Fremdgänger: Alles geregelt

Sind Deutsche generell regelgehorsamer? Unsere Autorin pfeift in Oxford inzwischen wie ihre Mitstudenten auf so manche rote Ampel und entdeckt dabei feine kulturelle Unterschiede zu ihrer Heimat. 

Die Ampel springt auf Rot. Ich trete in die Pedale und sause über die rote Ampel. Zeit ist kostbar und Ampeln sind eher eine Empfehlung. Zumindest in Oxford. Zumindest für Radfahrer. Außerdem bin ich spät dran für ein Seminar und es regnet. 

Oxford und München bezüglich ihrer Verkehrslage und Infrastruktur zu vergleichen, ist Quatsch. München ist eine Millionenstadt, Oxford darf mit seinen 152 000 Einwohnern durchaus als Provinznest bezeichnet werden. Spannend zu beobachten ist jedoch, wie sich die Dimensionen dieser kleinen Stadt in meiner subjektiven Wahrnehmung von Zeit und Raum verschieben. Nachdem ich drei Jahre lang ungefähr eine Stunde für den Weg zur Uni einplanen musste, konnte ich es nach meiner Ankunft hier in Oxford einfach nicht glauben, dass ich innerhalb von nur fünf Minuten mit dem Rad zu meiner Fakultät gelangen konnte – und deshalb prinzipiell immer mindestens zehn Minuten zu früh in jeder Vorlesung saß. Jetzt, nach vier Monaten, kommen mir jedoch bisweilen sogar diese fünf Minuten zu lang vor. Jede rote Ampel kommt da irgendwie ungünstig. 

Deshalb hat sich parallel zu meiner neuen Wahrnehmung von Entfernungen auch eine gewisse Resistenz gegen Verkehrsregeln entwickelt. Denn Oxfords Verkehrssystem ist verwirrend. Ganz davon abgesehen natürlich, dass hier alle Autos auf der falschen Seite fahren (!), verästeln sich Straßen an den unwahrscheinlichsten und denkbar ungünstigsten Stellen, Ampeln funktionieren nicht oder sind so unmöglich geschaltet, dass man sich oft in der Mitte der Hauptverkehrsader befindet und nicht mehr weiterkommt, Einbahnstraßen tauchen aus dem Nichts auf, Fahrradwege führen einmal über den Fußgängerweg und dann wieder auf der Straße entlang, und von Schlaglöchern und porösem Asphalt und Wanderbaustellen will ich gar nicht anfangen.

Die ersten Male, als ich zögernd ein paar Radfahrern folgte, wie sie bei Rot skrupellos weiterfuhren, musste ich an eines meiner Ethik-Seminare in München denken. Es ging um Thomas Hobbes, den Leviathan und um die Frage, ob Gesetze in einem Staat immer befolgt werden müssen beziehungsweise ob ziviler Ungehorsam auch mal richtig sein kann. Ich erinnere mich deshalb an diese eine Stunde, weil das Beispiel von Verkehrsampeln genannt wurde. Wenn keine negativen Konsequenzen aus meiner illegalen Straßenüberquerung resultieren, ist es dann in Ordnung, das Gesetz zu brechen? Oder unterminiert das die gesamte Idee eines legitimierten Souveräns? Als ich dann einmal auf einer Party, relativ zu Beginn des Jahres in Oxford, meine Bedenken ob zivilen Ungehorsams an roten Ampeln äußerte, erntete ich einige Lacher. „You don’t have the time to wait for a traffic light – just think of all the reading you could be doing in the accumulated time over the years, that you spent waiting for the light to turn green“, wurde mir gesagt. 

Und auch wenn das auf den ersten Blick oberflächliche Überlegungen sind, so sagt es doch vielleicht mehr über feine kulturelle Unterschiede aus. Sind Münchner und Deutsche generell regelgehorsamer? Oder inwieweit sagt es etwas darüber aus, wie überlegt und vernünftig Bürger (zumindest im Straßenverkehr) miteinander umgehen können, selbst wenn sie nicht auf das offizielle grüne Licht der Ampel warten? Soweit ich weiß, passieren in Oxford nicht verhältnismäßig mehr Unfälle als anderswo.

Text: Theresa Parstorfer

Foto: Privat