Thailand. Im Winter 2017 möchte sie dorthin zurückkehren und an der Stelle ein Café eröffnen. Für Nicola ideal: Die Westküste Thailands ist während der Regensaison besonders stark betroffen und so kann sie sechs Monate im Jahr dort arbeiten, sechs Monate im Jahr reisen. Für die rastlose Weltenbummlerin ein idealer Kompromiss: An dem für sie schönsten Ort der Welt kann sie zeitweise leben und gleichzeitig mit dem Café Geld für ihre nächsten Reisen ansparen.

Text: Jacqueline Lang

Foto: Marcel a Vie

Neues Leben


Adnan Albash, 24, lebt seit mittlerweile zweieinhalb Jahren in Deutschland. Weil er aus eigener Erfahrung weiß, wie schwierig es sein kann, sich in einem fremden Land zu integrieren, arbeitet er als Kulturdolmetscher.

Die Tierwelt macht es vor: Zugvögel fliegen jährlich gen Süden und finden sich in ihrer neuen Umgebung problemlos zurecht. Niemand fragt sie, woher sie kommen oder wie lange sie bleiben wollen. Integration leicht gemacht.

Vor seiner Flucht aus Syrien war Adnan Albash, 24, überzeugt davon, dass Integration unter Menschen viel leichter sein müsse, als unter Tieren – immerhin ist kein anderes Lebewesen so intelligent wie der Mensch. Heute weiß er, dass der menschliche Verstand die Sache häufig sogar erschwert. Somit sei Integration unter Menschen zwar möglich, nehme aber viel Zeit in Anspruch, sagt Adnan. „Integration ist wie Brot backen – es braucht Zeit“, sagt der junge Mann mit dem rundlichen Gesicht. An diesem warmen Sommertag trägt er ein weißes Leinenhemd und eine schwarze Jeans.

Adnan weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig der Weg nach Deutschland sein kann. Er selbst war fünf Monate mit seinem vier Jahre älteren Bruder auf der Flucht. Fast wären die beiden bei der Überfahrt im Meer ertrunken, in Mazedonien sperrte man sie vorübergehend ins Gefängnis. Wer mit jungen Jahren schon so viel erlebt hat, dem fällt es nicht immer leicht, sich in einer neuen Gesellschaft, einem fremden Land zurechtzufinden – zumindest nicht ganz ohne Starthilfe.

Weil vor allem die Sprachbarriere anfangs ein großes Problem darstellt, hat Adnan sich von der Caritas zum Kulturdolmetscher ausbilden lassen. Er kann mittlerweile sowohl Arabisch als auch Deutsch sprechen und so dabei helfen, sprachliche Barrieren zu überwinden. Adnan unterstützt hierbei auch die studentische Initiative „Ahlan wa Sahlan – Studenten helfen Flüchtlingen“ der Ludwig-Maximilians-Universität. Zu seinen Aufgaben gehört es, Flüchtlinge bei Behördengängen und Arztterminen zu begleiten, vor allem aber die interkulturelle Vermittlung. Aktuell betreut er die syrischen Brüder Faris und Nabil (Namen geändert), 18 und 20 Jahre alt, die ihre Eltern im Krieg verloren haben. Adnan hilft ihnen, sich einzuleben, und beantwortet all ihre Fragen: Wie komme ich mit dem Bus in die Stadt? Wo kann ich Fleisch kaufen, das halal ist? Zu welchem Arzt muss ich gehen, wenn ich Zahnschmerzen habe? Wie finde ich einen Ausbildungsplatz? Fragen über Fragen.

Für Adnan ist es ganz selbstverständlich zu helfen. „Wenn ich das nicht mache, wer soll das sonst machen“, sagt er. Trotzdem weiß Adnan, dass er nie für alle Syrer sprechen, sondern immer nur seine Sicht der Dinge erzählen kann. Das müsse aber auch umgekehrt gelten. „Wenn ich einen Fehler mache, dann hat Adnan den Fehler gemacht und nicht alle Syrer“, sagt er bestimmt und runzelt dabei kurz die Stirn. Wenn er auf Deutsch spricht, hört man seinen Akzent, aber Fehler macht er kaum noch.

Als er Ende Januar 2015 nach Deutschland kommt, kann er gerade einmal zwei Sätze auf Deutsch sagen: „Ich komme aus Syrien.“ Und: „ Ich bin neu hier.“ Fürs Erste bleibt es jedoch dabei, denn kaum in München angekommen, werden er und sein Bruder nach Deggendorf gebracht. Dort leben sie in einem Haus voller Flüchtlinge ohne Kontakt zur Außenwelt. Niemand, der sich Zeit nimmt, mit ihnen über das Erlebte zu sprechen oder ihnen etwas über Deutschland und die Deutschen zu erzählen. An Integration ist nicht zu denken.

Als er im Mai desselben Jahres zurück nach München kommt und kurz darauf seinen Asylbescheid erhält, beginnt für ihn endlich ein neues Leben. Sein Leben in Deutschland. Adnan macht einen Intensiv-Sprachkurs, findet ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft und sogar einen Arbeitsplatz als Laborassistent. Das Wichtigste aber ist für ihn der soziale Kontakt. „Es gibt Dinge, die kann man nicht im Sprachkurs lernen, sondern nur im Austausch mit anderen Menschen“, sagt Adnan. Denn Dinge, die in der Heimat üblich sind, sind es hier nicht unbedingt. Das bedeute nicht, dass das Eine richtig oder falsch sei, sagt er, aber trotzdem sei es wichtig, die andere Kultur verstehen zu lernen. „Korruption ist in Syrien normal, in Deutschland nicht“, sagt er und lacht bei diesem Beispiel. Er hat gelernt, die Dinge mit Humor zu nehmen.

In Damaskus hat Adnan bereits zwei Jahre Medizin studiert, als er fliehen muss. Er hat gute Noten, ist ein fleißiger Student. Trotzdem müssen einige der Flüchtlingshelfer erst lernen, Neuankömmlinge wie ihn nicht wie ein Kind zu behandeln. Nur so sei ein Kontakt auf Augenhöhe möglich. „Nur weil jemand kein Deutsch spricht, heißt das nicht, dass er dumm ist“, sagt Adnan. Das versucht er auch bei seinen Vorträgen immer wieder deutlich zu machen. Kürzlich wurde er von einer Münchner Stiftung eingeladen, um im Dialogforum über das Thema Flüchtlingshilfe zu sprechen. An der Münchner Volkshochschule hat er an einer Podiumsdiskussion zum Thema „Der neue Anfang in Deutschland – Flüchtlinge erzählen“ teilgenommen. Und auch in der Dokumentation über Integration „Mit dem falschen Fuß aufgestanden“ kommt Adnan zu Wort. Durch die Vorträge, die er über seine Heimat und seine Kultur hält, möchte er den Menschen klar machen, dass die Unterscheidung zwischen „wir“ und „ihr“ nicht sein muss. „Wir können viel voneinander lernen“, sagt Adnan. Und er meint, was er sagt: Einmal haben er und seine syrischen Arbeitskollegen im Labor deshalb für die anderen Mitarbeiter ein Essen zubereitet, um ihnen die Küche ihrer Heimat näher zu bringen. Lernen mit allen Sinnen.

Adnan selbst fühlt sich nach mehr als zwei Jahren in Deutschland angekommen. Für ihn bedeutet das, sich sicher zu fühlen in dem Land, von dem ihm schon sein Großvater, der lange vor dem Krieg in Deutschland Medizin studiert hat, so viel erzählt hat. Aber er weiß auch, dass er Glück gehabt hat. Er ist gemeinsam mit einem seiner Brüder gekommen, auch sein 17-jähriger Bruder ist mittlerweile in Deutschland und hat nun die Möglichkeit, die Mutter, die alleine zurückgeblieben ist, nachzuholen. Adnan hat viele Freunde, seine Arbeit als Laborassistent und als Kulturdolmetscher, seit kurzem sogar eine feste Freundin, mit der er zusammenziehen möchte, und vom kommenden Wintersemester an – wenn alles nach Plan läuft – sogar einen Studienplatz für Medizin an der LMU.

Adnan ist das, was manche Menschen wohl einen Vorzeige-Flüchtling nennen würden. Es sind dieselben Menschen, die nicht verstehen, was denn so schwer daran sein soll, sich zu integrieren.

Adnan mag vergleichsweise Glück gehabt haben – aber was heißt schon Glück, wenn man vor dem Krieg flieht? Viele andere haben weitaus mehr Schwierigkeiten als Adnan. Ein befreundeter Syrer sei mit seinem vierjährigen Sohn nach Deutschland gekommen, der schwer krank ist, sagt Adnan. Statt seinen Deutschkurs zu besuchen, hetzt er von Krankenhaus zu Krankenhaus. Wie solle so jemand in Deutschland ankommen können? „Sie sind immer noch auf der Flucht“, sagt Adnan ernst. Erst, wenn sich jemand sicher fühle, könne er sich integrieren. Das braucht Zeit.

Text: Jacqueline Lang

Foto: Robet Haas

Neuland: MixMuc Edition

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Mit dem Projekt MixMucEdition gibt es in München ein neues Flüchtlingsmagazin. In enger Zusammenarbeit zwischen Journalisten und Kulturvereinen ist eine lustige sowie ernsthafte Lektüre entstanden.

München hat ein neues Flüchtlingsmagazin. MixMuc Edition ist ein Projekt der gemeinnützigen Vereine KulturRaum München und NJB Nachwuchsjournalisten in Bayern und ist auf Anregung von Panama Plus-Veranstalter Florian Kreier entstanden. In drei ganztägigen Workshops haben die Journalistinnen Caroline von Eichhorn, 30, und Sonja Steppan, 29, vom NJB den 20 Teilnehmern im Alter von 20 bis 30 journalistische Grundlagen nähergebracht und Themen in den Bereichen Politik, Kultur und Gesellschaft erarbeitet – lustig und ernst zugleich. Teilnehmer waren neben dem MixMuc-Team des Vereins KulturRaum, bestehend aus Menschen mit und ohne Fluchthintergrund, auch Nachwuchsjournalisten des NJB, die als Tandempartner fungiert haben. Die Münchner Band Gadaffi Gals hat die Schirmherrschaft für das Projekt übernommen, das Layout hat die Agentur Moby Digg kostenlos entworfen. „MixMuc Edition ist ein großes Patch-Work-Projekt“, sagt Luisa Berauer, die neben Julia Rid eine der Hauptverantwortlichen für das Projekt ist. Vorgestellt wird das Magazin bei einer Lesung zum ersten Mal beim Panama Plus Festival am 29.Juni im Kreativquartier. 


Text: Jacqueline Lang

Foto:

Felicitas
Sonvilla

Bunte Bomberjacken

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Das Mode-Label Khala entwirft faire Mode – mit europäischen Schnitten und Stoffen aus Malawi. Weil das Start-up keine Förderung erhält, will Melanie Rödel mit Crowdfunding die Gehälter für ein Jahr sicherstellen.

Irgendwo in Giesing: Zwei Afrikaner trommeln auf ihren Bongos und ihrem Balafon, die Nachbarin beschwert sich über den Zaun hinweg über den Lärm und droht mit der Polizei. Sechs Models laufen barfuß durch die Gänseblümchen und präsentieren dem Publikum, das es sich auf Decken gemütlich gemacht hat, farbenfrohe Bomberjacken, Shorts, Röcke und T-Shirts.

Eineinhalb Jahre zuvor in Südostafrika. Melanie Rödel steht im Herbst 2015 auf einem Markt in Lilongwe, der Hauptstadt von Malawi, und bewundert die Stoffe auf dem Markt, die Farben und die Muster. „Das Erste, was mir aufgefallen ist, war, wie bunt alle Menschen gekleidet sind“, sagt sie. Das erste Mal Afrika – eine Erfahrung, die Melanie seitdem nicht mehr losgelassen hat. Hingeflogen ist sie damals mit dem Ziel, das erste Projekt von Viva con Agua Österreich in Malawi – den Bau sanitärer Anlagen – nach Jahren der Planung selbst in Augenschein zu nehmen. Zurückgeflogen ist sie mit der Idee, nicht nur etwas für die Menschen vor Ort zu tun, sondern gemeinsam mit ihnen. Das Ergebnis ist das deutsch-malawische Modelabel Khala, dessen erste Kollektion Anfang Mai nun erstmals im Garten von Melanies Wohngemeinschaft vorgeführt wurde.

Die Frau mit der angenehm tiefen Stimme hat eigentlich Psychologie und Wirtschaftswissenschaften studiert. Schon während ihres Studiums hat sie jedoch beschlossen, dass sie lieber praktisch mit Menschen arbeiten möchte, als hinter einem Schreibtisch zu sitzen. Durch Zufall wurde sie auf die damals neu gegründete Wasserinitiative Viva con Agua aufmerksam und engagierte sich mehrere Jahre für die gemeinnützige Organisation – bis ihre erste Afrikareise alles veränderte.

„Als weiße Frau aus Europa wird man in Afrika ganz absurd wahrgenommen. Ich bin mir vorgekommen wie ein Popstar“, sagt Melanie. Sie wirkt nachdenklich und streicht sich mit ihren schlanken Fingern die Haare hinters Ohr. Die Dankbarkeit der Menschen in Afrika sei zwar ein schönes Gefühl gewesen, habe für sie aber in keinerlei Verhältnis gestanden. Dieses Gefühl von Hierarchie habe sie damals sehr befremdet, sagt sie heute. So sehr befremdet, dass sie kurze Zeit später kündigte, um ihre eigene Vorstellung von Hilfe zu verwirklichen: Empowerment.

Anfangs wollte Melanie gemeinsam mit einer Kollegin die afrikanischen Chitenje-Stoffe in Deutschland vertreiben – diese Zusammenarbeit verlief sich schnell wieder. Melanies Euphorie tat das jedoch keinen Abbruch. Im Alleingang entwickelte sie die Grundidee schnell weiter und gründete Khala, das sie heute gemeinsam mit Benedikt Habermann und Hubert Mirlach führt. Fragt man nach der Aufgabenverteilung, muss Benedikt, der von allen nur Bene genannt wird, nicht lange überlegen. „Wir sind die Medienheinis, Mel macht den Rest“, sagt er und grinst. So ganz stimmt das aber natürlich nicht, denn bei einem Start-up wie Khala macht am Ende eigentlich jeder alles.

Konkret ist Hubert, kurz Hubi, aber für alles rund um das Thema Technik zuständig und Bene kümmert sich hauptsächlich um die PR-Arbeit. Gäbe es im Freundeskreis aber nicht auch noch zahlreiche Helfer, die sich als Model versuchen oder Beats für das Crowdfunding-Video beisteuern, wäre Khala gar nicht möglich – da ist sich Melanie sicher.

Auf malawischer Seite arbeiten sie mit der Designerin Nellie George-Donga und deren Schneidern zusammen, die die Kollektionen auch vor Ort produzieren. Zudem hat das Münchner Designer-Duo Piekfein Design, bestehend aus Jessica Tarisch und Christine Overbeck, die Schnitte für die erste Kollektion entworfen und soll die Designs in Zukunft mit Nellie gemeinsam erarbeiten. Deren ersten Entwürfe seien zwar schön gewesen, aber leider so ganz und gar nicht europäisch. „So etwas trägt hier kein Mensch“, sagt Melanie und muss erneut schmunzeln. Solche kleinen Schwierigkeiten bringen die sympathische Allrounderin schon lange nicht mehr aus dem Konzept. 

Zahlreiche Anträge auf Förderung hat Melanie im vergangenen Jahr eingereicht, nicht einen Cent hat sie bekommen. „Es ist wirklich tragisch, dass soziale Projekte nicht gefördert werden“, sagt Melanie. Alles, was nicht technologisch sei, habe praktisch keine Chance. Wie viele andere Start-ups hat sie sich deshalb für eine Crowdfunding-Kampagne auf Kickstarter entschieden, die am 23. Mai gestartet ist. Die Funding-Schwelle von 15 000 Euro soll die Gehälter der malawischen Kooperationspartner für ein Jahr sicherstellen und den Kauf neuer Stoffe für die kommende Kollektion ermöglichen. Bis sich die Gründer selbst Geld auszahlen können, wird es wohl noch eine Weile dauern.

Für Mode interessiert sich Melanie schon lange. T-Shirts für fünf Euro bei H&M zu kaufen, die in Ländern wie Bangladesch teils unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt werden, widerstrebte ihr. Heute, als Gründerin eines fairen Modelabels, sieht sie das Ganze differenzierter: Das Problem sei vor allem das fehlende Angebot fairer und zugleich stylischer Mode, sagt sie. Khala, davon ist Melanie überzeugt, vereine diese beiden Aspekte. Dadurch, so hofft sie, könne eine ganz neue Zielgruppe erreicht werden: Menschen, die bislang nicht in faire Mode investiert haben, weil sie zu öko aussah oder zu teuer war. Eine Bomberjacke von Khala für Frauen soll 60 Euro kosten, ein T-Shirt für Männer 30 Euro, und damit soll die Kleidung nicht nur stylisch und fair produziert sein, sondern auch erschwinglich, sagt Melanie. 

Der Standort Malawi hat auch einen Haken: Die Transportwege sind deutlich länger, die Kosten dafür höher als bei einer Produktion in Deutschland oder einem anderen europäischen Land. Zum jetzigen Zeitpunkt werden die Kleidungsstücke noch mit dem Flugzeug verschickt. Sobald sie sich den Transport per Schiff leisten können, will Melanie zumindest auf diese CO₂-freundlichere Variante umsteigen. Da Khala aktuell noch Stoffe zukaufen muss und keine eigene Produktionsstätte vor Ort hat, sind diese bislang auch nicht in Bio-Qualität erhältlich. „Abstriche muss man immer machen“, sagt sie gelassen. 

Ihr Traum bleibt bestehen: Das Start-up will die Wirtschaft vor Ort ankurbeln, indem sie die Industrie zurück ins Land verlagert. Aktuell gebe es nur noch eine Textilfabrik in ganz Malawi, alle anderen Stoffe werden aus China oder Indien importiert, sagt Melanie. Das soll sich mit Khala ändern. „Irgendwann soll das ganze System durch Khala geprägt werden“, sagt Bene. Und auch Deutschland, vielleicht sogar die ganze Welt, sollen durch Khala ein bisschen bunter, ein bisschen besser werden – so zumindest der große Traum.

Text: Jacqueline Lang

Foto: Florian Peljak