Leben lernen

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Die Innere Mission und die KONA unterstützen WGs wie die von Florian, Christopher und Sissi. In solchen Wohnprojekten finden ehemalige junge Krebspatienten in den Alltag zurück- für Erleichterungen fehlt aber oft das Geld.

Florian, 26, Christopher, 25, und Sissi, 20, leben in einer Wohngemeinschaft in Schwabing. Sie gehören zu der Generation von jungen Menschen, die den Krebs besiegt hat und für die ein normales Leben fast möglich geworden ist. Fast: Florian, Christopher und Sissi haben mit neurokognitiven Spätfolgen zu kämpfen, sprich mit Konzentrations-, Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen. Das führt häufig zu einer reduzierten Belastbarkeit der Betroffenen. 

Und hier setzt das Wohnprojekt an, eine Kooperation von der Inneren Mission und KONA, kurz für „Koordinierte Nachsorge“. Damit die Bewohner bei Schwierigkeiten einen Ansprechpartner haben, gibt es feste Stunden, in denen drei Begleiter vor Ort sind. Unter der Woche gibt es für die Bewohner zudem eine Struktur mit festem Programm. Dazu gehören Gesprächsgruppen, Einzelgespräche, aber auch Freizeitaktivitäten wie das gemeinsame Kochen. Langfristig sollen die drei Bewohner so auf das Leben alleine vorbereitet werden. „Ganz ohne Unterstützung wird es wahrscheinlich nie gehen“, sagt Petra Waibel, Leiterin von KONA. Ziel soll es trotzdem sein, dass die Bewohner irgendwann mit so wenig Unterstützung wie möglich, aber so viel wie nötig, alleine zurecht kommen. 

Trotz der einmaligen Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben in einer Wohngemeinschaft zu führen, bleiben natürlich auch bei den drei jungen Erwachsenen Wünsche offen. Weil das Geld knapp ist und sich sowohl KONA als auch die Innere Mission mit denen ihnen zur Verfügung stehenden Geldern auf die psychosoziale Nachsorge beschränken müssen, bleibt selten Geld für gemeinsame Ausflüge und andere Unternehmungen. Am liebsten würden Christopher, Florian und Sissi ab und zu in die Bergen fahren, um dort neue Energie zu tanken. Auch ein kleines Sommerfest sowie eine Weihnachtsfeier, zu der sie Freunde und Familie einladen könnten, würden sie mit etwas finanzieller Unterstützung gerne realisieren. Denn was für die meisten jungen Menschen selbstverständlich ist, ist für die drei jungen Menschen hart erkämpfte Normalität.

Warum solche Einrichtungen nicht schon längst in deutlich größerer Zahl vorhanden sind? Petra Waibel hat eine ebenso einfache wie traurige Antwort: „Früher haben die Kinder alle nicht so lange überlebt.“ Umso schöner ist es, dass es jetzt Bedarf dafür gibt.

Die Arbeit von KONA knüpft dort an, wo die Behandlung der Krankheit aus medizinischer Sicht abgeschlossen ist. Denn auch wenn der Körper den Krebs besiegt hat, haben die Menschen meistens noch lange danach mit den Folgen zu kämpfen – viele sogar ihr Leben lang. 

Nach einer Chemotherapie und einer langen Zeit der Isolation aufgrund der hohen Ansteckungsgefahr müssen etwa soziale Kontakte neu geknüpft, Beziehungen wieder in normale Bahnen gelenkt werden. Manchmal stellt sich auch die Frage, ob die Schule, die man zuvor besucht hat, überhaupt noch geeignet ist. Gerade bei Patienten mit einem Gehirntumor treten häufig neurokognitive Spätfolgen auf. Diese Spätfolgen können auch dazu führen, dass Berufswünsche nicht mehr realistisch sind. Waibel und ihr Team versuchen dann, gemeinsam mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen realisierbare Ziele zu erarbeiten und sie praktisch beim Erreichen dieser Ziele zu unterstützen. Der Gang zum Arbeitsamt ist dabei genauso entscheidend wie eine Antwort auf die Frage: Was sage ich zu den Lücken in meinem Lebenslauf?

Auch Rebekka, eine junge Frau, die im Münchner Umland lebt und täglich in die Stadt fahren muss, wird von KONA betreut. Rebekka ist in ihrer Kindheit an Leukämie erkrankt und seitdem körperlich nur noch eingeschränkt belastbar. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, ist für sie sehr anstrengend. Ihr Leben von der Krankheit bestimmen zu lassen, will Rebekka dennoch nicht. Ihr Wunsch: endlich einen Führerschein haben. Würde dieser Wunsch in Erfüllung gehen, hätte Rebekka damit mehr zurück gewonnen als nur ein Stück Mobilität. Genau wie für Sissi, Christopher und Florian bedeutet jeder noch so kleine Schritt in Richtung selbstbestimmtes Leben einen Sieg – gegen den Krebs, für das Leben.  

Das Projekt wird unterstützt vom SZ Adventskalender. Mehr Infos:

www.facebook.com/szadventskalender

Text: Jacqueline Lang

Foto: Robert Haas

Der ganz normale Wohnsinn

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Tobias Polsfuß, 23, hat Deutschlands erste inklusive WG-Plattform gegründet. Er vernetzt Wohngemeinschaften von Behinderten und Nicht-Behinderten und wirbt für diese Art des Zusammenlebens.

Da bist du ja, meine Knutschpuppe!“ Das ist das Erste, was Walter zu Tobias gesagt hat. Der stand gerade mit gepackten Kisten vor der Tür und war im Begriff einzuziehen. Nicht gerade die typische Begrüßung für einen neuen Mitbewohner. Aber die beiden leben auch in keiner typischen Wohngemeinschaft. 

Ihre Wohngemeinschaft ist inklusiv: Hier im Norden Münchens wohnen Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Vier mit Behinderung, fünf ohne. 2015 ist ihre WG zehn Jahre alt geworden, eine helle Wohnung mit großer Wendeltreppe und langem Holztisch. Hier essen die Mitbewohner zusammen, diskutieren, schauen gemeinsam Fußball. Bunte Papiersterne mit Fotos hängen an der Wand.

Tobias Polsfuß, 23, lebt mittlerweile schon seit drei Jahren dort – und hat sich längst an Walters gelegentliche Gefühlsausbrüche gewöhnt. Gemeinsam mit Freunden hat er nun Deutschlands erste inklusive WG-Plattform gegründet: Wohnsinn.org. Sie soll Wohngemeinschaften vernetzen, voneinander lernen lassen – und vor allem: bekannter machen. Auch vermitteln sie auf ihrer Internetseite Wohnmöglichkeiten. „Wenn ich über meine WG spreche, bekomme ich immer dieselbe Reaktion: wow, cool! Davon habe ich noch nie gehört“, sagt Tobias. Auch er selbst erfuhr eher zufällig vom inklusiven Wohnen, als er von Landshut zum Studium nach München zog. 

60 Prozent aller geistig behinderten Erwachsenen leben noch bei den Eltern – oft, weil es keine andere Möglichkeit gibt. Tobias und sein Team wollen eine Alternative bieten. „Unser Ansatz ist eher, das Gute groß zu machen, statt negativ über das Andere zu sprechen.“

„Wohnsinn“ soll vor allem junge Leute dazu ermutigen, inklusive WGs zu gründen: In Österreich und Deutschland gibt es gerade einmal 30 Projekte. In München sind es sieben, initiiert vom Verein „Gemeinsam Leben Lernen“. Manche sind privat organisiert, andere laufen über Trägervereine. Einige engagieren externe Pflegedienste, andere nicht. Sie unterscheiden sich in der Anzahl der Bewohner, im Verhältnis zwischen Menschen mit und ohne Behinderung – und natürlich darin, welche Charaktere dort aufeinandertreffen.
Der letzte Lachkrampf, der letzte Streit, der Lieblingsplatz: Die Wohnsinn-Website soll Anekdoten über das WG-Leben erzählen. Das ist mal chaotisch, mal anstrengend, aber auch schön und voller Gemeinschaft – wie in jeder anderen WG auch.

Gesa, die gerade ein Praktikum bei der Lebenshilfe macht, lebt seit 2013 in der WG. „Hier ist immer was los“, sagt sie. Die 20-Jährige mit den dunklen Haaren ist aktiv und quirlig. Mit sanfter Stimme erzählt sie von ihrem Freund, ihren Hobbys – Kinobesuchen, Clubbing, Fahrradfahren. Einer ihrer Lieblingsmomente mit ihrem Mitbewohner Tobias: Einmal fuhren sie von der Physiotherapie nach Hause. Als sie an der roten Ampel standen und eins von Gesas Lieblingsliedern im Radio kam, fingen beide an, im Sitzen zu tanzen. Ein Busfahrer auf der Nebenspur rollte das Fenster herunter, grinste und legte auch eine Tanzeinlage hin. Bei der Erinnerung daran müssen beide lächeln. „Es war richtig schade, als es dann grün wurde.“ 

Gerade sind sie zu neunt in den Urlaub nach Kroatien gefahren, feierten in einer Strandbar den Geburtstag eines Mitbewohners und sangen bei Cocktails lautstark Radio-Songs mit. „Wir haben es so genossen“, schwärmt Mitbewohnerin Tessi, 30. Sie hat das Down-Syndrom und arbeitet in einer Werkstatt für Tee-Verpackungen. Ihren Alltag schafft sie gut allein, braucht aber doch manchmal Hilfe: beim Kochen, beim Wäschewaschen, bei Ausflügen, auch beim Duschen. Als perfekt ausgebildeter Pfleger muss niemand in die WG kommen: Tobias hat zwar einen Bachelor in Pädagogik und in Athen in einer Tagesstätte für Menschen mit geistiger Behinderung gearbeitet – aber das ist keine Voraussetzung. Ein Mitbewohner studiert Sportwissenschaften, eine arbeitet beim Patentamt. Neben Einführung und Probedienst hilft es oft einfach, viele Fragen zu stellen. „Jeder Mensch mit Behinderung ist Experte für sich selbst“, sagt Tobias. Als er seinem Mitbewohner Walter zum ersten Mal beim Duschen half, vergaß er, ihm die Füße abzutrocknen – und wurde prompt darauf hingewiesen. 

Einmal pro Woche hat Tobias Tagesdienst, einmal pro Monat muss er sich ein Wochenende freihalten – von Freitag um 14 Uhr bis Montag um 7.30 Uhr. „Man gibt schon ein Stück Privatsphäre auf“, sagt Tobias. „Aber das tut man in jeder WG.“ Wer nicht dran ist, muss auch mal Nein sagen können. Tobias hat an diesem Abend frei. Doch mitten im Interview kämpft ein Bewohner mit der Plastikverpackung einer Keksdose, ein anderer insistiert aufs Duschen. „Musst mal wen anders fragen“, sagt Tobias, freundlich, aber bestimmt. Selbstbestimmung, das zentrale Thema der Inklusionsdebatte, gilt auch für Menschen ohne Behinderung. 

Auch wenn die Bewohner mindestens zwei Jahre bleiben: Manchmal zieht doch jemand Neues ein. Dabei hilft eine eigene Plattform – stellt man die Anzeige auf ein konventionelles Wohnportal, interessieren sich meist viele nicht. Mit ihren Erfahrungen touren Tobias und sein Team durch Deutschlands inklusive WGs. Sie halten Workshops ab und geben Ratschläge. Gerade in einer Stadt wie München ist die Suche nach einer barrierefreien Wohnung schwierig.
Auch müssen häufig besorgte Familien beruhigt werden. Die Eltern haben Angst, ihre behinderten Kinder fremden Studenten anzuvertrauen. „Sie sagen oft, die sind doch chaotisch“, sagt Tobias und schmunzelt. „Aber wenn’s mal läuft, sind alle begeistert.“

Das Projekt soll auch mit Klischees von inklusivem Wohnen aufräumen. „Viele stellen es sich verrückter vor, wie im Irrenhaus. Oder im Heim“, sagt Tobias. „Die Leute glauben, unsere Mitbewohner können ohne uns nicht leben. Oder dass wir ihnen etwas geben, was sie nicht haben.“ Dabei opfert sich in der WG niemand füreinander auf. Man hilft einander eben. Und dankt einander mit Wertschätzung. „Der ist klasse, ich mag den so gern! Ich will, dass der nie auszieht“, sagt Tessi und fällt Tobi um den Hals.

Von: Elsbeth Föger

Foto: Daniela Buchholz