Zufallststudium: Keine Spur von Karohemden

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Was studiert der Junge mit den Dreadlocks eigentlich? Welchen Kurs besucht das Mädchen, das in der U-Bahn neben uns saß? Woche für Woche folgen wir fremden Studenten zum „Zufallsstudium“. Dieses Mal: Serafina landet im zweiten Anlauf in einer Informatik-Vorlesung und fühlt sich an quälenden Mathe-Unterricht aus ihrer Schulzeit erinnert. Am Ende ist sie positiv überrascht vom Dozenten, vom Fach, von den Mitstudenten und auch von sich selbst.

Mittags an der Uni,
Stoßzeit: Volle U-Bahn und ein hektisches Treiben unter den Studierenden am
Geschwister-Scholl-Platz. Ich schaue mich nach einer Person um, der ich folgen
könnte, und die schnell gefunden ist: ein Student in Dreadlocks, Hornbrille und
kurzen Hosen mit Flip Flops, der im kalten Regen unter den vielen Kapuzen- und
Regenschirmträgern auffällt. Während ich ihm folge, frage ich mich, was er
studiert, und merke dabei, dass ich selbst nicht frei von Klischees bin: Ich
vermute ein Studium der Kunstgeschichte, der Philologie oder Philosophie. Im Audimax
der LMU angekommen erwarte ich hingegen einen Massenstudiengang wie BWL oder
Medizin.

Der Saal ist relativ
leer, doch da der Vorlesungsbeginn erst in einer halben Stunde ist, denke ich
mir, dass sich der Raum bald mit wissbegierigen Studenten füllt. Um die Zeit
bis dahin zu überbrücken, werfe ich einen Blick auf die Anwesenden, um
herauszufinden, in welcher Vorlesung ich mich gerade befinde: Drei Reihen vor
mir sehe ich drei Studentinnen, die über die letzte Party tratschen, ein paar
Plätze links neben mir liest eine ältere Frau eine Zeitung und hinter mir
blättert eine in ihrem StGB, sodass ich glaube, eine Antwort gefunden zu haben:
Jura.

Weil nach einer halben
Stunde immer noch kein Dozent erscheint und der Saal nicht voller, sondern
leerer wird, dämmert mir, dass keine Vorlesung stattfinden wird. Als ich
rausgehe und mir überlege, wo ich jetzt noch hingehen könnte, hetzt eine
Rothaarige mit einer roten Jacke und roten Hose an mir vorbei (welcher Student
kennt das nicht?). Spontan beschließe ich, ihr zu folgen. Wir hetzen gemeinsam
zur Vorlesung und machen ein bisschen Smalltalk („na, auch mal wieder zu spät?“).
Ich setze mich erneut in einen nicht allzu vollen Saal. Immerhin ist nun ein
Dozent anwesend. Während dieser noch an der Technik für seine Bildschirmpräsentation
bastelt, sehe ich mich neugierig um und bin gespannt, um welche Vorlesung es
sich handelt und was ich alles lernen werde.

Die Ernüchterung lässt
nicht lange auf sich warten: „Relationale Algebra, Kap. 3: Datenbanksysteme,
Einführung in die Informatik“, ein Fach, das mir sehr fern ist. Alte
Erinnerungen an Algebra aus der Schulzeit werden wach: PQ-Formel, natürliche
und reelle Zahlen, Vektorgleichungen und die vergebliche Suche nach dem x. In
dieser Vorlesung ist es noch komplizierter: Lauter Hieroglyphen wie SQL, pname
oder oespr und Klauseln, die select, from
und where heißen. Sogar die Syntax
scheint eine ganz andere zu sein, die ich aus meinem Linguistikstudium kenne.
Anstelle von Nominal- und Verbalphrasen finden sich hier Formeln wie select * from oder select A1, A2 distinct. In meinem Kopf: ein großes
Fragezeichen.

Aus Sorge, dass der
Dozent mich drannehmen könnte und ich vor allen stammle, wie ich das vom Matheunterricht
gewohnt war, mache ich mich ganz klein. Doch davon werde ich verschont. Nach
anfänglicher Verwirrung kann ich irgendwann dem Dozenten sogar (halbwegs) folgen,
was mit seiner sehr guten Vortragsweise zusammenhängt: Ich weiß nun, dass SQL
für Structured Query Language steht und wie man beispielsweise mithilfe der
relationalen Algebra schnell herausfinden kann, welche Lieferanten Mehl oder
Milch liefern. Auch die gängigen Klischees eines nerdigen Informatikstudenten
haben sich nicht bestätigt: Der Anteil der männlichen und weiblichen
Studierenden ist ungefähr gleich groß, die Männer tragen Hipster-Brillen, die
Frauen teure Handtaschen und weit und breit keine Spur von Karohemden. Am Ende
der Vorlesung bin ich nicht unbedingt viel schlauer geworden, aber das Interessanteste
war zu sehen, wie ähnlich unterschiedliche Fachrichtungen arbeiten können. Der
Dozent hat mit Hingabe jeden kleinsten Schritt erläutert, bis aus diesen
kleinen Stücken ein Ganzes wurde, ähnlich wie bei einem Puzzle. Auch aus meinem sprachwissenschaftlichen Studium bin ich
gewohnt, dass der Inhalt eines Satzes zunächst auseinandergenommen,
interpretiert und anschließend wieder zusammengesetzt wird, sodass der Kern
einer Aussage ersichtlich wird. Da freut man sich doch über die
Gemeinsamkeiten, die man in diesem Fall nicht erwartet hätte.

Von: 

Serafina Ferizaj

Foto: Lukas Haas