Klassentreffen

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Das Festival „Sound of Munich now“ feiert München so groß wie noch nie: In drei Hallen beweisen Singer-Songwriter, Hip-Hopper DJs und Indie-Rocker, wie lebendig ihre Szenen sind. Der Andrang ist groß – ein Kompliment für eine lebendige Szene, der es in München nicht immer leicht gemacht wird (Fotos: Johannes Simon).

Manchmal erinnert das Festival „Sound of Munich now“ an ein Klassentreffen: Es sind bekannte Gesichter, die hier zusammen kommen. Einige der Musiker sind zu Freunden geworden, andere beobachten sich lieber aus der Ferne. Was sie sich wohl zu erzählen haben werden? Wer wird überraschen, mehr aus sich gemacht haben als gedacht? Wer ist der ruhige Typ mit traurigen Geschichten? Und wer die hippe Göre mit lässigen Sprüchen? Ebendiese Ungewissheit prägt das Gefühl vom „Sound of Munich now“. Es ist das Festival, bei dem sich die Leute treffen, die eines vereint: Sie alle wollen gute Musik machen und diese Stadt zum Klingen bringen. Und sie alle wissen nicht genau, was sie erwartet. Denn: Die mittlerweile zwei Abende im Feierwerk bringen zusammen, was in München selten zusammentrifft. DJs, die im Harry Klein auflegen, Singer-Songwriter, die vom Liebesleid erzählen, Hip-Hopper, die sich in Jazz verliebt haben, und Freunde schmutziger Rock-Klänge, die handgemachte Musik schätzen und alles Elektronische ablehnen.

Das Schöne: Dieses Musiker-Klassentreffen wird ausschließlich von Menschen organisiert, die es gut meinen – mit der Stadt und mit der Musik. Und die München einen Abend schenken wollen, an dem die Bandbreite der urbanen Musikszene deutlich wird. Denn was nach Vereinheitlichung klingt, ist eigentlich die Suche nach dem, was sich in München entwickelt – auf ganz unterschiedlichen Wegen und in ebenso verschiedene Richtungen. Das verspricht Moderator und Organisator Michael Bremmer von der Süddeutschen Zeitung schon vor dem ersten Auftritt: „Wir suchen hier keine Münchner Schule, keinen einheitlichen Sound, sondern das Bunte in dieser Stadt.“

 Ein Abend reicht den Veranstaltern, dem Feierwerk und der Süddeutschen Zeitung, für diese Bestandsaufnahme nicht mehr aus. Hinzugefügt wurde schon im vergangenen Jahr der „Sound of Munich now Electronica“, ein Abend für die elektronischen Klänge also, die sonst eher die Münchner Sonnenstraße erfüllen. Längst überfällig, meint Peter Fleming, Booker vom Harry Klein: „Ich habe mich ganz oft bei Kultur-Veranstaltern beschwert, weil die elektronische Musik vergessen wird.“ Fleming hat das Gefühl, „die anderen Szenen denken, unsere Leute hätten genug Aufmerksamkeit, weil wir viele Clubs haben und dort präsent sind“. Vielleicht bräuchten da Bands mehr Hilfe, sagt er. „Aber es ist für DJs auch toll, der Mutter sagen zu können: Schau, ich mache etwas Anständiges. Da geht es nicht nur ums Feiern und Trinken, die Musik hat einen Wert.“

Acht Formationen hat Peter Fleming für diesen Abend ausgewählt – und auch er will dabei nicht einen Sound herausfiltern, sondern Vielfalt innerhalb des Genres zulassen: Von Jim Fletch, die mittlerweile fast wieder mehr Band als DJs sind, über Casimir mit klassischen House-Klängen bis zu Drum ’n’ Bass von Tigra & Micromassive. Im Hintergrund: die Projektionen der Visual-Künstler, mal Kreisel mit wechselnden Farben, dann wieder brechende Wellen.

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Jim Fletch

Die bunte Mischung ist an beiden Abenden Gesprächsthema an der Bar: Gefällt sie, gefällt sie nicht? Darf man das überhaupt? House und Drum ’n’ Bass an einem Abend? Sozialkritischer Hip-Hop und Wohlfühl-Pop? Es gibt kritische Stimmen, die den Versuch, ein bisschen von allem zu zeigen, nur schwer zu genießen finden. Und es gibt Besucher wie Milot Mirdita, den genau das reizt: „Ich habe schon darüber nachgedacht, dass ich wahrscheinlich einen komischen Musikgeschmack habe. Manche Freunde von mir mögen Elektro, andere Hip-Hop oder Indie. Und von daher gefällt mir dieser Mischmasch total gut.“ Neben ihm steht Eike Hoffmann und nickt: „Wir sind Festival-Gänger und von daher eigentlich ganz offen.“

Diese Offenheit braucht man am zweiten Abend wohl noch mehr als am ersten: Wo die Musiker am Freitag immerhin 30 Minuten oder gleich eine Stunde Zeit hatten, um sich zu präsentieren, da müssen am Samstag 15 Minuten genügen. Danach wird gewechselt: No Snakes In Heaven beginnen diesen Wettlauf der Bands in der Hansa 39 – und setzen damit Folksongs vor poppige Arrangements von The Living. Wiederum abgelöst von der Rock-Formation Lilit And The Men In Grey – fünf Musikerinnen in enger, schwarzer Kleidung, mit aufwendigem Make-up und glitzernden Gürteln: „Das war der totale Adrenalin-Kick, natürlich hätten wir da lieber gleich weitergespielt“, sagt Sängerin Sandra Le nach ihrem Auftritt.

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Young Chinese Dogs

Doch das gezwungene Ende genießen viele Zuschauer: „Man erlebt hier immer wieder Überraschungen. Es geht da nicht nur um die Musik, sondern auch um das Auftreten. Man merkt einigen Bands einfach eine unheimliche Spielfreude an und bemerkt durch die Wechsel riesige Unterschiede im Auftreten“, sagt Tanja Oldehus, die das Festival schon häufiger besucht hat. Diese Unterschiede spürt man tatsächlich – gerade weil die Wechsel schnell und hart erfolgen. Lilit And The Men In Grey, die offensiv mit ihrer Weiblichkeit spielen, sind kaum von der Bühne, da betritt sie Rapperin Taiga Trece mit roter Mütze und weitem Karo-Hemd. Die drei Hip-Hopper von Arm und Hässlich distanzieren sich schon im Namen von den Reichen und Schönen, während sich bei der Pop-Band Redweik sympathisch gestylte Musiker hinter den Instrumenten wiederfinden.

Ein wichtiges Zusammentreffen, glaubt Taiga Trece: „Ich finde es großartig, dass sich das Publikum mischt. In München bleibt sonst jeder bei seiner Musik, und man kann kaum neue Leute erreichen. Aber 15 Minuten bleiben Zuhörer, auch wenn sie es zuerst nicht mögen.“

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Luko

Genau das schätzt Amadeus Böhm von der Plattenfirma Flowerstreet Records. Er hat in diesem Jahr die Bands im Orangehouse ausgewählt und ist froh, dass so auch verschiedene Organisatoren zusammenfinden. Denn: Zusätzlich zur Show in der Hansa 39 und der Flowerstreet-Bühne hat Musikmanager Rainer Tarara Bands für die Kranhalle eingeladen. „So kommen ganz unterschiedliche Stile zusammen. Aber es funktioniert hervorragend, weil wir uns vertrauen können, dass jeder von uns super Bands für den Abend auswählt“, sagt Amadeus Böhm.

Das Festival immer größer zu machen, ist für Michael Bremmer logische Konsequenz aus den vergangenen sechs Jahren: „Wir wissen, dass immer mehr Menschen kommen, als wir in die Hansa 39 hineinlassen dürfen. Deshalb ist es toll, ein spannendes Programm auf anderen Bühnen anzubieten, zwischen denen sich die Zuschauer entscheiden können.“

Auch in diesem Jahr sind die Schlangen lang, schon nach einer Stunde ist der Andrang so groß, dass die Türen erst einmal geschlossen bleiben. Insgesamt sind es knapp 2000 Menschen, die an beiden Tagen das Festival besuchen.

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Occupanther

Dieser Andrang ist ein Kompliment für eine lebendige Szene, der es in München nicht immer leicht gemacht wird. Deshalb behält die Musik an diesem Abend auch das letzte Wort. Während die Musiker von
Django S. in der Kranhalle mittlerweile ihre Shirts ausgezogen haben und eine kleine bayerische Party feiern, bei der Besucher ohne Dialektkenntnisse nur mitsummen können, wird im Orangehouse die Band Frank In Fahrt mit ihren leicht mitsingbaren Songs gefeiert. Zur gleichen Zeit beenden in der Hansa 39 sphärische Klänge von Occupanther den Band-Marathon. Und am Ende – auch das erinnert an Klassentreffen – ist das Gefühl der Ungewissheit vom Anfang dem der Vertrautheit gewichen. Ein famoser Abend. Marie Schoeß

Weitere Fotos gibt es auf unseren Facebookseiten https://www.facebook.com/SZjugendseite und https://www.facebook.com/Soundofmunichnow. Der Sampler zum diesjährigen Festival ist von sofort an im SZ-Shop erhältlich. „Sound of Munich now 2014“ (18 Songs, 5 Euro) kann man im Internet unter https://szshop.sueddeutsche.de bestellen.

Auf Bewährung

Die Refugee Law Clinic bietet Rechtsberatung für Flüchtlinge an. Franziska Faßbinder, 25, und Lisa Schmidt, 24, engagieren sich dort – um Flüchtlingen zu helfen und neue Motivation für ihr Jurastudium zu schöpfen.

Man möchte nicht spekulieren, was sich Flüchtlinge, die nach Monaten, Jahren der Flucht in Deutschland ankommen, am meisten wünschen. Ein Wunsch, den die angehenden Juristinnen Franziska Faßbinder, 25, und Lisa Schmidt, 24, (Foto: Sandra Singh) immer wieder hören, klingt so: endlich zu Hause anrufen, den Eltern sagen, dass man wohlbehalten angekommen ist, und hören, ob es der Familie in der Heimat gut geht. Es ist ein Wunsch, der oft nicht folgenlos bleibt. Vielmehr ist es einer der Gründe, warum Flüchtlinge in Deutschland Rechtsberatung brauchen, erklärt Franziska Faßbinder. „Man muss sich das so vorstellen: Man hat einen ganz jungen Asylbewerber – vielleicht 19 Jahre alt. Und er möchte nichts lieber, als sofort mit seiner Familie telefonieren. Also geht er in das nächste Geschäft und lässt sich einen extrem blöden Handyvertrag aufschwatzen. Und dann ruft er zu Hause an, zum Beispiel im Senegal, und telefoniert eine Dreiviertelstunde mit seiner Mama. So bekommt man dann eine Rechnung von, sagen wir, 1300 Euro.“

Immer wieder bleiben solche Rechnungen offen. Mahnungen, die sicher nicht bezahlt werden können, erreichen die Flüchtlinge. Was viele nicht wissen: „Eine zu hohe offene Forderung kann Auswirkungen auf den Asylantrag haben. Das heißt, das, was für Telefongesellschaften wenig Geld ist, bedeutet für einen Menschen seine Existenz“, sagt Franziska. Beratungen für solche Fragen gibt es einige, im August dieses Jahres ist noch eine weitere hinzugekommen: die Refugee Law Clinic mit Studenten wie Franziska und Lisa, die in dem Rahmen helfen wollen, in dem sie es können.

Law Clinic nennt sich das Konzept, in dem angehende Juristen ehrenamtlich beraten und so selbst erste praktische Erfahrungen sammeln können. In München bekommen die Studenten dabei Unterstützung von ihrem Beirat. Das sind Experten auf dem Fachgebiet, die vorab Vorträge zu ihren jeweiligen Schwerpunkten halten und den Studenten bei heiklen Fragen zur Seite stehen, ihnen auch sagen, wo sie helfen können und in welchen Fragen sie es lieber lassen sollten.

Iris Ludwig ist eine von ihnen. Von dem Konzept der Law Clinic ist sie begeistert, auch weil damit ein Thema mehr Aufmerksamkeit erhält, das sonst von der Uni häufig vernachlässigt würde. Mit fatalen Konsequenzen: „Man muss wirklich sagen, dass es zu wenig gute beziehungsweise engagierte Anwälte auf diesem Gebiet gibt“, sagt Iris Ludwig. „In meiner Kanzlei müssen wir jeden Tag Leute wegschicken, die wir aus Kapazitätsgründen nicht als Mandanten aufnehmen können. Ich finde die Law Clinic so wichtig, weil ich hoffe, dass sich dadurch bereits an der Uni Studenten mit dem Thema beschäftigen und dann später zu engagierten Anwälten werden, die dann wiederum zur Entspannung beitragen.“ Ein Ersatz für voll ausgebildete Anwälte könnten die Studenten natürlich noch nicht sein, aber eine Art Anfangsberatung für die leichten Fälle: „Es ist natürlich total wichtig, dass die Studenten auch wissen, wo ihre Grenzen sind, sich nicht selbst überschätzen. Aber bis zu diesem Punkt ist ihre Arbeit wirklich eine Bereicherung in einem System, das überlastet ist.“

So profitieren beide Seiten, erklärt Franziska. Flüchtlinge wie Studenten: „Es ist bei uns Juristen schon so, dass irgendwann im Studium die Motivation flöten geht. Es ist ein riesiger Berg an Aufgaben, den man abzuarbeiten hat – gerade vor dem Examen. Es ist alles sehr verkopft, theoretisch. Und manchmal verliert man darüber den Blick dafür, was man im echten Leben damit anfangen kann.“ Was im echten Leben damit anfangen zu können – aus diesem Grund haben die beiden ihr Jura-Studium einmal aufgenommen. Hört man ihnen aber eine Weile zu, ist das Studium nicht die Zeit, in der sie in ihrem Wunsch bestärkt werden. Das merkt man auch der Struktur der Law Clinic an: Es ist kein alter Freundeskreis, der hier eine gemeinsame Idee umsetzt. Auch dass sie mittlerweile befreundet sind, steht nicht im Vordergrund. Sie alle scheinen hier etwas zu suchen, was sie im Studium nicht finden können.

Und sie tun es professionell: Die Law Clinic setzt sich aus verschiedenen Ressorts zusammen, sie ist hierarchisch strukturiert. Viele Studenten stehen kurz vor dem Examen, wären eigentlich besser in der Bibliothek aufgehoben, sollten sich auf theoretische Aufgabenstellungen vorbereiten, nicht auf einen Beratungstermin. Doch gerade dafür, so scheint es zu sein, brauchen sie Motivation aus der Praxis. Lisa Schmidt kennt das Gefühl: „Irgendwann stellt man sich schon die Frage, wofür man das eigentlich alles macht. Man studiert die ganze Zeit vor sich hin, jahrelang, und weiß noch nicht einmal, ob man am Ende das Examen schafft. Und dann ist das eine tolle Bestätigung, eine Möglichkeit, um zu sehen, warum man das macht, um zu sehen, was dabei rauskommen kann.“

Wie diese Hilfe aussieht? Woche für Woche fahren drei Jura-Studenten nach Dachau und beraten die Flüchtlinge in ihren Fragen. Zu dritt blättern sie dann in Skripten und Gesetzesbüchern, sagen ganz offen, wenn sie sich einmal unsicher sind, und genau so, wenn sie die Gesetzeslage kennen, ohne sie zu Hause noch einmal nachsehen zu müssen. Am vergangenen Mittwoch warten die drei Studenten vergeblich im Dachauer Caritas-Gebäude – mit Büchern und Laptop ausgestattet, bereit zum Beraten und Protokollieren. An diesem Tag kommt niemand, vielleicht ist das Wetter zu schlecht, vielleicht haben die Studenten die Fälle, die sie bearbeiten können, schon abgearbeitet. In den ersten Wochen war das anders, erklärt Franziska: „Als wir das erste Mal die Beratung angeboten haben, saßen schon eine halbe Stunde vorher sieben Hilfesuchende vor dem Beratungszimmer. Alle waren überpünktlich. Der Letzte hat geduldig drei Stunden lang gewartet, bis er endlich dran kam.“

Mit der Beratung begonnen haben die Studenten im August dieses Jahres, doch die Geschichte der Münchner Law Clinic begann früher. Noch zu Schulzeiten machte Franziska ein Praktikum beim Münchner Flüchtlingsrat. Während eines Auslandsaufenthalts besuchte sie eine Veranstaltung zum Asylrecht, schrieb eine Arbeit darüber. Man kann sagen: Das Thema ließ sie nicht los. Für ihr Hauptstudium kehrte sie zurück in ihre Heimat München. Sie nahm Kontakt mit anderen Beratungsstellen auf, fragte nach, ob hier noch Bedarf bestünde – natürlich bestand Bedarf. Sie tauschte sich mit Studenten anderer Law Clinics aus und merkte schnell, dass eine Menge Arbeit auf sie zukommen würde: „Ich wusste, dass ich ein Semester, wenn nicht ein Jahr länger studieren würde, wenn ich das Projekt wirklich angehe. Und so war es jetzt auch.“

Auch Lisa war nicht unvertraut mit dem Thema. Während eines Praktikums beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge spürte sie zum ersten Mal, wie schwer es ihr fallen kann, allein zuzuhören, wenn Geschichten der Flüchtlinge besprochen werden. Das Gefühl ist ihr geblieben: „Es ist manchmal schwierig, sich persönlich davon zu distanzieren. Gerade, wenn man sich die Geschichte anhört und dann den Menschen da stehen sieht und ihm eigentlich sofort helfen will, ihn eigentlich nicht mehr dahin zurückgehen lassen will“, erzählt sie.

Keine der beiden Studentinnen weiß heute, ob sie auf das Asylrecht später ihren Schwerpunkt legen möchte. Was sie wissen, ist, dass die Beratung ihnen einen neuen Blick auf ihr Studium gegeben hat. Einen lohnenden, für den sie gerne ein Semester länger an der Uni brauchen. Marie Schoeß

Neuland

Bier ist den Bayern heilig – ein Feierabendbier führt zu einer Geschäftsidee: Max und Stefan Hofstetter stellen gemeinsam mit Kay Thime Bierlikör her und wollen ihn in München verkaufen.

Ein typischer Gärtnerplatz-Abend sei es gewesen, ein Feierabend mit Bier, ohne Ziel, ohne Zeitdruck. Dieser sorglose Abend sorgte für eine Geschäftsidee, dafür, dass Max und Stefan Hofstetter, 23, nun gemeinsam mit Kay Thime, 26, Bierlikör herstellen und vermarkten (Foto: beer liqueur foundation). Stefan hatte die Mischung zuvor ausprobiert, in der heimischen Küche. Mit dem Ergebnis besuchte er seinen Bruder Max und Kay, den Mitbewohner: „Wir waren alle überrascht, dass es so gut schmeckt“, erzählt Stefan. Natürlich gibt es das schon, Bierlikör: „Doch meist verkaufen das Geschäfte als Souvenir“, sagt Max. Wegen des Geschmacks wollen sie nun ihren Heiland in München verkaufen: Bier ist den Bayern schließlich heilig.  Marie Schoeß

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Sendungsbewusstsein

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Abdulbasir Abid, 26, musste aufgrund seiner Arbeit als Nachrichtensprecher seine Heimat Afghanistan verlassen. Er wurde bedroht, weil er kritisch über die Taliban berichtete. Nun versucht er in München einen Weg zurück in seinen Beruf zu finden. 

Verantwortlich – dieses deutsche Wort hat Abdulbasir Abid, 26, gerade neu gelernt. Es ist ein Wort, das er brauchen wird, um seine Geschichte zu erzählen.

In seiner Heimat hat Abdulbasir (Foto: Salvan Joachim) das Leben gelebt, das er leben wollte und das er sich nun, in Deutschland, wieder erarbeiten will: Er arbeitete als Nachrichtensprecher in Afghanistan, berichtete für den staatlichen Sender Radio Television of Afghanistan und wollte auf diese Weise Verantwortung übernehmen. Für seine Leute, wie er immer wieder betont. Er hat Verantwortung übernommen, er hat versucht, die politische Lage realistisch abzubilden, nicht geschönt oder beeinflusst von einer politischen Richtung. Bis er deshalb bedroht wurde, bis er in Briefen aufgefordert wurde, die Berichte einzustellen. Genauer: Berichte gegen die Taliban. Den ersten Brief nahm er nicht ernst, auch den zweiten nicht. „Dann sind sie zu meinem Zimmer gekommen, Gott sei Dank war ich nicht dort. Mein Mitbewohner war da, sie haben ihn geschlagen und gefragt, wo ich bin. Als sie gegangen sind, haben sie ihm gesagt, er solle mir ausrichten, dass ich heute nicht da war, obwohl ich heute sterben sollte.“

Abdulbasir war Anfang 20, als er Afghanistan verließ – und damit auch seiner Familie zu mehr Sicherheit verhalf. Zu groß sei das Risiko geworden, nicht nur sich selbst, sondern auch Verwandte und Freunde in Gefahr zu bringen. Seine Familie bat ihn, zu fliehen und nicht zu warten, bis ihm dasselbe passieren würde wie seinem Cousin, der kurz zuvor ermordet worden war. Also ging er. Die Familie bezahlte einen Schmuggler, der Abdulbasir aus seiner Heimat hinausführte. Jahre später endete seine Reise in Deutschland, einem Land, dessen Sprache und Kultur er nicht kannte.

Dennoch wollte er dorthin, weil er deutsche Soldaten in Afghanistan kennengelernt hatte und ihm ihre Arbeit, die Art mit den Einwohnern zu sprechen, so gut gefallen hatte. Er ging in dem Wissen, dass er nicht mehr in seine Heimat zurückkehren kann, solange sich die politische Lage nicht radikal ändert: „Man kann sich die Taliban als großes Organ vorstellen. Sie werden immer wissen, wo ich in Afghanistan bin. Und gerade ist niemand dort, keine Regierung, keine westlichen Soldaten, der ihre Macht tatsächlich eingrenzt.“

Sein Weg führte von Afghanistan nach Pakistan, weiter in den Iran, über die Türkei nach Griechenland und schließlich über Italien und Österreich nach Deutschland. Hier, in Kelheim wartet er nun seit mehr als einem Jahr auf die Nachricht, ob sein Asylantrag bewilligt wird. Vier Jahre hat ihn die Reise, wie er es nennt, gekostet. Abdulbasir erzählt von dem, was er gesehen hat, auch wenn er diese Erinnerungen eigentlich loswerden, diesen Teil seines Lebens vergessen will. Es sind Erinnerungen an andere Flüchtlinge, die neben ihm gestorben sind, weil sie zu wenig zu essen oder zu trinken hatten oder weil der Schnee in der Türkei plötzlich so hoch wurde, dass Kinder nicht mehr weiterlaufen konnten. Es sind auch Erinnerungen an die eigene Erschöpfung, an die Jahre, die er unterwegs verbracht hat: „Ich wusste, dass ich ein Stück meines Lebens verlieren würde. Und ich habe es verloren.“

Man sieht dem 26-Jährigen seine Vergangenheit nicht an, gut angezogen kommt er aus den Ausbildungsräumen des Bayerischen Rundfunks, mit einem wachen Blick, der nicht eingeschüchtert wirkt, vielmehr selbstbewusst, offen für das, was ihm auf den Straßen begegnet. Er weiß, dass er älter ist als er aussieht, dass seine jugendliche Unbeschwertheit verloren gegangen ist.

Dennoch: Was ihn vor dieser Reise in Afghanistan antrieb, treibt ihn nun auch in Deutschland an. Nichts wünsche er sich mehr, als wieder als Journalist arbeiten zu dürfen, seinen Beruf erneut aufzunehmen, der ihn zur Flucht gezwungen hat. Vielleicht, weil er zu jung war, als er direkt nach dem Abitur als Reporter im Radio begonnen hat und schnell als Sprecher vor die Kamera gewechselt ist. Vielleicht, weil er vorsichtiger hätte sein müssen, um sich nicht in Gefahr zu bringen: „Die anderen Nachrichtensprecher waren Profis. Sie hatten mehr Erfahrung und wussten genau, was gefährlich ist und was sie sagen können, ohne Probleme zu bekommen. Ich wusste das auch, aber ich habe mich verantwortlich gefühlt, auch Nachrichten gegen die Taliban zu senden. Und dadurch habe ich Probleme bekommen.“

Seine Geschichte hat den 26-Jährigen nicht von seinem Berufswunsch abgebracht: „Als Journalist kann ich etwas für Menschen machen, die es selbst nicht machen können. Ich kann etwas sagen, was sie selbst nicht sagen können. Deshalb liebe ich diesen Beruf.“ Um diese Verantwortung zu übernehmen, las er schon in der Schule, was ein Journalist lernen müsse, wie er mit der Stimme arbeiten solle, welche Wirkung Stimme und Mimik hätten. Und nun, wo er wieder neu beginnen muss, beginnt er von vorne, bewirbt sich um Praktika, hofft, Aufgaben übernehmen zu dürfen, die er in Afghanistan schon lange nicht mehr machen musste.

Während eines Informationsaufenthalts, einer Art Schnupperpraktikum, arbeitet er beim Bayerischen Rundfunk, er geht auf die Straßen und macht Umfragen, weil sein Deutsch noch nicht gut genug ist, um selbst im Radio zu sprechen oder in Zeitungen zu schreiben. Dass er im Moment damit weniger Verantwortung für andere als für sich selbst übernimmt, weiß er. Abdulbasir will sein Leben neu planen, Kontakt zu Menschen finden, die erkennen, dass er mehr tun möchte, als er in Kelheim tun kann. Und dann wieder etwas für andere tun.

Dieser Optimismus beeindruckte auch Jutta Prediger, Redakteurin beim BR: „Ich habe ihn als sehr zielstrebig wahrgenommen. Er weiß genau, was er will, nämlich berichten – über sein Land, die politischen Probleme vor Ort. Er hat wirklich eine Mission.“ Sie sah es als ihre Pflicht an, nicht nur über Flüchtlinge zu berichten, ihre Wege als Reporterin zu begleiten, sondern auch selbst zu helfen. Deshalb half sie Abdulbasir für die Dauer des Praktikums, ein Zimmer bei einer Bekannten zu finden, für das er nicht bezahlen musste, wo er morgens und abends essen und sich auf Deutsch unterhalten kann. Natürlich sei es zunächst schwierig gewesen, ihn im Arbeitsalltag einzusetzen. Aber: „Abdulbasir hat immer wieder darauf gedrängt, mehr arbeiten zu können, er wollte unbedingt eingesetzt werden“, sagt sie. Mittlerweile habe er sich integriert, lerne nun auch, Fotos und Videos zu machen, um die Online-Redaktion zu unterstützen.

Im Gespräch erzählt Abdulbasir viel von diesen positiven Erlebnissen, davon, dass die Leitung seiner Unterkunft eine große Hilfe für seine Praktikumsbewerbung beim BR gewesen sei. Auch dass ihm Jutta Prediger geholfen habe, ein kostenloses Zimmer in München zu finden, sei unvergesslich. Nur selten merkt man ihm an, dass ihm die Antworten schwer fallen. Etwa, wenn er von den Nächten in Kelheim spricht, in denen noch jemand Musik hört oder auf dem Flur Fußball gespielt wird. Mit drei anderen Jungen teilt er sich sein Zimmer: „Es ist schwer zu schlafen oder zu lesen, wenn jemand anderes Musik hören oder einen Film schauen will.“ In Kelheim sind auch andere Flüchtlinge aus Afghanistan, doch über das, was sie erlebt haben, sprechen sie wenig: „Viele, auch ich, wollen sich nicht erinnern. Sie haben zu viele Probleme gesehen, um sich erinnern zu wollen.“ Warum er dennoch erzählt? Vielleicht, weil er auch von Deutschland aus hofft, helfen zu können. Immer wieder spricht er davon, dass es in seinem Heimatdorf, das in der Provinz Kundus liegt, keine Verwaltung gebe, nichts als die Taliban. Er bittet darum, auch davon zu schreiben, weil es doch alle wissen müssten. Manchmal lacht er dann, entschuldigt sich dafür, dass er immer noch wie ein Journalist denke, selbst überlege, wie er seine Geschichte erzählen würde.

Abdulbasir erzählt die Geschichte langsam, überlegt, welche Satzkonstruktion die richtige ist, welche er in den Büchern gelesen hat, die er sich aus der Bücherei in Kelheim ausleiht. „Ich lese, um Deutsch zu lernen. Ich lese, lese, lese und verstehe nicht, was es bedeutet. Und ich lese weiter.“ Das erste Buch hat er gar nicht verstanden, mittlerweile versteht er immer mehr, will auch im Gespräch nicht auf englische Wörter ausweichen, sondern Deutsch üben, und so seinem alten Beruf wieder ein Stück näher kommen. Marie Schoeß

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Ob sie schon einmal so eine traurige Geschichte geschrieben habe, fragte Abdulbasir Marie Schoeß nach dem Gespräch über seine Reise, über Träume und verlorene Jahre. Sie schüttelte den Kopf, zuerst verunsichert, dann froh, dass er über das Kopfschüttlen lachen konnte.

Kunst aus dem Keller

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“Rent an artwork”: Ramona Greiner, 27, sucht als Kuratorin bei „Electric Artcube“ Kunstwerke zum Verleih aus. Sie will damit gerade jungen Leuten einen bezahlbaren Zugang zu Originalen ermöglichen – als Ersatz für Poster.

Ein Spaziergang durch München ohne ihn, das ist unmöglich. Er ist überall: an der Reichenbachbrücke, am Biergarten der Muffathalle oder auf dem Gelände der Kultfabrik. Am Tassiloplatz und am Tierpark. Eigentlich fehlt er nur an einem einzigen Ort: zu Hause. Doch auch dort kann man ihn nun haben. Erschwinglich und, ja, unverbindlich, zur Miete. Für 20 Euro im Monat hängt ein Original von Loomit, Münchner Streetart-Künstler, in der eigenen Wohnung.

Die Idee, Kunst zur Miete anzubieten, und das gerade von jungen Künstlern, entstand in München. Drei junge Kunstliebhaber trafen sich bei einer Vernissage und kamen ins Plaudern. Zunächst einfach so, dann konkreter über eine Geschäftsidee. Kunst wollten sie vermieten, online, unpersönlich, ganz ohne Beratung. Doch warum?

Ramona Greiner, 27 (Foto: Alessandra Schellnegger) ist eine der Gründerinnen. Sie kennt sich aus in der Kunstszene, studierte Philosophie und Kunstgeschichte, schreibt gerade ihre Dissertation über einen Bauhaus-Schüler. Sie arbeitet in einer Münchner Galerie in der Maxvorstadt und lernte zuvor in Praktika die Verlockungen der Szene kennen. Und ihre Kehrseiten: „Ich weiß, wie schwierig das oft ist, in diese Galerieräume reinzugehen, der einzige Besucher zu sein und sich zu überlegen: Mensch, gerade heute habe ich Jeans und Sneakers an.“ Wirklich wohlig fühle man sich da nicht, unter der strengen Beobachtung der Beratung, immer mit dem Gefühl, eigentlich nicht wirklich hineinzupassen in diesen kahlen Raum, dessen weiße Wände hier und dort von einem Original-Kunstwerk unterbrochen werden.

Statt sich hineinzutrauen, blieben deshalb viele Neugierige, besonders die Jüngeren, draußen. Dass Ramona selbst zugleich fasziniert und befremdet ist von dem Elitären der Szene, glaubt man ihr: Da ist auf der einen Seite die Doktorandin, deren stilvolles Outfit in die Galerie passt, in der sie später am Tag arbeiten wird. Bedacht spricht sie von ihrem Projekt oder davon, dass sie nur ein einziges Bild in ihrer Wohnung aufgehängt hat: eines vom Bauhaus-Schüler Maximilian Debus, zu dessen Werken sie forscht. Und auf der anderen Seite trifft man sie in kurzer Hose und sommerlichem Shirt in der Kultfabrik, unbeschwert plaudernd in dem kleinen Büro von Electric Artcube. Hier beraten die drei Gründer auf engstem Raum über die Aufnahme von neuen Künstlern und verbringen die Stunden, die eigentlich zu ihrer Freizeit gehören. Aus purem Idealismus machen sie den Kunstverleih aber nicht, allerdings verdienen sie derzeit auch noch nicht ausreichend, um davon leben zu können.

Um die Hemmschwellen vor der Galerietür, vor dem Elitären zu nehmen, funktioniert Electric Artcube unpersönlich: Es gibt eine Homepage, eine Bildergalerie, Filterfunktionen – je nachdem, ob man unter einem knallbunten Farbexperiment auf dem Sofa sitzen möchte oder doch unter einer sanften Fotografie in Schwarz-Weiß. Alle Preise (maximal 150 Euro im Monat) sind öffentlich einzusehen, der Einkaufswagen lässt sich online füllen und bezahlen. Erst dann folgt der persönliche Anruf, wann das Kunstwerk in der eigenen Wohnung erwartet werden kann: „Ich scheue natürlich den Amazon-Vergleich, wenn es um Kunst geht, aber de facto ist unser Modell so einfach zugänglich und unkompliziert wie Amazon“, erklärt Ramona. Natürlich könne man sich beraten lassen, gerne sogar. Auch Raumkonzepte für Unternehmen könne sie erstellen. Aber all das ist ein Angebot, kein Zwang.

Dass eine Auflockerung dem Kunstbetrieb gut tut, davon können gerade junge Künstler in München erzählen. Katharina Lehmann, die erst seit wenigen Wochen ihre Werke bei Electric Artcube zum Verleih anbietet, ist nur ein Beispiel: Über die Münchner Galerien, sagt sie, brauche man nicht lange zu sprechen: Hohe Konkurrenz herrsche hier. Und die Chancen, dort genommen zu werden, wo man die eigenen Bilder präsentieren wolle, seien gering: „Natürlich haben wir Künstler dann viele Werke einfach im Atelier oder zu Hause herumstehen.“ Diese Kunst soll mithilfe des Verleihs aus den eigenen vier Wänden in fremde Wohnungen kommen, von den eigenen Seiten der Künstler auf eine gemeinsame – so das Konzept von Ramona: „Es steht so viel gute Kunst in Kellern und Ateliers herum, die einfach nicht gesehen wird. Die Werke sind auf den Websites der Künstler zu finden, aber auf die Sites selbst muss man erst einmal kommen.“

Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Künstler gehen kein Risiko ein, die Werke sind versichert, Transport und Verpackung werden von Electric Artcube organisiert und die Seite ist – bei aller Freiheit auf Seiten der Mieter – kuratiert. „Ich habe mir die anderen Künstler vor meiner Entscheidung genau angeschaut und finde die Auswahl sehr gut“, sagt etwa Katharina Lehmann: „Man muss aufpassen, dass man nicht falsch präsentiert wird – zusammen mit Künstlern, zu denen die eigenen Werke nicht passen.“ Das Projekt ist also kein naives Hilfsprojekt für junge Künstler. Es ist eines, das die Kunstauswahl sehr ernst nimmt, viele Bewerber ablehnt und das bei aller Konzentration auf die Kunst durchkalkuliert ist.

Zwei Betriebswirte sind mit unter den Gründern und sie alle wollen dieses Projekt auch finanziell erfolgreich weitertreiben. Damit sie nicht in einem Jahr aufgeben und die Kunst in Kellern bleiben muss.
Marie Schoeß

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Marie Schoeß besitzt ein einziges Original: Es zeigt die Dämonen der Großstadt, gezeichnet von Loz Verney, der im Londoner Gewusel großgeworden ist und die Stadt zu seinem Lieblingsmotiv erklärt hat. Daneben dann, wie es sich für Studenten gehört, ein Poster, aufgenommen „somewhere in Munich“ – irgendwo zwischen ‚Skyline‘ und Wolkenhimmel, ganz sicher aber ohne Großstadt-Dämonie.

Mehr als nur ein Gastspiel

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Mitten im Semester bekam Anna Drexler (Foto: Käthe DeKoe) eine Rolle an den Kammerspielen angeboten – dafür wird sie von der Schauspielschule freigestellt.

Ein wenig wirkt es, als gehöre sie hier dazu. Nicht wie ein Gast, sondern mit der Selbstverständlichkeit eines alt bekannten Mitglieds. Sie weiß, wer ihr an welchem Tag ihre Saftschorle einschenkt und wo sie das Glas anschließend abstellen sollte, um möglichst wenig Arbeit zu machen. Hier, das ist die Kantine der Kammerspiele. Sie, das ist Anna Drexler. Und überraschen sollte das, weil die 23-jährige Schauspielerin eigentlich gerade noch ihr letztes Jahr auf der Schauspielschule absolvieren sollte, um danach auf die Aufnahme in einem Schauspielhaus zu hoffen. Stattdessen aber ist sie nun Ensemble-Mitglied der Kammerspiele und konnte sich den Unterricht bis zur Abschlussprüfung sparen. Im April dieses Jahres verabschiedete sie sich von der Otto-Falckenberg-Schule und blieb im Theater.

Eine schwierige Entscheidung, sich gegen das letzte Jahr zu entscheiden? Da schüttelt die 23-Jährige den Kopf: „Die Kammerspiele sind ein Theater, das ich mir früher gar nicht erträumt hätte, da überlegt man keine Sekunde.“

Wirklich früh begann sie streng genommen gar nicht von den Kammerspielen – ja von der Schauspielerei überhaupt – zu träumen. Ihre Eltern sind Schauspieler, Anna wuchs in einem Theaterumfeld auf, das sich von Stadt zu Stadt wohl in einigen Punkten nicht unterscheidet: Das Theater ist ein kleiner eigener Kosmos, einer, der viel Zeit einfordert und der einem wenig Sicherheit auf längere Sicht geben kann. „Dass meine Eltern Schauspieler waren, war natürlich prägend. Aber zuerst in der Hinsicht, dass dieser Beruf überhaupt nicht für mich infrage kam.“

Sie beschreibt das nicht als die typische Rebellion gegen Eltern, als unbedingten Wunsch, sich distanzieren zu wollen. Vielmehr erzählt sie davon, dass ihr ihre Eltern immer ein realistisches Berufsbild vermittelt hätten und ihr immer klar gewesen sei, dass es ein spannender Beruf sei, der aber meist weder mit dem großen Geld noch mit viel Zeit für das Privatleben verbunden ist. Und so waren die Berufswünsche zunächst weit von der Bühne entfernt: Illustratorin von Kinderbüchern oder Konditorin.

Was zunächst nach Kinderwünschen klingen mag, war Anna Drexler recht ernst. Sie sammelte erste Erfahrungen im Konditorei-Betrieb, um festzustellen, dass es ihr doch „zu wenig Arbeit mit dem Kopf“ war. Die Wende kam 2008. Ihre Schule machte ein großes Theater-Projekt und sie merkte immer mehr, wie viel Spaß sie dabei hatte. 2009 folgte das Abitur, dann die Entscheidung für die Schauspielerei. Sie selbst formuliert das so: „Ich habe mir ein Jahr Zeit gegeben, um an den Schulen vorzusprechen und es einfach zu versuchen.“ Verbunden war dieses Jahr mit viel Aufregung – einer Angst-Aufregung, die sie heute nicht mehr vor Aufführungen empfindet, weil sie nun ein Fundament habe, das ihr Sicherheit gebe: auch in dem Moment, in dem sie auf die Bühne tritt. Doch damals lud sie Familie und Freunde ein, um ihnen ihre Rollen vorzuspielen, sich mit der Situation des Vorsprechens vertraut zu machen. Richtig gewöhnen konnte sie sich nicht, das Vorsprechen blieb eine Ausnahmesituationen: „Es ist auch ganz extrem, wie der Körper reagiert. Als würde man sich nach außen stülpen.“

Aber nach diesem Jahr, in dem sie sich an allen deutschsprachigen Schulen vorgestellt hatte, hat sie die seltene Möglichkeit: Sie hatte nicht nur eine Zusage und konnte sich deshalb die Schule aussuchen. Sie entschied sich für München. „Ich habe mich hier sehr wohl gefühlt, die Kommission hat mir ein gutes Gefühl gegeben und ich dachte, es ist vielleicht ein ganz guter Kontrast zu Berlin.“ Berlin, das ist die Stadt, die sie als ihre Heimatstadt bezeichnen würde, auch wenn sie in der Nähe von Frankfurt geboren ist, auch wenn sie recht viel herumgekommen ist. „Die meiste Zeit war ich in Berlin.“

Dass sie nun sicher noch länger in München bleiben wird, liegt an einem für sie glücklichen Zufall. Bei der Produktion von „Onkel Wanja“ war den Kammerspielen eine Schauspielerin ausgefallen. „Dann haben sie mich für die Rolle gefragt und ich habe gesagt: Natürlich.“ Etwas später sagt sie: „Es ist ein tolles Gefühl, jetzt auch finanziell unabhängig von meinen Eltern zu sein.“

Es ist diese Schlichtheit, die das Gespräch mit ihr auszeichnet. Es fallen wenig große Wörter: Chancen ja, aber die Kategorien Schicksal, Zufall, Fügung sind ihr fern. Sie versucht das zu machen, was sie kann, und das gut. Sie scheint zu ahnen oder zu wissen, dass ihr aktueller Erfolg gerade schön ist, dass sie ihm aber nicht zu viel beimessen sollte. Spricht man sie etwa auf den O.E.-Hasse-Preis an, den sie nun für ihr Spiel erhalten hat, erzählt sie erst davon, dass sie sich wahnsinnig gefreut habe, auf der Maximilianstraße auf und ab gehüpft sei, als sie davon gehört habe. Das glaubt man ihr, da sie unbeschwert und jugendlich genug wirkt, um sich in diesen Gefühlen auch fallen lassen zu können. Doch dann sagt sie: „Ich freue mich sehr und bleibe immer ein bisschen vorsichtig.“

Ähnlich erzählt sie auch über die Probenzeit bei Onkel Wanja: „Die Zeit war kurz und es lag an mir, dass ich jetzt ins Wasser springe.“ Eine große Aufgabe sei das gewesen, aber eine, die ihr das Ensemble leicht gemacht habe. Sieht man sie dann auf der Bühne, scheint ihr die Aufgabe geglückt: Schön schaut sie nicht aus, wenn sie, die sich sonst eher romantisch-mädchenhaft kleidet, im plumpen Sackkleid daherkommt und sich zwischen den immer gleichen Sätzen, die der verloren gegangenen Routine hinterhertrauern, entweder das strähnige Haar oder die Brille zurecht rückt. Schön soll sie nicht aussehen. Und wieder stellt sich dasselbe Gefühl ein wie in der Kantine. Das nämlich, dass sie hier nicht zu Gast, sondern zu Hause ist.

Marie Schoess

Foto: Käthe DeKoe