Sehnsucht nach Völkerball

image

Irgendwann am Ende der Schulzeit siegt die Melancholie über das Hochgefühl. Dann verfällt man auf Partys plötzlich in Schweigeminuten. Man sieht sich an und denkt: Hey, vielleicht sehe ich die nie wieder.

Es ist ein Gefühl, als stünde man am Abgrund. Alles so unwiederbringlich. Aber, liebe Absolventen 2011, lasst euch eines sagen: Das geht vorbei. Die meisten sieht man früh genug wieder. Manchmal sogar früher als einem lieb ist.
Unser Jahrgang richtete das erste Klassentreffen nach knapp vier Wochen aus. Ein bisschen früh ist das schon. Machen Klassentreffen nicht erst dann Sinn, wenn man sich zwanzig Jahre nicht gesehen hat? Wenn sich schließlich alle mit Halbglatze und Krähenfüßen gegenüberstehen und heimlich ihr Ego an den missratenen Kindern ehemaliger Klassenkameraden aufbauen? So kurz nach dem Abschluss trifft man sich sowieso oft genug zufällig; erfahrungsgemäß in den Weihnachtsferien, wenn wir alle zu Hause bei Mama sind und ihr beim Einkaufen helfen. Man fragt sich dann, was es Neues gibt. Man sagt, dass es nichts Neues gibt. Und irgendwie sehen alle aus wie damals, als man noch dachte, man sieht sich nie wieder. Und genau wie damals verfällt man plötzlich in Schweigen. Aber da ist kein Abgrund mehr, nur die Erkenntnis, dass man sich ziemlich wenig zu sagen hat. Deswegen sagt man nur: „Wir müssen uns unbedingt alle mal wieder treffen!“ Das klingt immer gut und bedeutet nicht viel mehr als „Auf Wiedersehen“. Dachte ich zumindest.
Aber es scheint so zu sein, als würden diesen Satz plötzlich sehr viele Leute ernst nehmen. In meinem Umfeld häufen sich die Klassentreffen – und das nicht nur unter Erstsemestern, die es noch nicht verkraftet haben, dass ihre Schulzeit vorbei ist. Nein, diese Woche schwärmt mir schon der zweite Kerl Mitte zwanzig von seinem Grundschul-Klassentreffen vor. Wohlgemerkt: Grundschule. Sehnen sich geschundene Bologna-Studenten und überarbeitete Praktikanten plötzlich nach den Volksschulen ihrer Heimatdörfchen? Nach Buntpapier, Völkerball und Kindern, deren Namen sie längst vergessen hätten, gäbe es nicht die Facebook-Gruppe Schüler der Klasse 4a, 1997? Vielleicht ist unsere Generation inzwischen einfach so schnelllebig geworden, dass wir mit 25 die Klassentreffen veranstalten, die sich andere bis zum Alter von 75 Jahren aufgehoben hätten. Es fragt sich nur, was wir dann mit 75 tun werden. Ich jedenfalls sehe mich schon beim jährlichen Treffen der Facebook-Gruppe Absolventen des VHS-Kurses „Blumen-Aquarelle“, 2051. Susanne Krause

Jugend: Das bedeutet Nestflucht. Raus aus der elterlichen Einbauküche, rein ins Leben. Nur dauert es dann nicht lange, bis man sich einen Pürierstab zum Geburtstag wünscht – oder Sehnsucht nach Mamas Gulasch hat. Eine Kolumne über das Zuhause, was auch immer das sein mag. „Bei Krause zu Hause“ erscheint im Wechsel mit der Kolumne „Beziehungsweise“.

image

Geboren in der östlichsten Stadt Deutschlands, aufgewachsen in der oberbayrischen Provinz: Susanne Krause musste sich schon früh damit auseinandersetzen, wo eigentlich ihre Heimat ist – etwa wenn die bayrischen Kinder wissen wollten, was sie für eine Sprache spreche und wo „dieses Hochdeutschland“ sei.