Reality in Jogginghosen

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Was Zahn-Operationen alles aus einem machen können: Ein aufgedunsenes Gesicht, eine wirre Frisur und verloddert in Jogginghosen und Schlabber-T-Shirt. Das Leben kann sich schlagartig in eine Reality-Show verwandeln.

Eine Weisheitszahn-OP hat schlimme Folgen. Damit meine ich nicht, dass ich nur püriertes Gemüse schlürfen kann. Oder dass ich jetzt aussehe wie mein Hamster mit einer Handvoll Körner in den Backen. Nein, das Schlimme ist, dass ich auf dem Sofa liege und Vormittagsfernsehen schaue. Gleich vorweg: Ich werde keine Tirade über Reality-Fernsehen halten. Im Gegenteil, insgeheim finde ich Reality-Shows fesselnd: Kommt die zehnfache Mutter Ricki mit ihrer Tauschfamilie zurecht – trotz des Puffs im Keller? Wird dieses Schnitzel Zwietracht zwischen den Kumpels vom Schnitzeltest-Verein säen? Und was, wenn Michelle den GPS-Sender an ihrem Chihuahua entdeckt? Das ist jetzt genau das Richtige für meinen aufgequollenen Kopf.

Am ersten Tag ist alles gut. Schwangere Teenies und Arbeitslose mit Vorstrafe überbrücken für mich die Zeit zwischen dem Wechseln meiner Kühlpacks und der Zubereitung von Flüssignahrung. Am zweiten Tag beginnen die Probleme. Ich bin mit dem Genre inzwischen so vertraut, dass ich beginne, es ernst zu nehmen. Als die Tausch-Mama aus dem Puff verschimmelte Lebensmittel (igitt, igitt!) im Tauschkühlschrank findet, kommen mir kleine böse Selbstzweifel. Ist in meinem Kühlschrank nicht auch eine Dose, bei der ich mich schon lange nicht mehr traue, sie zu öffnen? Und sieht der Tisch neben mir – mit all den Schmerztabletten, benutzten Suppentassen und warm gewordenen Kühl-Packs – nicht in etwa so unordentlich aus wie das Haus der Familie mit den zehn Kindern?

Den Rest gibt es mir, als der schwule Kellerbordell-Besitzer seiner 100-Kilo-Tauschfrau einen Vortrag hält: Sie müsse ihre Weiblichkeit mehr zur Geltung zu bringen. Unbedingt! Zitternd wanke ich ins Bad: Mein Spiegelbild hat ein aufgedunsenes Gesicht, eine wirre Frisur und steckt in Jogginghosen und Schlabber-T-Shirt. Nicht nur meine Wohnung, nein, sogar ich sehe aus wie die zehnfache 100-Kilo-Mutter aus dem Fernsehen! Ich bin asozial! Und das allein, weil man mir vier Zähne gezogen hat. Wie schnell so ein sozialer Abstieg doch gehen kann…

Merke: Eine Weisheitszahn-OP lässt sich gut ohne Vollnarkose überstehen. Aber für die nächsten drei Tage, da hätte ich eine gebraucht.

Von Susanne Krause