Weinen, schimpfen, reden

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So einige Sorgen kann das Studentenleben mit sich bringen. Das Team von der Nightline an der LMU gibt Studenten die Möglichkeit, ihre Probleme und Ängste anonym mit jemandem zu teilen.

Da soll nochmal einer sagen, die Studienzeit, das sei die schönste Zeit im Leben. Zur vergeblichen Wohnungssuche gesellen sich Geldsorgen, der ein oder andere Liebeskummer, der erste Bandscheibenvorfall und dann auch noch ungewisse Berufsaussichten. Abends kommt mancher Student nach Hause, fühlt sich leer und erschöpft, er legt sich ins Bett, starrt an die Decke, kann nicht einschlafen. Keine Frage, der Frust muss raus, aber wen kann man denn jetzt noch anrufen?

Ein Telefon klingelt in einem zweckmäßig eingerichteten, kleinen Konferenzraum der Ludwig-Maximilians-Universität. Nach dem zweiten Klingeln geht Marie ans Telefon: „Nightline München, hallo.“ Die Studentinnen Marie, 23, und Christina, 26, sitzen von 21 Uhr bis halb ein Uhr nachts vor zwei Telefonanschlüssen und heben ab, um sich die Probleme ihrer Kommilitonen anzuhören. Die beiden jungen Frauen sind zwei von zwanzig Studierenden, die neben ihrem Studium ein anonymes, kostenloses Sorgentelefon anbieten.

Am anderen Ende der Leitung herrscht häufig zunächst Schweigen und manchmal legen die Anrufer einfach auf. Bleiben sie dran, erwähnen sie oft erst nach einiger Zeit, sie hätten da so ein Problem. „Ich hätte es zu schätzen gewusst, in Situationen, wo ich unter Druck war, anonym mit jemandem reden zu können“ sagt Christina, die aus eigener Erfahrung weiß, wie schwierig es ist, auf einem riesigen Campus enge Freundschaften zu knüpfen, Heimweh oder Stress im Studium zu bewältigen. Immer weniger Studenten können mit einem ansteigenden Studienstresspegel umgehen, wie eine 2012 durchgeführte Forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse in Nordrhein-Westfalen ermittelte. 75 Prozent der Befragten fühlen sich nervös und unruhig, 23 Prozent haben Phasen tiefster Verzweiflung, und 15 Prozent leiden unter Panikattacken. Als Folge greifen immer mehr Studenten zu Psychopharmaka oder suchen einen Therapeuten auf.

Die Probleme, die Marie und Christina zu Ohren bekommen, haben häufig mit Studienstress zu tun, aber viele erzählen auch von Beziehungskrisen, Familienproblemen und Einsamkeit. Da hilft vorurteilsfreies Zuhören, auf das sich die Nightliner spezialisiert haben. Es geht um eine „nicht direktive Gesprächsführung“, Ratschläge dürfen Marie und Christina nicht geben. „Viele Anrufer wollen oft gar keine Ratschläge hören, die wollen sich einfach nur aufregen.“ Gerade Letzteres ist gesellschaftlich verpönt, von Familienangehörigen oder Freunden wird es schnell als unnötige Hysterie abgetan. Die Nightline-Studenten/innen aber nehmen jeden inneren Aufruhr ernst. So dient die Telefonleitung hier auch als Filter. Alles, was in den Studierenden rumort, entladen sie über den Hörer. Denn wenn der Anrufer einmal in einen Monolog eingetreten ist, dann wird dieser „auch von Gefühlsausbrüchen, wie Ärger oder heftigem Weinen“ begleitet.

All der nächtliche Kummer, den die Nightliner auffangen, nagt bisweilen auch an deren Nerven. „Dafür haben wir einmal im Semester eine Supervision mit einem professionellen Psychologen“ erklären Marie und Christina, die manchmal erst nachts um halb 2 ins Bett gehen. Am nächsten Tag müssen sie dann fit sein, Marie studiert Physik und Christina Biochemie. Sie selbst wirken wenig belastet, aber doch nachdenklich, wenn sie von ihren Nachtschichten erzählen. Dabei prüfen sie ihre Sätze, ihre Worte wählen sie bedächtig, im stetigen Blickwechsel miteinander. Sie wollen anonym bleiben, um jedem, auch Freunden und Kommilitonen, die Chance zu lassen, anonym bei ihnen anzurufen.

Das Wälzen der Probleme kann bis zu zwei Stunden dauern, während die Nightliner die Problematik immer wieder zusammenfassend einkreisen. „Das Erstaunliche ist, dass die Anrufer durch das Reden oft auf neue Ideen kommen und ihre Lösungsansätze selbst finden“, sagt Marie und freut sich: „Es ist eine Bereicherung, ich lerne aus den Gesprächen, wie andere Probleme sehen und Lösungen finden, das ist echt spannend“. Und so begegnen sich nachts, wenn München schläft, zwei junge Menschen auf Augenhöhe – nur übers Ohr. Das allerdings ist „offen für jedes kleinste Problem“. Susanne Brandl

Nightline München, Di, Mi, Do von 21.00 bis 0.30 Uhr, Tel.: 3571 3571

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