Das Experiment mit dem Nichts

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Er geht nie in die Mensa, nie Klamotten shoppen: Marius Diab, 25, ist im Konsumstreik. Einzig für Krankenversicherung und den Semesterbeitrag der Uni gibt der Kunststudent noch Geld aus. Ein Lebensentwurf.

Marius kann nie vergessen, was auf seinem Einkaufszettel steht. Er kauft nämlich nichts ein. Keine Uni-Folder, keine Schuhe, kein Sandwich in der Mittagspause. Irgendwann hat er sich entschieden, überhaupt nichts mehr zu konsumieren. Das geschah nicht plötzlich. Es begann damit, dass Marius keine neue Kleidung mehr nachkaufte, und endete damit, dass er im Monat nur noch Geld für eine Falafel ausgab. Als ihm auffiel, wie anspruchslos er lebte, befand Marius: Zeit für einen kompromisslosen Konsumstreik. Um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass man sich problemlos mit dem versorgen kann, was andere wegwerfen.

Marius war geschockt, wie viel Essen in München im Abfall landet – etwa die Papaya, tausend Kilometer gereist, um noch völlig verzehrbar weggeworfen zu werden. Mit seiner Aktion will der Münchner gegen Ressourcenverschwendung und Konsumwahn protestieren. „Auf ein Problem aufmerksam machen funktioniert besser, wenn man etwas konsequent macht“, sagt Marius. Missionieren will er trotzdem nicht. Ein Experiment sollte es sein. 

Mittlerweile lebt Marius, 25, schon seit mehr als einem Jahr so. Nur für zwei Sachen gibt der Münchner Geld aus: für seine Krankenversicherung und den Semesterbeitrag der Universität. Selbst das Dach über seinem Kopf ist kostenfrei, seit er in der Firmenwohnung eines Freundes lebt.

Marius studiert Kunst und sieht auch so aus. Bart und schulterlanges Haar im Pferdeschwanz. Barfuß trifft man ihn zwischen den beiden Pferde-Statuen auf der Haupttreppe der Kunstakademie. Mit dem freundlichen Lächeln wirkt er ein bisschen wie der Nachbar von nebenan, mit dem man abends in einer Bar ein Bier trinken geht. Wobei, Marius darf dort natürlich nichts bestellen – Konsum ist ja ausgeschlossen.

Dass er aus dem Experiment nicht hungrig herausgeht, dafür sorgt das Freiwilligennetz „Foodsharing“. Vor zwei Jahren hat Marius das Projekt in München mitorganisiert. Das Prinzip: Betriebe oder Privatpersonen verschenken übrig gebliebene Nahrungsmittel. „Foodsaver“ nennen sich die mehr als 400 Freiwilligen, die das Essen abholen – und damit „retten“, wie sie sagen. Was mit den Nahrungsmitteln passiert, entscheidet jeder selbst. Nur verkaufen oder wegwerfen darf man es nicht. 

Ein Trend, der um sich greift – nicht nur in Deutschland. Kürzlich hat der französische Staat dem Großhandel verboten, Lebensmittel wegzuwerfen. Werden Waren nicht verkauft, muss der Betrieb sie als Tiernahrung oder Kompost einsetzen oder karitativen Initiativen spenden. Marius dagegen behält die Foodsharing-Produkte für sich selbst. Nimmt er Bedürftigen damit nicht etwas weg? Nein, sagt er entschieden. Die Bahnhofsmission etwa hat Foodsharing-Spenden sogar abgelehnt. Und abgelaufene Sachen wollten viele Obdachlose nicht essen, das habe er bei einer Verschenk-Aktion auf der Straße bemerkt.

Er selbst hat da keine Hemmungen. Das klingt nach Lebensmittelvergiftung am Fließband – aber darüber kann Marius nur lachen. Ein abgelaufenes Mindesthaltbarkeitsdatum ist für ihn kein Argument. „Ich habe schon so viel Erfahrungen gemacht, dass ich da keine Bedenken habe.“ Ein Geruchstest, ein bisschen probieren, das reicht. Bei richtig großem Hunger isst Marius auch vom stehen gelassenen Gemüseauflauf. Oder von der liegen gebliebenen Currywurst. Eigentlich ist er Veganer – doch bevor etwas verschwendet wird, greift er auch bei Fleisch zu. 

Auf Studenten-Feten oder Mittagspausen-Picknicks nach Resten zu fragen, das hat Marius nur am Anfang Überwindung gekostet, jetzt nicht mehr. In der Bittsteller-Rolle sieht er sich nicht. „Dadurch, dass ich die Leute anspreche, mache ich sie darauf aufmerksam, dass da Essen weggeworfen wird“, sagt er. „Und damit befreie ich sie von ihrem schlechten Gewissen.“

Kopfwehtabletten?
Braucht er nicht. Zahnpasta?
Bekommt er im Umsonst-Laden

Ihn selbst rege das Experiment dazu an, Neues auszuprobieren. Etwa Gemüse mit geschenktem Saatgut anzubauen – Blaukraut und Zwiebeln, Kartoffeln und Radieschen. Oder Kastanien zu sammeln und daraus Waschpulverersatz herzustellen. In den vielen Unannehmlichkeiten, die sich aus seinem Lebensstil ergeben, sieht Marius Vorteile. Er schränke sich gerne ein. Kopfwehtabletten? Braucht er nicht. Zahnpasta? Bekommt er aus dem Umsonst-Laden in München, in dem man gespendete Gebrauchsgegenstände kostenlos abholen kann. Internet? Dafür nützt er das kostenfreie Wlan an der Uni. Reisen? Das klappt per Anhalter. Sein Handy kann nur Anrufe empfangen, keine tätigen. Sogar in kostenpflichtige Museen zieht es den Kunststudenten nicht. Kritisch wurde es erst vor ein paar Monaten, als Marius’ Rad unerwartet kaputt ging. Er glaubte schon fast, das Experiment abbrechen zu müssen – bis er sich von einem Fahrradladen alte Bremsklötze schenken ließ.

Gerade arbeitet er an einem Quartier für die nächsten Jahre – seiner eigenen Jurte. Komplett aus wiederverwerteten Materialien wie Holz von der Münchner Messe. Am liebsten will er es irgendwann an der Isar aufstellen oder im Garten einer befreundeten Familie. Ein kompromissloser Lebensstil, der zumindest im Kleinen auch Bekannte inspiriert: Ein Freund mit kaputtem Smartphone habe gerade darauf verzichtet, sich ein neues anzuschaffen. Trotzdem: „Ich glaube nicht, dass irgendwann der Punkt kommt, an dem ich sage: Wow, die Welt hat sich total verändert. Jetzt kann ich aufhören“, sagt Marius. Ein Streik-Ende der Ein-Mann-Gewerkschaft ist also erst mal nicht in Sicht. 

Elsbeth Föger

Foto: privat